Archiv für die Kategorie 'Literatur'

Einsamkeit

Montag, 08. Oktober 2007


Screenshot (draufklicken!)

Ich hasse es, wenn man einen Begriff im Netz sucht und die eigene Seite der erste Treffer bei Google ist. Ich schreibe gerade eine Arbeit über den Gebrauch der Spiegelmetapher im Odeporicon, das ist eine Autobiographie von Johannes Butzbach aus dem Jahre 1506, und wollte mal gucken, was andere Leute so über dieses Buch schreiben. Offenbar bin ich die Einzige, die über dieses Buch schreibt, denn alle übrigen Treffer, die ich mir bisher besehen habe, sind nur Hinweise auf die Edition des Manesse Verlags. Immerhin gibt es diesmal überhaupt andere Treffer. Ich kenne Begriffe, die tatsächlich niemand außer mir zu benutzen scheint. Gebt mal das Wort „Endreimgenese“ bei Google ein! Da kann man nur hoffen, dass niemand das demnächst in einem Bekennerschreiben verwendet… Immerhin gibt es im Netz nicht wenig Dichtung, bei der man zum Terroristen werden möchte, wenn man sie liest.

Précis: Text, Interpretation, Methode

Donnerstag, 04. Oktober 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich den Aufsatz „Text, Interpretation, Methode“ von Klaus Weimar, darin er versucht, den drei zentralen und transdisziplinären Begriffen anhand ihres Alltagsgebrauchs aus ihrer Schwammigkeit zu verhelfen. Klaus Weimar ist seit 1982 Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.

Text, Interpretation, Methode ~ Klaus Weimar

Ich habe mir mal den Aufsatz „Text, Interpretation, Methode“ durchgelesen. Darin unternimmt Klaus Weimar den Versuch die drei zentralen und transdisziplinären Begriffe Text, Interpretation und Methode, die in ihrer Bedeutung entweder vieldeutig oder verwirrend sind, zu klären, d.h. ihnen sinnvolle und möglichst gleichbleibende Bedeutung zuzuteilen. Dabei wählt er wie W. Strube den Weg über die Alltagssprache, mit deren Hilfe er auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „Text“, sowie „Methode“ hinweist. Ferner versucht er ein Phänomen zu finden. Welches sinnvoll mit dem Wort „Interpretation“ zu versehen wäre. Der Thematik des Aufsatzes nach, ist selbiger gegliedert.

1. Text

Der systematisch mehrdeutige Begriff „Text“ verändert, so Weimar, seine Bedeutung mit der Maßgabe des damit verbundenen Verbs. Er kommt zu drei differenzierten Begriffen von Text: a) dem gesehenen Text, b) dem gelesenen Text und c) dem verstandenen Text. Verändert das Verb die Bedeutng des Substantivs mit dem es in Verbindung steht, hieße das also der gesehene Text ist anders als der gelesene, ist anders als der verstandene Text. Dies wird von Weimar an einigen einleuchtenden alltagsspachlichen Beispielen verdeutlicht.

Weimar führt seinen Versuch noch weiter, indem er den Text als Produkt des Sehens, des Lesens und des Verstehens zum Eigenprodukt der Rezeption erklärt. Demnach ist mit der Produktion von Schrift und Sprache eine Auto-Rezeption, mit der Rezeption von Schrift und Sprache eine Auto-Produktion verbunden. Damit weist Weimar auf das Kardinalproblem der Verstehenstheorie hin. Eine Rezeption, die Eigenprodukt ist, kann nicht Reproduktion von etwas Fremdem sein, da in dem Moment, da der gesehene Text gelesen wird, selbiger neu entsteht, d.h. neu produziert wird. Den Anspruch der Rezeption Reproduktion zu sein, hält Weimar für paradox, denn das einzig Fremde der Rezeption ist der gesehene Text, welcher weder Intention, noch Botschaft, Bedeutung, Sinn, etc. beinhaltet.

2. Interpretation

Auf die Klärung der irritierenden Vieldeutigkeit der Bedeutung von „Interpretation“ zielt der zweite Abschnitt ab. Weimar macht hier den Vorschlag eines differenzierten Begriffs von Interpretation, nachdem die Interpretation als Teil der Rezeption dem Textlesen und Textverstehen folgt und also diese beiden vorraussetzt.
Dem Problem der Textinterpretation nähert er sich über die Gesprächssituation. Gesagtes, das gegen die sogenannte Konversationsmaxime verstößt, wird in rezeptiver Tätigkeit sofort auch interpretiert. Der Zuhörer versucht also über die Bedeutung des Gesagten (intentio recta) hinaus auch die Bedeutung des Sagens an sich (intentio obliqua), d.i. die pragmatische Bedeutung des Gesagten, zu verstehen. Die Ermittlung des Implikaten der Rede setzt wiederum das Verstehen der Wort- und Satzbedeutung, also der intentio recta vorraus. Laut Weimar erfüllt dieses Phänomen die Bedingungen für die Verwendung des Wortes „Interpretation“.

Auch die Textinterpretation visiert die besondere Organisation der „Textwelt“ an und bemüht sich um das Verstehen der intentio obliqua. Allerdings handelt es sich beim Text nur um das Fragment einer Rede. Interpretiert wird also nicht das Fremde der Rezeption, der gesehene Text, sondern das Eigene, der gelesene und verstandene Text. Wie bei der Rede, setzt auch das das Verstehen der intentio recta vorraus.

In Abgrenzung zum Textverstehen und Textinterpretieren erscheint das Wort „Allegorese“. Diese beschäftigt sich mit der Ermittlung der Bedeutung des Bedeuteten, einer Bedeutung durch zwei Instanzen, wie Weimar es nennt, also nicht mit dem Verstehen der intentio obliqua. Laut Weimar sollte die Allegorese deshlab keinesfalls mit dem Wort „Interpretation“ bedacht werden, sondern weiterhin Allegorese heißen.

Weimars eindeutige Definition lautet also wie folgt: Interpretation „[…] ist ein Verstehen inentione obliqua, das pragmatische Bedeutung bestimmt.“

3. Methode

Über die Frage nach dem „Wie“ der Interpretation kommt Weimar zum Begriff der „Methode“, ein Wort das sowohl in pluralistischer Bedeutung, Methoden als mehrere konkurrierende und grundsätzlich auswechselbare Arten oder Varianten derselben Tätigkeit, oder in singularer Bedeutung, Methode als Tätigkeit von einer besonderen Qualität, vorkommt.

Auch hier knüpft er an den Verstehensbegriff an. So kann Verstehen Methode haben, wenn es einige qualitative Bedingungen erfüllt, d.h. wenn es theoretisch über sich selbst aufgeklärt ist. Nur methodisches Verstehen bringt der Hermeneutik einen Nutzen; hermeneutisch aufgeklärtes Verstehen muß, so Weimar, ein Verständnis von der Eigenproduktivität bei der Rezeption haben, das fremde des Textes vom Eigenprodukt differenzieren und methodisch Interpretieren.

Textverstehen hingegen kann mehrere Methoden haben, je nach dem wie bei der Rezeption auf die Differenz von Lektüre- und Gesprächssituation reagiert wird. Diese Differenz liegt, laut Weimar, in der Abwesenheit der Produktionsrepräsentanz. Die verschiedenen Verstehensmethoden bestehen also darin, mit dieser Abwesenheit unterschiedlich umzugehen.

Die methodische Interpretation kennt ihre Risiken, weiß bei jedem Schritt, was sie tut und weiß deshalb auch um ihren Geltungsanspruch, der sich, so Weimar, von der Illusion und Behauptung löst, die mens autoris reproduziert zu haben.

Mai 2003

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Quelle: Klaus Weimar: Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen, in: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990). Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 110-122

Seminararbeit: Text, Intention und Analogie

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Text, Intention und Analogie. Ein Aufsatz über Umberto Ecos Theorien zu Interpretation und Überinterpretation, Humboldt Universität Berlin, Sept. 2003
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Textverstehen. Einführung in die literarische Hermeneutik” der Neueren deutschen Literatur, geleitet von Herrn Dr. Carlos Spoerhase]

1. Ecos Interpretationstheorie – Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“

Hermeneutik, Semiologie und Literaturwissenschaft, diese drei Disziplinen beschäftigen sich mit der Suche nach der Natur des Verstehens. Die Hermeneutik sucht nach allgemeinen Strukturen des Verstehens, die Semiologie sucht nach dem Verstehen von Zeichensystemen, die Literaturwissenschaft sucht nach dem Verstehen literarischer Werke. So entwickelten sich im letzten Jahrhundert zahlreiche Methodiken des Verstehens, wobei dem Verstehen von Schriftsprache besondere Aufmerksamkeit zuzukommen scheint.

Auch der durch seinen Roman „Der Name der Rose“ als Autor bekannt gewordene Semiologe Umberto Eco hat sich in zahlreichen seiner theoretischen Schriften mit der Frage nach dem Verstehen von Zeichensystemen befasst. Besonderes Gewicht legt er dabei auf die Methodik der Interpretation literarischer Werke.

Im Gemenge der verschiedenen theoretischen Ansichten und Definitionen vertritt Eco eine moderate Zwischenposition, mit der er sich zwischen den extremen Positionen der Autorintentionalisten und denen der Rezeptionstheoretiker ansiedelt. Während die Autorintentionalisten nach der einen wahren Interpretation, die das Ergebnis der Suche nach den Absichten des Autors darstellt, suchen, stehen die Rezeptionstheoretiker für die uneingeschränkte interpretative Freiheit des Rezipienten und die Unendlichkeit der Interpretation ein.

Nach Ecos Ansicht ist die Absicht eines Autors in seinem Text jedoch nicht mehr zuverlässig nachweisbar. Eine solche Suche erscheint Eco nahezu aussichtslos und ferner wenig produktiv. Außerdem kann ein Text mehr bedeuten, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat. Aus diesem Grund findet ein aufmerksamer Interpret mehr Bedeutungen in ihm, als der Autor bewusst in sein Werk hineinlegte. Doch Eco will den Schritt zur Unendlichkeit der Interpretation nicht gehen. Seine Interpretation soll, als Suche nach seiner Bedeutung, dem Werk treu bleiben. Wären die Bedeutungen eines Werkes unendlich und jeder Rezipient könnte verstehen, was ihm beliebt, so wäre, wie Eco meint, das Nachdenken über Literatur und jegliche Interpretation als Versuch der Erklärung überflüssig.

Eco selbst bezeichnet seine Interpretationstheorie als Oszillation zwischen Werktreue und Initiative des Interpreten oder auch als Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“1. Für ihn gibt es nur einen Ort, an dem die Suche nach der Bedeutung eines Textes eine produktive Lösung finden kann, nämlich den Text selbst. Der Text ist das einzige, was dem Rezipienten vorliegt, nur er kann und soll Kriterium seiner Lesarten sein. Eco definiert also seine Interpretation nicht als Suche nach der intentio auctoris (Absichten des Autors), auch nicht als Oktroyieren der intentio lectoris (Absichten des Rezipienten), sondern als Suche nach der intentio operis, nach den Absichten des Werks selbst.

In dieser Theorie versucht Eco seine zunächst gegensätzlich anmutenden Ziele, zum einen das Plädoyer für die Offenheit eines grundsätzlich mehrdeutigen Kunstwerks, zum anderen die Begrenzung der rezeptionellen Freiheit des Interpreten, zu vereinen. Um zu verstehen, wie das funktionieren soll, ist es wichtig, die Beziehung zwischen Werk und Rezipient zu klären.

Dazu erklärt Eco: „[…] dem Funktionieren von Kunst [liegt] die Beziehung zum Interpreten zugrunde […].“2 Diese Beziehung sei der Natur, dass das Werk seinen Rezipienten, der über einen bestimmten Verständnishorizont verfüge, als Interpreten einplane. So schaffe sich das Werk seinen „Ideal-Reader“3 selbst; es stelle gewisse Forderungen an den Leser, der das Werk zu verstehen suche. Die Initiative seitens des Lesers bestehe nun darin, einige Vermutungen über die intentio operis aufzustellen, die dann im Verlaufe der Lektüre vom Text bestätigt oder widerlegt würden. Darin bestehe die Dialektik: Der Leser öffne das Werk durch seine beliebigen Hypothesen, das Werk aber schütze sich selbst, indem es die Unendlichkeit dieser Hypothesen begrenze.

Dies legt die Annahme nahe, dass es gute und schlechte Interpretationen gibt. Um diese zu unterscheiden beruft sich Eco auf sein sogenanntes „Popper-Prinzip“, wonach zwar nicht gesagt werden könne, welche die richtige Interpretation sei, Fehlinterpretationen aber identifiziert werden könnten. Dabei wird die vom Interpreten aufgestellte Hypothese an der Kohärenz des Gesamttextes gemessen. Trifft eine Hypothese auf einen Teil des Textes zu und wird auch von anderen Textstellen nicht entkräftet, ist sie plausibel. Wird diese Hypothese jedoch durch irgendeine Textstelle ad absurdum geführt, muss sie als Fehlinterpretation verworfen werden. Als Interpretation kann also nur gelten, was funktioniert und eine Erklärung des Textes als kohärentes Ganzes leistet. Diesen Punkt will ich jedoch später noch einmal genauer aufgreifen.

Ecos Interpretation ist also eindeutig eine extrem textualistische Lesart. Es gibt darunter zwei verschiedene Typen: Zum einen gibt es die semantische Interpretation, die eine neue Erklärung der semantischen, linearen Textwelt sucht. Zum anderen gibt es die kritische Interpretation, die zu erklären versucht, durch welche Struktur ein Text zu seinen potentiell unendlichen Lesarten anregt, wobei ästhetisch anspruchvollere Texte beide Interpretationstypen vorsehen. Jedoch muss der Rezipient bei der Interpretation die vom Text vorgegebene, mögliche Welt respektieren. Wo das nicht passiert oder wo die Suche nach der intentio operis nur eine untergeordnete Rolle spielt, möchte Eco nicht länger von Interpretation, sondern von Gebrauch sprechen.

Beim Textgebrauch werden dem Werk außertextliche Möglichkeiten aufgezwungen. Um ihn für seine Interessen (die intentio lectoris) einzunehmen, zwängt der Rezipient einen Text in ein von ihm vorgefertigtes Muster. Darunter fällt z.B. die mittelalterliche Allegorese antiker Texte, die in Odysseus beispielsweise eine Jesusfigur erkennt. (Diesen ansonsten lächerlichen Interpretationen ist jedoch anzurechnen, dass sie die antiken Texte vor dem entgültigen Verlust gerettet haben.) Einige seiner Kollegen sind mit Ecos Unterscheidung nicht einverstanden, doch auch auf diesen Punkt will ich später genauer eingehen.

2. Die intentio operis – Interpretation im Sinne des Textualismus

In seinen semiologischen Schriften lässt Umberto Eco die intentio operis zum zentralen Terminus seiner Interpretationstheorie avancieren. Dass dieser Begriff in enger Verbindung zu Ecos Textualismus steht und ihm deshalb besonders wichtig zu sein scheint, habe ich bereits weiter oben erwähnt. Diese Verbindung will ich an dieser Stelle genauer erläutern und weiterhin auf die Probleme eingehen, die der Begriff intentio operis mit sich bringt.

Die Suche nach der intentio operis ist für Eco die zentrale Aufgabe der Interpretation. Die Absichten des Autors, sowie die des Lesers werden dabei in den Hintergrund gerückt, wenn nicht sogar vernachlässigt. Der Leser stellt dabei Vermutungen über die intentio operis an, die Indizien des Textes stärken oder schwächen diese Vermutungen und nach dem Ausschlussprinzip entsteht die Interpretation, die sich am Textganzen beweisen muss. So stimuliert und reguliert das Werk selbst die Freiheit des Interpreten. „Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes […].“4

In dieser Formulierung sieht Eco seine Ziele verwirklicht. Dem Kritiker Hans-Harald Müller fällt dabei jedoch eine Unstimmigkeit auf. Wenn die Interpretation eine Konjektur über die intentio operis ist, die sich aber gleichzeitig an der intentio operis falsifiziert, dann muss demzufolge die intentio operis bereits bekannt sein, bevor entschieden wird, ob die Vermutung, die wir erst noch über sie anstellen, richtig oder falsch ist. Das klingt Müller doch allzu sehr nach einem klassischen hermeneutischen Zirkel und genau das wirft er Eco vor. Die intentio operis scheitert als falsifizierende Instanz an ihrer Zirkularität.5

Auch Eco selbst scheint dieses Problem zumindest bemerkt zu haben: „Der Text ist […] ein Objekt, das die Interpretation bei dem zirkulären Versuch, sich aufgrund dessen zu bestätigen, was sie konstituiert, selber schafft.“6 Ich hingegen sehe das etwas anders und finde mich an anderen Stellen von Eco selbst bestätigt. Vielfach betont er in seinen Schriften, dass sich die Hypothesen des Interpreten über die intentio operis nicht an der intentio operis selbst bewähren müssen, sondern am Text als kohärentes Ganzes.

Meiner Meinung nach gibt es einen Unterschied zwischen der Absicht eines Werkes und seiner Kohärenz. Natürlich folgt seine Kohärenz einer bestimmten Absicht, diese ist jedoch nicht unweigerlich nach der ersten Lektüre bekannt. Ganz im Gegensatz zur Textkohärenz, die nach einmaliger Lektüre logisch nachvollzogen werden kann. Denn jede Geschichte folgt in ihrer Handlung (und Bedeutung) einer logischen Stimmigkeit innerhalb der Welt, die sie sich selbst geschaffen hat. Da der Mensch fähig ist, diesen logischen Zusammenhang zu erkennen, kann er in Filmen beispielsweise Regiefehler entdecken und nur aus diesem Grund kann er Vermutungen über die Bedeutung einer bestimmten Handlung anstellen.

Die Interpretation als Suche nach der intentio operis, fragt also nach der Bedeutung von Indizien innerhalb der Logik des Textes. Darum tritt Eco auch für den Respekt vor der vom Werk geschaffenen, möglichen Welt ein, deshalb plädiert er für den Textualismus. Er fragt: „Wie verhärtet man eine Hypothese über die intentio operis? Man kann die Vermutung nur am Text als einem kohärenten Ganzen überprüfen.“7 Weiter sagt er: „Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallenzulassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht. Insofern diszipliniert die interne Textkohärenz die ansonsten chaotischen Impulse des Lesers.“8 Da sich also eine Vermutung an der Textkohärenz, nicht aber an der Textintention bestätigt, muss die intentio operis nicht definiert sein, bevor sie definiert sein kann und somit haben wir es auch nicht mit einem hermeneutischen Zirkel zu tun.

Sofern meine Vermutungen also stimmen, legt Eco hier eine durchaus logische Methodik des Verstehens von Texten vor. Dennoch gibt es einen Punkt an dem der Terminus intentio operis fragwürdig, wenn nicht problematisch erscheint. Mit dieser Ansicht finde ich in Müller einen Verbündeten. Er wirft Eco vor, den Begriff vermenschlichend zu verwenden, weist darauf hin, dass ein Text keine Absichten habe, er könne nicht stimulieren, auch nicht regulieren und er sei nicht in der Lage, sich selbst zu schützen.

Es ist durchaus nicht kleinlich, einen solchen Punkt zu kritisieren. Eco selbst plädiert für eine „kritische Metasprache“ bei der Interpretation.9 Einen solch zentralen Terminus, wie ihn der Begriff der intentio operis darstellt, innerhalb seiner Theorie aber metaphorisch oder anthropomorph zu verwenden, widerspricht offensichtlich der von Eco selbst gewünschten Neutralität der wissenschaftlich-theoretischen Sprache.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller beginnt seinen Vortrag „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“10 mit der Feststellung, dass die Lektüre hermeneutischer Texte einen Logiker vor verschiedene Probleme stellt, die sich unter anderem dadurch einstellen, dass die Theoretiker oft unbewusst eine bildhaft-metaphorische Sprache verwenden und dazu neigen Objekt- und Metaebene zu vermischen. Eine solche Vermischung liegt meiner Meinung nach auch in Ecos Fall vor.

Der Begriff intentio operis fördert die trügerische Annahme, hinter einem Text stehe kein Autor mehr und der Text selbst wäre bei der Kommunikation mit seinem Rezipienten zu gewissen Handlungen fähig. Das ist jedoch nicht der Fall. Obgleich seine Absichten bei der Rezeption irrelevant sein mögen, steht hinter dem Werk noch immer der empirische Autor. Wenn Eco also verdeutlichen will, dass ein Text mehr bedeuten kann, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat, dann wäre es vorteilhafter in Begriffen wie empirischer und exemplarischer Autor bzw. Leser zu sprechen.

3. Überinterpretation – bedeutende und unbedeutende Analogien

Aus den oben stehenden Ausführung wird deutlich, dass Umberto Eco die Grenzen seiner Interpretation innerhalb der Möglichkeiten des zu interpretierenden Textes setzt. Dennoch will er auch innerhalb der durch ihren Textualismus genehmigten Interpretationen ein gesundes Maß beibehalten. Er unterscheidet deshalb nicht nur zwischen der Interpretation und dem jenseits des Textualismus liegenden Gebrauch von Texten, sondern innerhalb der Interpretation auch zwischen vernünftiger und paranoider Interpretation oder einfach zwischen Interpretation und Überinterpretation. Wo aber zieht Eco hier die Grenzen?

Das menschliche Denken basiert auf dem Erkennen von Identität und Ähnlichkeit. Dinge können einander ähnlich sein aufgrund ihrer Form, so wird eine Brille oft als Nasenfahrrad bezeichnet. Sie können analog sein aufgrund von Farbähnlichkeit, Kontextbezogenheit, Metonymie und vielem mehr. So akzeptiert ein Leser Schneewittchens blutrote Lippen oder weiß, dass ein sich bewaffnender Held gerade seine Rüstung anlegt und sein Schwert ergreift.

Jede aufgespürte Ähnlichkeit verweist aber auf eine weitere Ähnlichkeit und so kann aus einem bestimmten Blickwinkel alles mit jedem ähnlich oder vergleichbar sein. Es bauen sich sogenannte Assoziationsketten auf: Bei einem Zusammentreffen mit Schneewittchens blutroten Lippen wird vielleicht der Kuss assoziiert, beim Kuss die Liebe, bei der Liebe vielleicht der oder die Geliebte, andererseits könnten die blutroten Lippen auch auf eine andere Person mit blutroten Lippen verweisen und der Kuss auf die gleichnamige Skulptur von A. Rodin und so fort. Daraus wird deutlich, dass Sprache sehr unbestimmt sein kann und dass es demnach sehr schwierig ist, sie zu verstehen.

Wer im Alltag verstehen will, muss zunächst die erste Bedeutungsebene der Sprache, den wörtlichen Sinn erkennen, danach gilt es, zu entscheiden, welche Analogien bedeutsam, welche unbedeutsam für das Verständnis eines bestimmten Kontextes sind. Ebenso funktioniert es laut Eco bei der Interpretation. Eine vernünftige Interpretation unterscheidet sich von einer paranoiden eben dadurch, dass sie die Bedeutsamkeit von Analogien erkennt.

Bei der Interpretation gilt es, zunächst zu klären, welche Indizien im Text auf Analogien verweisen. Ein Signifikant steht dann für ein anderes Signifikat, wenn es sich nicht sparsamer erklären lässt, wenn es auf eine Einzelursache verweist und wenn es zu den anderen Indizien passt. Bei der Überinterpretation werden, so Eco, meist schon diese Indizien überbewertet.

Sind Analogien festgestellt, muss deren Relevanz überprüft werden. Das geschieht mit Hilfe der sogenannten Textisotopie. Darunter versteht Eco den thematischen Kern eines Textes, dem sich jedes Indiz unterordnet, den Kontext. Eine relevante Analogie darf innerhalb einer konstanten Isotopie nicht zu untypisch sein: „Wir können nur solche Merkmale als relevant und sachdienlich anerkennen, die jeder Beobachter erkennen würde – selbst wenn sie bis dahin unbemerkt blieben […].“11

Der Kritiker Jonathan Culler tritt hingegen energisch für die von Eco kritisierte Überinterpretation ein. Nur eine ins Extrem getriebene Interpretation könne fruchtbar und produktiv sein, denn sie rege zum Nachdenken über die Wirkungsweise und Funktion von Literatur und der Struktur der Sprache an.

Die Überinterpretation fördert neue bisher unbeachtete Zusammenhänge und Implikationen zutage, weil sie Fragen aufwirft, die der Text dem exemplarischen Leser gar nicht stellt. Deshalb nennt Culler die von ihm favorisierte Art der Interpretation auch Überfragung und versucht sie dadurch vor der Gefahr, unter die von Eco als Gebrauch kritisierten Interpretationen zu fallen, zu schützen. Die Überfragung versucht, „die semiotischen Mechanismen der Literatur, die unterschiedlichen Strategien ihrer Form systematisch zu verstehen“12 und ist deshalb eine Form der Literaturkritik.

Auch Umberto Eco spricht diese Art von Interpretation an, indem er auf den Unterschied zwischen semiotischer und kritischer Lesart hinweist. Wo die semiotische Interpretation nach einer neuen Wahrheit innerhalb der Textlinearität sucht, sucht die kritische Interpretation nach einem geheimen Code, nach der Strategie, nach der ein Text unendlich viele Lesarten intendiert. Ecos kritischer Leser ist also Cullers überfragendem Leser gar nicht so unähnlich.

Die kritische Lesart entzieht sich durchaus nicht dem von Eco angepriesenen Textualismus – Culler hat also nicht wirklich etwas zu befürchten. Auch Eco ist sich sicher, dass das Staunen Anfang aller Erkenntnis ist und dass die Überfragung eines Textes eine Notwendigkeit des menschlichen Bemühens um Verständnis darstellt. Dennoch möchte er im Gegensatz zu Culler Grenzen der Interpretation gesetzt wissen und setzt diese auch ohne auf die Kritik Cullers mit handfesten Gegenargumenten zu erwidern.

4. Resümee

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Umberto Eco durchaus ein Theoretiker ist, der Grenzen der Interpretation erkennt und definiert. Als Textualist stellt der Text selbst das einzige Kriterium seiner Interpretation dar. Nach den „Absichten des Textes“ wird gesucht, am Text wird die Beweisführung für Annahmen und Thesen festgemacht und falsifizierende Instanz für gute und schlechte Interpretationen ist ebenfalls der Text.

Innerhalb dieser Grenzen kann es aber verschiedene Formen von Interpretation geben. Was einmal die semiologische Lesart ist, ist ein andermal die kritische und wieder ein andermal sind beide Typen vereint.

Als „legitime“ Befragung des Textes kann es unabhängig vom Interpretationstypus weiterhin vernünftige und paranoide Interpretationen geben, wobei die paranoide Interpretation von Eco Überinterpretation genannt wird. Diese beiden unterscheiden sich durch den Umgang mit den im Text befindlichen Indizien für Analogien. Diese Analogien geben Aufschluss über die zweite Bedeutungsebene der Sprache. Sie zu verstehen ist wichtig, denn sie trägt erheblich zum Gesamtverständnis der übermittelten Textbotschaft bei.

Die Überinterpretation aber verkennt die Signifikanz bestimmter Indizien, hält sie für bedeutender als es die Textisotopie legitimieren würde. Sie überfragt den Text, um neue Erkenntnisse über die allgemeine Natur von Literatur und Sprache zu gewinnen. Als Literaturkritik konzentriert sie sich somit auf Probleme, die über die eigentliche Aufgabe der Interpretation, der Textbotschaft zum Verständnis zu verhelfen, hinausragen.

In dieser Klassifizierung sehen einige Kritiker, wie Jonathan Culler, die Freiheit des Rezipienten bedroht. Sie werfen Eco eine zu strenge Handhabung vor. Diese Kritik möchte Eco jedoch zurückweisen. Deshalb betont er immer wieder, auch er stehe für die Offenheit des Kunstwerkes und die potentielle Unendlichkeit der Interpretation ein. Seine Interpretation stelle aber eine Dialektik von Offenheit und Gebundenheit dar.

Quellen

  • Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 19992
  • Umberto Eco „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1996
  • Tom Kindt und Hans-Harald Müller. Hrsg. „Ecos Echos“. Wilhelm Fink Verlag. München 2000

Sept. 2003
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  1. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.1 Archäologie [p. 33]
  2. ebd.
  3. ebd.
  4. ebd., Einleitung [p.22]
  5. Hans-Harald Müller „Eco zwischen Autor und Text. Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie“ in „Ecos Echos“ T. Kindt und H.-H. Müller (Hrsg.), [p.143]
  6. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.6 Interpretation und Vermutung [p.49]
  7. Umberto Eco „Überzogene Textinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.73]
  8. ebd.
  9. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.7 Die Falsifizierung der Fehlinterpretation [p.51]
  10. Wolfgang Stegmüller „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“ in „Natur und Geschichte. X. Deutscher Kongress für Philosophie.“ K. Hübner und A. Menne (Hrsg.)
  11. Umberto Eco „Erwiderung“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.156]
  12. Jonathan Culler „Ein Plädoyer für die Überinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.128]

Vom Handwerk des Erzählers

Montag, 10. September 2007

berichtet ein sehr spannendes Blog namens Dschungelwelt von Frederik Weitz, das ich gestern gefunden habe. Na ja, eigentlich hat es mich gefunden, schon im letzten Jahr, aber gestern las ich mich dann (trotz Erkältung) bis in die frühen Morgenstunden fest. Besonders die Kategorie „Schreibwerkstatt“ hat es mir angetan. Dort werden z.B. Elemente der Spannung beschrieben oder Symbole anhand von Harry Potter Bänden erklärt. Auch politisch ist das Blog echt sympathisch, wenn es z.B. über die unauffällige Nutzung von Bibliotheken berichtet. Deshalb: Reingucken!

Die lyrische Eingangspforte

Montag, 11. Juni 2007

Hallo liebe Leser, da diese Seite nun wieder voll einsatzbereit ist, möchte ich einen kleinen lyrischen Impuls geben und stelle euch daher diese Sammlung meiner Lieblingsgedichte – und einer Kurzinterpretation dazu – vor. Ich habe diese Sammlung mit „Lyrische Eingangspforte“ betitelt, da sie für mich das widerspiegelt, was mir den Einstieg in die Dichtung so versüßt hat: Die Reichhaltigkeit fremder Lyrik. Es wäre natürlich toll, wenn ein wenig dieser Begeisterung auf andere Leser abfärben würde!

I Einleitung

II Gedichte und deren Interpretation
II.1 Wünschelrute [Joseph Freiherr von Eichendorff]
II.2 Der römische Brunnen [Conrad Ferdinand Meyer]
II.3 Die römische Fontaine [Rainer Maria Rilke]
II.4 Die Beiden [Hugo von Hofmannsthal]
II.5 Eingelegte Ruder [Conrad Ferdinand Meyer]


I Einleitung

Die lyrische Eingangspforte

Fern ab von wissenschaftlicher Pedanterie möchte ich in diesem Faden zu einem kleinen Spaziergang durch einige Gedichtklassiker einladen und damit ein wenig von jener Begeisterung und Freude, an diesen Meilensteinen der deutschen Lyrik vermitteln, welche mich regelmäßig neu erfasst. Mir persönlich waren die klassischen Werke wie ein Tor in eine faszinierende Welt, in der Worte ihre eigene Beschränktheit überwinden und das scheinbar Unmögliche schaffen: Die Welt des rein Verbalen zu überwinden und in einem „Schiff“ aus Sprachlichem das Sprachlose zu erreichen. Diese wertvolle Eigenschaft zeichnet Lyrik vor allem aus: Ihre Fähigkeit Dinge zu transportieren die normalerweise zur Sprachlosigkeit verdammt in uns allen eingesperrt sind. Diese faszinierende Eigenschaft ist sogleich auch Wesenskern und Zweck der Lyrik. Dadurch unterscheidet sich Lyrik fundamental von einem Sachtext herkömmlicher Art. Zwar werden, und dies sicherlich auch zu Recht, oft formale Merkmale angeführt, wie das Vorhandensein von Versen, Reimen oder anderen typischen stilistischen Mitteln, aber im Kern ist es doch immer jene „überverbale“ Eigenschaft, welche Lyrik erst zu dem macht was sie wirklich ist: eine „Versprachlichung“ des „Unsagbaren“ Diesem Unsagbaren auf die Schliche zu kommen und es gleichsam im Gedicht gefangen zu setzten, ist eines jener Hauptanliegen des Dichters. Es galt und gilt also in erster Linie den Bohrer an die „Nuss“ anzusetzen und das Innere hervorzuholen um daraus ein „lyrisches Gericht“ zu kochen, welches uns nicht nur kognitiv, sondern auch mit allen Sinnen anzusprechen vermag. In dieser Nuss verbirgt sich eben jenes Wesen der Sache, welcher man bestrebt ist, sich lyrisch anzunähern.

Hinweis:
Wie bei allen Gedichten, welchen man sich intensiv annähern möchte, empfiehlt es sich das Gedicht auswendig zu lernen. Es ist tatsächlich so, das ein auswendig gelerntes Gedicht viel eher dazu in der Lage ist, seine ganze Wirkung zu entfalten. Ferner ist ein lautes Lesen außerordentlich wichtig um subtile Eigenschaften eines lyrischen Kunstobjektes klarer erfassen zu können. In diesem Zusammenhang sei auf ein Zitat von Rilke verwiesen:

Wie vielen Lesenden fehlt noch die wirkliche Beziehung zum Gedicht, weil sie in stillem Darüberlesen seine besonderen Eigenschaften nur eben streifen, statt sie zu erwecken.


II Gedichte und deren Interpretation

Ich möchte nun einige Gedichte, die mir besonders gefallen haben, vorstellen und mit zum Teil unkonventionellen Interpretationsversuchen einige der Punkte aufgreifen, die mir erwähnenswert erscheinen. Alle Interpretationen sind hierbei aber keine Musterlösungen oder Ähnliches, sondern immer nur Produkt meiner persönlichen Wahrnehmung. Ein bescheidener Abriss meiner eigenen Ansichten und Vermutungen also (umfangreiche und wissenschaftlich korrekte Interpretationen gibt es im Netz bereits in großer Zahl). Beginnen werde ich mit einem sehr kurzen, aber zugleich unsagbar schönen Gedicht von Joseph Freiherr von Eichendorff, der von 1788 bis 1857 lebte und als herausragender Vertreter der deutschen Spätromantik gilt.


II.1 Wünschelrute [Joseph Freiherr von Eichendorff]

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Dieses Gedicht zeichnet sich zu allererst durch sein zeitloses Wesen aus. Ferner besticht es durch seine prägnante und elegante Art eine universelle Sache auf den Punkt zu bringen. Was macht dieses Gedicht so zeitlos? Seine Form ist es sicher nicht, da diese mit ihrem fierhebigen Trochäus und den sauberen Reimen eher als altmodisch (eben klassisch) zu bezeichnen ist. Dennoch steckt inhaltlich weit mehr dahinter als es zunächst den Anschein haben mag. So dachte ich beim Lesen des Gedichtes unwillkürlich an die moderne Technik und Wissenschaft, welche das physikalische Wesen der Dinge „wachruft“ und zum „Singen“ bringt. Welche Kraft beispielsweise schlummert in den Atomen und wird durch das „Zauberwort moderner Technik“ auf teilweise gravierende Art wachgerufen(Kernspaltung)? Aber es gibt natürlich auch unzählige weitere Ebenen, welche diese Zeilen ansprechen. So schlummert beispielsweise in einem Musikinstrument eine geradezu unendliche Klangfülle, die nur darauf wartet wachgerufen zu werden. Der Musiker ist im Besitz des „Zauberwortes“, welches in diesem Falle seiner Fähigkeit entspricht, das Instrument zu bedienen. Aber auch Menschen sind „Dinge“ in denen etwas schlummert und nur darauf wartet wachgerufen zu werden. Für den Begriff „Zauberwort“ stehen also eine Fülle an Dingen und auch die „Dinge“ sind ungezählt. Formal erscheint das Gedicht selbst bereits wie ein Zauberspruch: Ein kurzer eleganter Spruch, der uns in Erstaunen versetzt.

Hinweis:
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass meine Interpretation das Gedicht aus seinem geschichtlichen Zusammenhang herauslöst und es aus einer aktuelleren Perspektive heraus betrachtet. Wer Interesse an den Intentionen des Autors hat und an den Bedeutungen die es damals inne hatte, sei auf die mannigfaltigen Interpretationen im Netz verwiesen.


II.2 Der römische Brunnen [Conrad Ferdinand Meyer]

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Dieses Gedicht ist ein Paradebeispiel für die vollendete Verschmelzung von Form und Inhalt. Das Objekt wird gewissermaßen sprachlich herausgemeißelt, wobei am Schluss kein Wort zu viel und keines zuwenig übrig bleibt. Seine sprachliche Qualität wird aber erst beim lauten Lesen wirklich erfahrbar. Sowohl klanglich als auch optisch wird dieses Gedicht zu dem was es beschreibt: Zum Wesen eines römischen Brunnens. Die gewählte auftaktige Versform (Jamben) unterstreicht das aufstrebende Element eines solchen Brunnens. Das Gedicht besteht aus acht Versen, wobei jeder zweite Vers eine neue Schale nennt. Beim Lesen fließt der Leser ähnlich dem Wasser durch die einzelnen Verse. Die zweifachen „Und“ und die verkürzte letzte Zeile am Ende des Gedichtes sorgen für ein langsames zur Ruhe kommen des herabstrebenden Wassers. Aber auch rein kognitiv ist das Gedicht absolut stimmig aufgebaut. So fügt sich ein Bild nach dem Anderen in eine Kausalkette ein, die den dynamischen Vorgang des Auf und Ab, des Nehmens und Gebens wunderbar aufzeigt. So kann man während dem Lesen mit dem Wasser verschmelzen und ihm durch alle Etappen des Ruhens und Strömens wunderbar folgen. Hierzu ein Zitat Martin Heideggers: „Das allgemeine Wesen eines römischen Brunnens als Wahrheit ins Werk gesetzt“.


II.3 Römische Fontäne (Villa Borghese) [Rainer Maria Rilke]

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

Ich habe dieses weitere Brunnengedicht bewusst eingebracht, da es, ebenfalls auf sehr wortmalerische Art, einen anderen Aspekt des römischen Brunnens beleuchtet. Wir erinnern uns: Bei C.F Meyers Brunnen ist alles in ständiger Bewegung, der Lesefluss passt sich dem unaufhaltsamen Fluss des Wassers perfekt an und sorgt durch seine „Pausenlosigkeit“ für eine gewisse „Atemlosigkeit“ beim Leser. Ganz im Gegensatz dazu steht die Römische Fontäne Rilkes, bei welcher das Wasser seine Bewegung leise und ruhig offenbart. Hier steigt kein Strahl in die Luft, hier fällt kein Wasser in eine Schale – Ja, man hat fast den Eindruck selbst das herabfließende Wasser befände sich im Stillstand. Das Wasser neigt sich von der oberen Schale in die Nächste und es lässt sich träumerisch in die Letzte nieder. Besonders raffiniert sind in diesem Zusammenhang Rilkes Bilder, die im Auge des Lesers nie ein vollkommen klares Bild entstehen lassen, sondern immer nur eine Ahnung, welche eine angenehme ruhige Spannung beim Leser erzeugt. Der Vers:“ Ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend“ illustriert diesen Umstand auf wunderbare Weise und bedarf, denke ich, keiner weiteren Erläuterung.

Besondere Raffinesse beweist Rilke wenn es darum geht, dass Metrum bewusst an bestimmten Stellen zu variieren, um den Inhalt klanglich zu unterstützen. Er tut dies mit einer Leichtigkeit und Präzision, welche beeindruckend ist. Betrachten wir hierzu die erste Strophe des Gedichtes und unterziehen wir Selbige einer metrischen Analyse:

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

xXxXxXxXxXx
xXxXxXxXxX
xXxXxxXxXxXx
xXxXxXxXxX

x = unbetonte Silbe
X= betonte Silbe

Zunächst erkennen wir, dass es sich um jambische Verse, mit jeweils fünf Hebungen handelt. Im dritten Vers erkennt man bei genauerem Hinsehen, dass sich dort eine Unregelmäßigkeit des alternierenden Schemas befindet. Es handelt sich um eine Doppelsenkung, dass heißt, dass sich dort zwei unbetonte Silben nacheinander befinden. Ich möchte nun dazu ermuntern den Vers mehrmals laut zu lesen und auf den Klang speziell an dieser Stelle zu achten (insbesondere auf das Wort „oberen“). Ferner schlage ich vor den Inhalt zusätzlich zu visualisieren, sich also das Wasser vorzustellen, welches leise herabmurmelt. Es ist hierbei höchst erstaunlich wie sehr Klang und Inhalt harmonieren. Die Doppelsenkung vertont an dieser Stelle das leise Murmeln des herabsinkenden Wassers auf wunderbar feinsinnige Art uns Weise. Die Subtilität derer Rilke sich so bedient, kann jedoch nur dann zur Gänze erfahrbar werden, wenn man das Gedicht sehr intensiv auf sich wirken lässt, wobei lautes Lesen als unverzichtbar erscheint. Das nachfolgende Gedicht möchte ich in diesem Zusammenhang ergänzend beifügen um aufzuzeigen, dass gezielte Brüche im Metrum zur sprachlichen Vollendung eines Gedichtes beitragen können.


II.4 Die Beiden [Hugo von Hofmannsthal]

Sie trug den Becher in der Hand
– Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand -,
So leicht und sicher war ihr Gang,
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand,
Er ritt auf einem jungen Pferde,
Und mit nachlässiger Gebärde
Erzwang er, daß es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
Den leichten Becher nehmen sollte,
So war es beiden allzu schwer:
Denn beide bebten sie so sehr,
Daß keine Hand die andre fand
Und dunkler Wein am Boden rollte.

Analog zu den klanglichen Finessen der Römischen Fontäne kann auch dieses Gedicht als Paradebeispiel für sprachliche Eleganz herangezogen werden. Die Verschmelzung von Form und Inhalt kommt besonders frappierend in Strophe drei/ Vers drei zur Geltung. Die nachlässige Gebärde des Reiters spiegelt sich in den Mehrfachsenkungen sehr ausdrucksstark wieder. Der Leser sei an dieser Stelle dazu ermuntert das Gedicht laut zu lesen und auf den Klang, besonders an dieser Stelle, zu achten.


II.5 Eingelegte Ruder [Conrad Ferdinand Meyer]

Meine eingelegten Ruder triefen,
Tropfen fallen langsam in die Tiefen.

Nichts das mich verdroß! Nichts, das mich freute!
Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

Unter mir – ach, aus dem Licht verschwunden –
Träumen schon die schönern meiner Stunden.

Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:
Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?

Die formale Schlichtheit steht in lebhaftem Kontrast zur inhaltlichen Tiefe, welche dieses Gedicht so eindrücklich macht. Gegenstand dieses Gedichts ist zunächst ein in Gedanken versunkenes „Lyrisches Ich“ in einem Ruderboot. Die Person blickt ins Wasser und betrachtet hierbei die, von den eingelegten Rudern, herabfallenden Tropfen. Dieses Bild fängt gewissermaßen an sich zu verselbstständigen, wobei die Tropfen zu Metaphern werden, welche die vergangenen Stunden beschreiben. Die Gegenwart, hier in Gestalt eines „schmerzlosen Heute“ rinnt nieder und wird unmittelbar zur nahen Vergangenheit. Dieser Blick auf die nahe Vergangenheit wird ab Strophe drei zu einem Blick auf eine fernere Vergangenheit erweitert, in welcher die erlebten Stunden noch schön waren [Träumen schon die schönern meiner Stunden]. In der letzten Strophe „ergreift“ diese ferne Vergangenheit das Wort und richtet sich mit einer Frage an das lyrische Ich [sind im Licht noch manche meiner Schwestern?]. Anders ausgedrückt: Erwarten mich in der Zukunft noch Stunden, welche dieselbe Schönheit innehaben wie die bereits vergangenen? Das Gedicht erzeugt mit seinen Bildern eine melancholisch, hoffnungsvolle Atmosphäre, welche sich in der Kürze der acht Verse zu einem lyrischen Erlebnis verdichtet. Mir persönlich bedeutet dieser Text sehr viel, wobei er nicht unmittelbar wirkte, sondern erst nachdem ich ihn eingehend betrachtet hatte.

Ich hoffe diese Interpretationen waren unterhaltsam und haben euch gefallen. Wenn ich weitere Gedichte hinzufüge (und es gibt so viele die mir sehr am Herzen liegen), gehts natürlich auch in diesem Faden weiter

Viele Grüße
GEO

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Poesiefestival Berlin: 23.06. – 01.07.2007

Samstag, 09. Juni 2007

Ich sehe gerade, dass sich das alljährliche Poesiefestival in Berlin wieder nähert, immerhin schon zum 8. Male.Themenschwerpunkt ist diesmal Kanadische Dichtung, obwohl interessante Aspekte auch auf mediale Verbindungen zwischen Gedicht und Computer, aber auch Rap-Poetry eingehen. Das volle Programm findet sich auf der Seite der literaturWERKstatt Berlin. Falls jemand von den üblichen Verdächtigen Lust hat, mich zu begleiten, mich interessieren folgende Beiträge:

  • Colloquium: Das Bild in der Poesie, Sa 24.06., 11:00-15:30 Uhr
  • Wenn Dichtung politisch wird, Sa 24.06., 20:00 Uhr
  • AVATAR. Digitale Poesie (Poesiegespräch), Mo 25.06. 18:30 Uhr
  • Poesiegespräch mit Ulrike Draesner, Di 26.06., 17:00 Uhr
  • gedicht-computer-musik (Poesiegespräch), Do 28.06., 18:30
  • e.poesie (Kompositionen elektronischer Musik), Do 28.06., 20:00 Uhr
  • Dichtung und Rap (Poesiegespräch), Sa 30.06., 18:30 Uhr
  • …wir kommen mit beats, cuts und raps, Sa 30.06., 22:00 Uhr

Kochen mal anders…

Donnerstag, 17. Mai 2007

Liebe geht durch den Magen, sagt man. In meinem Feiertagstipp zum Herrentag, geht durch selbigen auch die Poesie. Krister „K.rotte“ Hymon und Julian „Peter Silie“ Manz, die eigentlich aus einer ganz anderen kreativen Ecke stammen, haben ein Kochrezept für Gemüseeintopf poetisch und visuell umgesetzt und damit „wohl irgendwie ’n Glücksgriff gelandet“ (so ist das, Jungs!). Praktisch für den Mann von heute – der kann zur Feier des Tages etwas Leckeres kredenzen, ohne einen einzigen Blick ins Kochbuch werfen zu müssen. Film ab!

Bei youtube: Gemüseeintopf

Erste Lesung

Freitag, 02. Februar 2007

Ich habe mich ja immer ein bisschen davor gescheut, öffentlich zu lesen. Nicht, weil ich glaube, dass meine Texte nicht gehört werden sollten, sondern weil ich glaube, dass sie dem Eventcharakter nicht gerecht werden, der heutige Lesungen oftmals begleitet. Ganz anders sollte die von Komilitonen am letzten Sonntag erstmals im tik nord organisierte Lesung „Textrakte“ werden, zu der man auch mich einlud. Wir fanden uns zu einer gemütlichen Runde zusammen, in der jeder lesen konnte, der etwas mitgebracht hatte und sich traute. Im Anschluß an jeden Text wurde diskutiert und das nicht etwa nur, weil es von vornherein so angedacht war. Die Diskussionen waren anregend, die Texte bunt und die Beteiligten interessiert. So hatte ich mir meine erste Lesung vorgestellt – ein schönes Erlebnis, das sich zu wiederholen lohnt.

Die Reihe soll fortgesetzt werden. Die nächste Lesung „Textrakte“ wird es voraussichtlich am 11.02. im tik nord in der Rigaerstr. 77 in 10247 F’hain geben. Infos unter textrakteATgmxDOTde.

Dróttkvætt [Strophenform]

Samstag, 11. November 2006

Das Dróttkvætt (sprich: Drotzkwett) ist eine Strophenform, und zwar die strengste, die die altnordische Skaldendichtung zu bieten hat. Sie war in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und ist sehr komplex. Da ich es für spannend und interessant halte, diverse poetische Formprinzipien kennenzulernen, habe ich hier mal die Grundlagen zum Dróttkvætt zusammengefaßt.

Das Dróttkvætt („Hofton“) ist die strengste Strophenform der altnordischen Skaldendichtung und gleichsam ihr Hauptversmaß. 5/6 aller erhaltenen Texte sind im Hofton überliefert.

Metrische Struktur

Eine Strophe („vísa“) besteht aus je 2 Halbstrophen („helmingr“) mit je vier sechsgliedrigen1 Halbzeilen („vísuorð“). Im Anvers müssen sich zwei Stäbe („suθlar“) auf betonten Silben befinden, im Abvers ein Stab („höfuðstaðr“) auf der ersten Silbe, wobei Konstonanten mit sich selbst staben und Vokale miteinander2.

In jedem Halbvers befindet sich zusätzlich ein Binnenreim („hending“), wobei hier der Gleichklang von Lauten innerhalb von Reimworten gemeint ist. Jede vorletzte, betonte Silbe nimmt am Binnenreim teil. Der Reimpartner muß auf einer betonten Silbe weiter vorn sein. In jedem ungeraden Halbvers sind die Binnenreime Halbreime („skoθhending“), d.h. nur Konsonantenklänge stimmen überein. In geraden Halbversen sind die Binnenreime jedoch Vollreime („adalhending“), d.h. Vokale und Konsonanten lauten gleich.

Darüber hinaus sind im Hofton sogenannte Kenningar unabdingbar. Das sind zwei- oder mehrsilbige, bildliche Umschreibungen, die sich im Idealfall nur mit einer speziellen Kenntnis der altnordischen Mytholgie entschlüsseln lassen. Einige Kenningar sind auch aus dem Kontext heraus zu entschlüsseln. Typischerweise ist jede Halbstrophe von einem Kenning bestimmt, das auch mehrere Teile oder Glieder haben kann.

Da der Dichter durch diese Formstrenge relativ eingeschränkt ist, besteht seine einzige Ausweichmöglichkeit in der Wortstellung, was darauf hinausläuft, dass die Syntax nicht immer leicht zu durchschauen ist.

Beispiel

Das Beispiel ist ein Totenpreis für den dänischen Wikingerführer Sibbe, der in jüngerem Futhark (Runen) auf den Stein von Karlevi geritzt ist. Fett sind die Stäbe, unterstrichen die Binnenreime und kursiv die Kenningar, wobei zusammenhängende Teil-Kenningar durch * gekennzeichnet sind.

Folginn liggr hinn’s fylgðu
(flestr vissi þat) mestar
dáðir dolga þrar
draugr
í þeimsi haugi.
Mun-at reið-Viðurr* ráða
rógostarkr í Danmǫrku
*Endils jǫrmungrundar
ørgrandari landi.

In diesem Hügel verborgen liegt der Krieger („Baum der Thrud der Kämpfe“), dem (die meisten wissen das) die größten Taten folgten. Nicht wird ein kampfstarker, untadeliger See-Krieger („Wagen-Odin des weiten Grundes des Endill“) über Land in Dänemark herrschen.

Überlieferung

Viele Skaldenstrophen sind als Zitate in Sagas oder in der Snorra-Edda, dem Skaldenlehrbuch Snorri Sturlusons (1079 – 1241), überliefert. Im Gegensatz zu Edda-Liedern sind die Skaldenstrophen häufig mit Verfassernamen angeführt.

Frühe Formen finden sich bei Bragi enn gamli Boddason (9 Jh.), dem ersten namentlich bekannten Skaldendichter und Egill Skallagrímsson, der um 900 bis nach 990 gelebt hat.

Literatur

  • Andersson, Th. / Marold, E. (2000), „Karlevi“, 2RGA 16, 275-280.
  • Jónsson, Finnur (1912 – 1915), Den Norsk-Islandske Skjaldendigtning, Bde. A I-II, B I-II, København und Kristiana

Weblinks

Wer mehr Infos zum Dróttkvætt (Dróttkvaett, Drottkvaett) oder Verbesserungsvorschläge zu diesem Artikel hat, sei dazu ermuntert, sein Wissen hier beizutragen.
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1. Die Sechsgliedrigkeit entspricht weitestgehend einer Sechssilbigkeit mit drei Hebungen, ist aber doch nicht ganz dasselbe.
2. Die Konsonantenkombinationen sk, sp, st bilden eine Ausnahme. Sie staben nur mit sich selbst, nicht aber mit s, während Kombis wie kr oder kl durchaus mit k staben. Als Vokal wird auch j behandelt.

Der Dichter schreibt die Rechnung …

Samstag, 21. Oktober 2006

„Der Dichter schreibt die Rechnung. Die Addition überlässt er dem Leser.“
Karol Irzykowski (1873-1944), poln. Literaturkritiker

Weshalb, so könnte man sich nach dem Lesen dieses kurzen und prägnanten Zitates fragen, präsentiert der Dichter dem Leser nicht gleich die Summe der Addition, also das Ergebnis?
Ich denke, dass im Kern dieser Frage sogleich eine wichtige Entdeckung zu machen ist, welche uns letztlich die Eigenschaften von Lyrik näher bringen, oder verdeutlichen kann. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Wesen einer Rechnung und den Prozessen im Kopf des Rechnenden. Die Rechnung könnte man als Anweisung verstehen, welche uns in eine bestimmte Richtung und auf ein bestimmtes Ergebnis hinlenkt. Der Rechnende erhält Informationen und eine Anweisung, wie diese Informationen zu verwerten sind. Aus dieser „Verwertung“ resultiert dann ein entsprechendes Ergebnis. Auf mathematischer Ebene kann ein Ergebnis jederzeit zu der entsprechenden Rechnung mitgeliefert werden, so dass eine Errechnung vom Empfänger nicht mehr notwendig ist. Übersetzt man die Begriffe „Rechnung“ und „Ergebnis“ nun aus der Mathematik auf die lyrische Ebene, so treten die Unterschiede klar hervor: Eine Rechenaufgabe (im lyrischen Sinne) entspräche nun einem Gedicht und das Ergebnis der Wirkung, welche dieses Gedicht im Leser verursacht. Diese Wirkung kann, und das ist fundamental, niemals fertig mitgeliefert werden. Der Dichter schreibt also eine Rechnung, deren Ergebnis nur vom Lesenden selber berechnet werden kann. Dieses Ergebnis ist individuell an den entsprechenden Leser angepasst und liegt gleichsam in selbigem gefangen. Das bedeutet, dass dieses Ergebnis nicht weitervermittelt werden kann. Erinnern wir uns: Eine mathematische Aufgabe muss nur einmal berechnet werden, wobei dieses Ergebnis dann ohne Probleme an andere Personen weitergegeben werden kann. Im Umkehrschluss ist aber auch die Warte des Dichters sehr interessant. Was macht also ein Dichter? Er verwertet Ergebnisse, die man eigentlich nicht weitergeben kann, dergestalt, als das er Rechnungen schreibt, deren Lösungen eben diesen „Ursprungsergebnissen“ sehr nahe kommen. Ein „Ursprungsergebnis“ könnte beispielsweise ein Gefühl oder eine Stimmung sein, welche es zu verdichten gilt. Gefühle und Stimmungen sind also „Ergebnisse“, die einer „Rechnung“ bedürfen, um in gewissen Grenzen vermittelbar zu werden. Um es Faustformelartig zu konkretisieren: Rechnung = Gedicht, Addition = Lesen und Verarbeiten des Gedichtes, Ergebnis der Addition = Wirkung im Leser.