Archiv für die Kategorie 'Musik'

Mein neues Chalumeau

Donnerstag, 24. April 2008

Letzte Woche hatte ich mir ja bei Hahl Blockflöten (ehem. Adler-Heinrich) ein Chalumeau der Limited Edition bestellt. Ich wollte eigentlich schon lange eins haben, seit eine Freundin damals eines anschleppte. Aber ich kam erst letzte Woche nach der Session im B-Flat wieder drauf, als dort jemand ein Bambus-Sax auspackte. Heute morgen klingelte also endlich der Postbote an der Tür und ich konnte mein neues Instrument schlaftrunken in Empfang nehmen.

Wer nicht gerade ein Liebhaber Alter Musik ist, kennt das Chalumeau wohl nur als Orgel- oder Klarinettenregister, wenn überhaupt. Aber dieses hier ist ein eigenständiges Instrument, eine Art Urklarinette, die noch bis ins 17. Jahrhundert hinein in Gebrauch war und dann von der Klarinette abgelöst wurde. Zu spielen ist das Ganze wie eine Blockflöte und sieht auch so ähnlich aus, allerdings bläst man in ein Klarinettenmundstück (also ein einfach Rohrblatt) und der Klang ist, wenn man denn in einiger Übung steht, dem des Chalumeau-Registers der Klarinette in etwa gleich. Ebenso wie die Klarinette überbläst auch das Chalumeau in die Duodezime.

meine Olivenholz Chalumeau in C

Mein Chalumeau ist, wie auf dem obigen Bild erkenntlich, aus schön gemastertem Olivenholz und in C gestimmt, d.h. der tiefste Ton ist das eingestrichene c‘. Aber es gibt auch Exemplare in anderen Stimmungen. Ich konnte mich ja erst nicht entscheiden, ob ich mich eher vom hellen Olivenholz oder vom dunklen Palisander angezogen fühle. Natürlich wirkt ein dunkles Instrument klassischer und ruhiger, aber ich will ja keine Klassik darauf spielen, sondern etwas Portables zum Mont-Albane-Festival mitnehmen. Mein Bauch entschied sich also für Olive.

Nach dem Frühstück habe ich nun genüßlich mein Päckchen ausgepackt und erstmal etwas mit dem Mundstück und der Montage des Blättchens mit den Schraubzwinen zu tun gehabt. Nach rückversicherndem Studium einiger Abbildungen von Klarinettenmundstücken, habe ich aber auch das hinbekommen und gleich kühn versucht, einen Ton aus dem Chalumeau zu bekommen. Ich bin ja blutiger Anfänger, was Blasinstrumente anbetrifft und natürlich kam erst einmal nur warme Luft. Ich habe zwar diverse Blockflöten zu hause, auf denen ich auch schon „Alle meine Entchen“ gespielt habe, aber hey, so’n Rohrblatt ist dann doch noch mal etwas anderes.

Alles Rumprobieren, Lutschen, Nuckeln, Beißen und Pusten wollte keine rechten Ergebnisse liefern. Wie gut, dass es das Internet gibt, wo man dann auf irgendeiner Seite nochmal nachlesen kann, wie man so eine Klarinette eigentlich anbläst und spielt. Auf die-klarinetten.de wurde ich fündig: Unterlippe über die Zähne, Mundstück weit in den Mund schieben und drauf ablegen, mit den Schneidezähnen oben draufbeißen, Lippen rum und los! Quiiieeeck! Ui, ein Ton, aber was für einer – so klingt das aber gar nicht gut. Auch die Atemtechnik ist wichtig, heißt es auf meiner Referenzseite, die alsogleich vorschlägt, das Ganze mal im Stehen und mit ausreichend Zwerchfellatmung zu probieren.

Das ist natürlich leichter gesagt, als getan. Ich habe bestimmt eine Stunde rumprobiert, bis ich meiner Chalumeau das erste tiefe C entlocken konnte. Eine ganz schön sabberige Angelegenheit ist das. Aber meine ersten Erfolge mußte ich natürlich trotz wunder Unterlippe gleich akustisch festhalten. Dem Anlaß unseres nächsten Chor-Konzertes entsprechend, habe ich mir einen kleinen Ausschnitt aus den Catulli Carmina von Carl Orff in d-dorisch ausgesucht. Das ist aufgrund natürlicher Halbtöne erst einmal einfacher zu greifen.

[audio:chalumeau.mp3]

Na gut, na gut, nicht gleich weglaufen, ich geb’s zu, es ist noch ein Genuß für Wenige. Die Quarte ist zu tief, der Weg zur Tonika holprig und man hört mehr verpuffte Luft strömen, als echte Töne. Aber es ist schließlich noch kein Meister vom Himmel gefallen. Jetzt heißt es Üben! Ich verbrate derzeit noch immens viel Luft, was zu dem Nebenrauschen und natürlich schnell zur Ermüdung führt. Wer mir da ein paar Tipps geben kann, wird gern angehört. Gibt es eigentlich irgendwelche erfahrenen Klarinetten- oder Saxophonspieler unter meinen Lesern?

Werkeinführung: Beethoven ~ Christus am Ölberge | Szymanowski ~ Stabat Mater

Donnerstag, 13. März 2008

Am 11. April 2008 wird mein Chor, die Berliner Singakademie, sein drittes Abonnementkonzert in dieser Saison aufführen. Auf dem Programm stehen Ludwig van Beethovens „Christus am Ölberge“ und Karol Szymanowskis „Stabat Mater“. Das Ganze kommt ab 20:00 Uhr im Großen Saal des Konzerthauses Berlin (am Gendarmenmakrt) auf die Bühne. Unterstützung bekommen wir vom Konzerthausorchester und renommierten Solisten. Freunde, die Karten über mich bestellen möchten, bekommen 15% Rabatt auf die oberen drei Preiskategorien. Meldet euch einfach bei mir oder bestellt online! Aber nun zur Werkeinführung.

Werkeinführung

Als es im 19. Jahrhundert durch die Initiative Mendelssohns zur „Bach-Renaissance“ kam, gerieten die religiösen Oratorien des 18. Jahrhunderts langsam in Vergessenheit, und kaum jemand weiß heute noch, dass auch Ludwig van Beethoven, der uns in erster Linie durch seine Instrumentalwerke vertraut ist, ein solches Stück für Chor und Orchester komponiert hat. Obwohl die hohe Opuszahl einen späteren Entstehungszeitraum vermuten lässt, entstand Christus am Ölberge in der Zeit der Zweiten Sinfonie. Beide Stücke wurden am 5. April 1803 zusammen mit weiteren Werken im Theater an der Wien uraufgeführt.

Als während der Fastenzeit Opernaufführungen verboten waren, ließ Emanuel Schikaneder, der berühmte Direktor des genannten Wiener Theaters, publikumswirksame Konzerte aufführen. Beethovens Oratorium schien mit seinen vor der Passion Christi angesetzten Inhalten ein passender Ersatz. Gleichzeitig betrat Beethoven neues kompositorisches Terrain und konnte sich seinem Publikum erstmals mit einem Vokalwerk präsentieren. Trotz der Länge des Konzertabends, dem langwierige und anstrengende Proben vorausgegangen waren, wurde Christus am Ölberge von der Hörerschaft gut aufgenommen und zu einem der wenigen Erfolge, die dem Komponisten während seiner Lebzeit vergönnt waren. Die Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ) lobte das Oratorium als sensationellen Erfolg.

In seiner dunklen Tonart verweist die kontemplative Es-Moll-Einleitung bereits auf Fidelio, die einzige Oper Beethovens, die ebenfalls im Theater an der Wien uraufgeführt wurde. Musikalische Anklänge verweisen auch auf das Kompositionsstudium bei Antonio Salieri, erinnern an Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart oder Haydn. Das Textbuch stammt von Franz Xaver Huber, einem Wiener Schriftsteller, der sich als Librettist bereits einen Namen gemacht hatte. Beethoven war davon nicht vollständig überzeugt: In einem Brief schrieb er 1824, er wolle lieber Homer, Klopstock oder Schiller vertonen, die er wegen ihrer dramatischeren Sprache dem reflexiven Ton Hubers vorzog. Dennoch veränderte er 1811 zur Drucklegung keine Silbe des von innerer Reflexion und Geistlichkeit getragenen Textes.

Thematisch ebenfalls in Richtung der Passion weist Karol Szymanowskis Stabat Mater, eine Kantate aus sechs Sätzen, die Aushängeschild des individuellen und facettenreichen Stils des polnischen Komponisten ist und diesen über Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Viele heterogene Einflüsse verschmelzen hier zu einem Tableau, so greift Szymanowski auf den Gregorianischen Choral oder die Parallelorgana der Pariser Notre-Dame-Epoche zurück, orientiert sich an der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, aber auch den impressionistischen Klängen seiner Zeitgenossen Stravinsky und Ravel oder den rhythmischen Novitäten eines Alexander Skrjabin.

Besonders war Szymanowski aber um die Rolle der polnischen Musikkultur bemüht und suchte zeitlebens nach einem Nationalstil, während das Land erst 1918 überhaupt die Staatssouveränität erlangte. Bereits als Student schloss er sich der Berliner Gruppe „Junges Polen“ an, die sich als Konzertveranstalter und Herausgeber polnischer Kompositionen hervortat. Da er wegen einer Knieverletzung vom Kriegsdienst befreit war, lebte er während des Ersten Weltkrieges zurückgezogen auf dem ukrainischen Familiensitz, um sich fernab des Tumults seinen Kompositionen zu widmen.

Als das Grundstück aber während der russischen Revolution zerstört wurde, bekam auch er das menschliche Leid hautnah zu spüren, ein Leid, das auch aus seinem Stabat Mater bedrückend hervorschreit, in leisen Passagen unsicherer Angst oder gewaltigem Aufbrausen von Zorn und Verzweiflung. Anlass zu dieser ans Innerste rührenden Komposition hatte im Januar 1925 der Tod seiner Nichte gegeben, ein Jahr später liegt die Partitur vor, und 1929 kommt es in Warschau unter Grzegorz Fitelberg, einem Mitglied des „Jungen Polen“, zur umjubelten Uraufführung. Das franziskanische Gedicht um die Mater Dolorosa – Szymanowski legte eine polnische Variante zugrunde – wird zu einem überreligiösen Symbol der Trauer und Verzweiflung.

Am 11. April 2008 wird die Berliner Singakademie beide Werke gemeinsam mit dem Konzerthausorchester sowie Yoon Cho Cho (Sopran), Bogna Bartosz (Alt), Markus Schäfer (Tenor) und Mario Hoff (Bass) um 20:00 Uhr im Konzerthaus Berlin aufführen. Karten gibt es zwischen 8 und 25 € online auf http://berliner-singakademie.de (mit Lieferung nach hause) oder an Konzertkassen (mit selbst Rausgehen). Wir würden uns über Euren Besuch freuen.

Lebenszeichen mit Dodekakophonie und neuem Grundrecht

Mittwoch, 05. März 2008

Nachdem Leute nun schon anfangen, sinnfreie Kommentare unter meine Artikel zu posten, um auf ihre Heimseiten hinzuweisen, muß ich mal wieder ein Lebenszeichen von mir geben. Nein, ich bin nicht tot, ich hatte heute nur eine mündliche Prüfung und den letzten Monat mit der Vorbereitung verbracht. Das Gute daran ist, dass ich neue und spannende Themen für poetikrelevante Artikel gesammelt habe, die ich nun nach und nach hier veröffentlichen werde.

Ich habe zum Beispiel das Wort Kryptopolyphonie kennengelernt, dass außer in der Phonie nicht viel mit Dodekakophonie zu tun hat. Dodekakophonie ist allerdings eine Empfehlung, die ich hier schon lange aussprechen wollte. Der Berliner Entertainer Bodo Wartke erklärt auf sehr anhörliche Weise, was Dodekakophonie ist, um sie der Welt etwas näher zu bringen.

Auf Bodo Wartke haben mich die Berliner Clubnerds vom CCC aufmerksam gemacht, die sich über „PCdenzfall“ freuten. Aber es hat sich herausgestellt, dass Bodo Wartke mit seinen unkonventionellen Reimen und seinem Sprachwitz auch für Poetikbegeisterte durchaus unterhaltsam ist.

Ein anderer erfreulicher Fall, der bestimmt schon allen bekannt ist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Mittwoch, bei dem auch ein neues Grundrecht, getauft „Grundrecht auf digitale Intimsphäre„, formuliert wurde. Wir erinnern uns: Im vergangenen Oktober hatte Andreas ja ein Stelldichein mit den wachen Richtern vom Bundesverfassungsgericht, um als sachverständige Auskunftsperson über den sogenannten Bundestrojaner aufzuklären. Und während man bei den Expertenanhörungen im Bundestag immer geflissentlich ignoriert wird, nehmen einen die Bundesverfassungsrichter offenbar ernst. Sie erkannten jedenfalls, dass die Festplatte für nicht wenige Bürger heutzutage zu einem ausgelagerten Gehirn geworden ist und dass der Staat kein Recht hat, dort heimlich rumzuspionieren. Ich kann jetzt jedenfalls meinen Ordner „Bombenbauanleitungen“ wieder in Notizen umbenennen, weil ich es nicht mehr als meine Bürgerpflicht erachte, ihn BND-tauglich navigierbar zu gestalten.

Lai, Leich [poet. Formprinzip]

Sonntag, 27. Januar 2008

Gerade bereite ich mich auf eine Arbeit zu altfranzösischen Lais und eine mündliche Prüfung zu mittelhochdeutschen Leichen vor und habe deshalb den Kopf voller Ideen zu dieser unstrophischen, lyrischen Gattung. Aber jeder, dem ich davon erzähle, fragt erst einmal: „Leich, hä, was’n das?“ Dieser allgemeinen Unwissenheit soll hiermit Abhilfe herbeieilen.

1. allgemeine Einführung
1.1 Definition

„Die Bezeichnung lai/leich ist im Mittelalter ein Sammelbecken für monodische Werke in den Volkssprachen, die sich der Gleichstrophigkeit entziehen; Kontrapart bildet das Liedprinzip“, heißt es im MGG2 Artikel von Christoph März. Diese kurze Definition faßt die grundlegenden Prinzipien des poetischen Phänomens, das hier zur Disposition steht, ganz treffend zusammen, wie ich finde. Es gibt aber noch weitere Phänomene, die mit dem Begriff in Verbindung gebracht werden.

1.2 Lai-Arten

Dazu gehören zunächst die um 1160 von Marie de France verfaßten, märchenhaften Erzählungen in achsilbigen Reimpaarversen. Zu diesen ist keine Musik überliefert, Hinweise im Text und ein leeres Notensystem in einer der Quellen verweisen aber auf die Existenz von dazugehöriger Musik. Da Marie selbst sagt, sie hätte bretonische Vorlagen niedergeschrieben, wird diese Art des Lais auch lai breton genannt. Eine andere Bezeichnung ist lai narrativ. Ebenfalls in Richtung Bretagne und König Arthus weisen die strophischen Lais, die in diversen Romanen, allen voran dem Tristan en prose, als kurze Liedeinschübe den Helden der Geschichte in den Mund gelegt werden. Diese Lais sind metrisch und melodisch sehr einfach gebaut und man nennt sie lai arthurien. Die aufgrund ihrer Überlieferungslage für die Wissenschaft interessantesten Lais sind aber die lais lyriques, die im deutschsprachigen Raum auch leiche genannt werden. Sie nehmen als verhältnismäßig lange und komplexe lyrische Gattung schon im Repertoire der Troubadours, Trouvères und Minnesännger eine Sonderstellung ein und gelten wohl besonders im 13. Jahrhundert als Königsdisziplin der Lieddichtung.

Es gibt weitere Phänomene, die in dieser oder jener Quelle mit dem Begriff bedacht werden, die wichtigstens und häufigsten sind jedoch die drei oben genannten, allen voran das lyrische Lai.

1.3 Etymologie und Terminologie

Es gibt diverse Thesen zur Etymologie des Begriffs lai/leich, zum Beispiel von Ferdinand Wolf, Richard Baum oder Hermann Apfelböck, die den Begriff aus dem keltischen, germanischen, bretonischen oder lateinischen herleiten. Angeführt werden dabei das altirische loîd/laîd (Lied, 9.Jh.), das gotische laikan (springen, tanzen, bewegen), das althochdeutsche leih (Gesang, Melodie), das angelsächsische laic, lac (Gabe) und das mittellateinische laicus/laice. Obwohl beides nicht denselben Weg gegangen sein muß, vermischen einige dieser Thesen die Wort- und die Sachgeschichte miteinander. Weder über das eine, noch über das andere gibt es aber bisher einen wissenschaftlichen Konsens.

Denn als Gattungsbegriff taucht lai zuerst um 1140 in den Chansonniers der provenzalischen Troubadours auf. Darin tragen einige Stücke Titel wie „Lai Markiol“, „Lai non par“, etc. Im Norden Frankreichs findet sich der Begriff zuerst 1155 in Waces „Roman de Brut“. Marie de France rückt mit ihren 12 narrativen Lais den Begriff erstmals in bretonischen Kontext, in dem er in weiteren epischen Werken ab 1200 und 1210 auch in provenzalischen und mittelhochdeutschen Quellen zu finden ist. In diversen althochdeutschen Glossen findet sich der Begriff bereits ab dem 10. Jahrhundert im musikalischen Kontext, z.B. bei Notker („lied unde leicha“). Im deutschen Sprachraum lassen sich die frühesten Leiche um 1175 datieren.

1.4 Probleme bei der Definition

Die Definition des Begriffs ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Im Mittelalter werden unterschiedliche Phänomene lai genannt, die wiederum aber auch diverse andere Namen tragen können. Die Thesen zur Etymologie bringen nicht wirklich weiter und liefern allenfalls Spekulationen über das Ding an sich, das nicht zuletzt auch deshalb schwer zu fassen ist, weil es das Prinzip einer individuellen Formenphysiognomie verfolgt und darob ganz unterschiedliche Erscheinungen ausgebildet hat. Auch die Annäherung über ähnliche Formen, wie Sequenz, Planctus, Conductus, Descort, u.a. ist schwierig, weil diese ebenfalls nicht klar umrissen sind.

2. zeitlich-regionale Entwicklung
2.1 Lais als Volkspoesie

Bereits 1841 entwickelt Ferdinand Wolf die These, das Lai sei seinem Wesen nach eine Gattung der Volkspoesie und entwickle sich erst später zu einer höfischen Kunstform. Obwohl diese Behauptung aufgrund fraglicher Prämissen relativiert werden muß, stützt sie sich doch auf einige interessante Beobachtungen. Die (provenzalischen) Lais, welche heute als zur ältesten Schicht gehörig ausgemacht werden können, sind allesamt anonym überliefert. Sie weisen größtmögliche Formenvielfalt auf, sind weniger lang, dafür repetitiver und metrisch, wie melodisch einfacher gebaut als ihre mit Namen überlieferten provenzalischen und altfranzösischen Nachfolger. Erst im Verlaufe der Zeit entwickelt sich eine Tendenz zur Musterbildung heraus, bis das Lais im 14. Jahrhundert bei Guillaume de Machaut seine endgültige, normative Form erhält.

In eine ähnliche Richtung weist Bruno Stäblein mit seiner These zum descort. Der Begriff taucht im Provenzalischen irgendwann als Selbstbezeichnung in Stücken auf, die nach formalen und inhaltlichen Kriterien durchaus Lais sind und auch im selben Kontext überliefert werden. Stäblein behauptet, dies geschähe zur Abgrenzung der Troubadours-Kunst vom volkspoetischen Lais. Im altfranzösischen Sprachraum werden beide Begriffe aber synonym verwandt. Einziges distinktes Merkmal ist, dass Descorts inhaltlich ausschließlich um die „amour courtois“ kreisen (während Lais auch religiöse Topoi verfolgen) und in keinem Fall anonym überliefert sind.

2.2 Lais/Leiche vor 1300

Einen Konsens über die Entstehungsdaten einzelner Lais vor 1300 gibt es nicht, da diese größtenteils alle in denselben Quellen überliefert sind und man allein aufgrund kompositorischer Unterschiede keine handfesten Aussagen machen kann. Den Versuch einer Chronologie unternimmt David Fallows in seinem New Grove Artikel zum Lai, wobei er verschiedene Thesen der Lai-Forschung zusammenträgt. Es sind mehr altfranzösische Lais vor 1300 überliefert als provenzalische, was aufgrund der Quellenlage nicht verwundert. Es läßt sich feststellen, dass weniger Lais vor 1200 überliefert sind, die meisten aus der Zeit vor 1300 stammen und nach 1300 nur noch wenige komponiert werden.

2.3 Lais im Fauvel und bei Machaut

Zu diesen späten Beispielen gehören die vier französischen Lais im Roman de Fauvel, sowie die 19 Lais von Guillaume de Machaut. Im Register des Roman sind unter der Kategorie „proses et lays“ 27 Titel aufgeführt, davon drei französische und 24 lateinische Stücke. Aber das Register ist nicht nur an dieser Stellle fehlerhaft und so finden sich insgesamt 31 Stücke, die in diese Kategorie passen, von denen vier französische Lais sind; eines davon bezeichnet sich selbst als descort. Die restlichen Stücke sind lateinische Conductus oder Sequenzen („proses“), die dem Lai-Prinzip folgen, eines davon ist ein Kontrafakt des provenzalischen Lai Markiol. Die vier Lais gehören zum Modernsten, was der Roman musikalisch zu bieten hat und verweisen musikalisch bereits auf den Stil der Ars Nova, weshalb Leo Schrade Philippe de Vitry als Verfasser annimmt. Er glaubt, dass mindestens 3 der Stücke auch Guillaume de Machaut bekannt gewesen sein müssten, da sich direkte Einflüsse auf seine Lais nachweisen lassen. Während die Fauvel-Lais formal relativ flexibel bleiben, erhält die Gattung bei Machaut normativen Charakter und es kommt zur Ausbildung einer form fixe.

2.4 Kontinuität

Obwohl der Machaut-Schüler Eustache Deschamps in seiner Art de dictier (1392) beahuptet, Lais seien durchaus üblich, erscheint die Gattung im Roman de Fauvel und bei Machaut seltsam isoliert. Es ist fraglich, ob dies aufgrund einer schlechten Überlieferungslage zustande kommt oder weil das Lais einfach nicht zum üblichen Liedrepertoire der Zeit gehörte. Von keinem Zeitgenossen Machauts sind monodische Werke überliefert, allerdings ist auch kein Zeitgenosse so umfangreich überliefert wie Machaut. Die Melodien aus dem französischen Chansonrepertoire datieren nicht nach 1250 und so kommt es bis 1317, dem vermuteten Entstehungsjahr des musikalisch interpolierten Roman de Fauvel, zu einer Überlieferungslücke. Diese kann aber geschlossen werden, wenn man auf den deutschen Sprachraum ausweicht. Hier stammen zeitlich und stilistisch zwischenzuordnende Leiche von Hermann Damen und Heinrich von Meißen (Frauenlob). Aus der Zeit nach Machaut sind Lais nur noch aus dem Dichterzirkel um Eustache Deschamps, Christine de Pizan und Froissart überliefert. Diese sind allerdings nicht mehr musikalisch konzipiert, sondern rein literarisch. Somit steht Machaut mit seinen Lais in gewisser Hinsicht am Ende der Gattungsgeschichte.

3. poetische Form
3.1 allgemeine Prinzipien

Es gibt fast kein Lai, das dem anderen gleicht, jedes besticht durch individuelle Gestaltung und erschafft seine Regeln quasi aus sich selbst heraus. Das Gattungsprinzip, das sie alle miteinander verbindet ist die individuelle Formenphysiognomie, die in einem Verzicht auf Strophigkeit und sonstig regelhaft gesetzte Wiederkehr ihren Ausdruck findet. Jeder Vers ist unterschiedlich lang und verwendet andere Reimworte, kleinere Motive und Phrasen werden aber stetig wiederholt und variiert, bevor neues Material eingebunden wird, was zu einer oft komplexen, metrischen Binnenstruktur führt. Dies ist das zweite grundlegende Prinzip, welches in der Forschung mit „fortschreitende Repetition“ beschrieben wird. (Auch wenn es keine Strophen in dem Sinne gibt, handelt es sich formal um alles andere als „Prosa“. Größere Formabschnitte werden Versikel genannt.) Außerdem kommt es oft zur Verschleierung von Zäsuren und Kadenzen und zu Enjambements über die Versikelgrenzen hinaus. Die Enddifferenzierung in ouvert- und clos-Kadenzen, die Ausbildung paariger Komplexe (Doppelversikel), die Wiederaufnahme des Anfangs am Ende und die 12-„Strophigkeit“ werden im Verlaufe der Zeit formbestimmend. In den Melodien der Lais dominiert der G-Modus, während in den mhd. Leichen oft ein Terzengebäude über D oder F anzutreffen ist.

3.2 Verwandte Formen

Wegen dem doch etwas befremdlichen Prinzip der Unstrophigkeit ist das Lai immer wieder mit anderen Formen Verglichen und in generische Verbindung gebracht worden. Das ist zunächst der schon descort, von dem eigentlich ausgegangen wird, dass er unter das Lai zu subsummieren ist. Eine Identität wird auch zwischen dem frz. Lai und dem dt. Leich angenommen, obwohl der Begriff im dt. (vor 1210 bei Gottfried v. Straßbourg, der es aus dem frz. entnimmt) nie in Verbindung mit epischen und nur selten mit strophischen Werken steht.

Auch wurde immer wieder die Nähe zu lateinischen, unstrophischen Gattungen wie der Sequenz, dem Plactus und dem Condutus hingewiesen und in der Tat gibt es unter den frühen Lais einige Kontrafakturen, bzw. melodische Abhängigkeiten zu lateinischen Sequenzen und Plactus. Wobei hier nicht eindeutig ausgemacht werden kann, ob die volkssprachigen oder die lateinischen Stücke Vorlage waren. Bei Fauvel sind die lateinischen Strücke der Kategorie „proses et lays“ größtenteils Condutus. Allen gemeinsam ist der Verzicht auf regelhafte Wiederkehr metrisch-musikalischer Strukturen.

3.3 Beispiele

Ein durchaus kunstvolles Beispiel sind das erste und zweite Versikel des Lai des Hellequins „En ce douce temps d’esté“ aus dem Roman de Fauvel:

En ce douce temps d’esté, tout droit ou mois de may,
qu’amours met par pensé maint cuer en grant esmay,
firent les herlequines ce descort dous et gay.
Je, la Blanche Princesse, de cuer les em priai
et vous qu’em le faisant deîssent leur penser,
se c’est sens ou folie de faire tel essay
com de mettre son cuer en par amours amer.

Je, qui suis leur mestresse, avant le commencai
et en le faisant non de descort li donnay,
Quar selon la matere ce non si li est vrai.
Puis leur dis: „Mes pucelles, moult tres grant desir ai
qu’en fesant ce descort puissons tant bien parler
qu’on n’i truist que reprendre, que pour verité sai
que pluseurs le voudront et oir et chanter.“

I.) (Longa- Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:3:9)
A 6 | 6a
B 6 | 6a
A 7_ | 6a
B 7_ | 6a
C 6 | 6b
B‘ 7_ | 6a (Kadenz variiert)
C‘ 6 | 6b (gesamter clos variiert)
(das ganze wird 1x wiederholt)

II.) (Loga-Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:2:6)
A 6 | 6c
B 6 | 6c
C 7_ | 6d
C‘ 6 | 6d
A 6 | 6e
B 6 | 6e

Interessant ist an diesem Stück, dass die musikalische (Großbuchstaben) und die metrische Disposition nicht unmittelbar kongruent sind, was ungewöhnlich für die mittelalterliche Lieddichtung, nicht aber für das Lais selbst ist. Außerdem interessant ist der Umstand, dass hier mittels wörtlicher Rede eine Geschichte erzählt wird. Dies und auch die melodische Prosaik, sowie Länge des Lais lassen Zweifel an der reinen Lyrizität der Gattung aufkommen, die zwar von verschiedener Seite geäußert, aber nie eingehender untersucht wurden.

3.4 Das Lai als form fixe

Geschichtlich betrachtet ist das Lais alles andere als eine form fixe, es ist heterogen und sehr veränderlich. Allerdings strebt es mit zunehmender Entwicklung hin zu einer formalen Stabilisierung, die bei Guillaume de Machaut ihren Höhepunkt erreicht. Nur zwei seiner 19 Lais weisen eine andere Struktur, als die 1392 von seinem Guillaumes Schüler Eustache Deschamps beschriebene, auf. Die Norm lautet: 12 Teile von denen der erste und letzte in Form und Reim identisch sind, ohne dass sich Reimworte wiederholen, während die anderen 10 dahingehend individuell sind, doch jeder Teil muß vier Viertel haben. Bei Machaut wird mit dem letzten Versikel nicht nur die Form und der Reim, sondern auch die Musik des ersten Versikels wiederholt, diese erklingt jedoch für gewöhnlich eine Quarte oder Quinte höher oder tiefer.

Quellen

  • Christoph März: „Lai, Leich“, in: MGG2
  • David Fallows: „Lai“, in: New Grove2
  • Hans Tischler: „Die Lais im Roman de Fauvel“, in: Die Musikforschung, XXXIV/2 (1981), pp. 165, 169-171 (GfM)
  • Leo Schrade: „Guillaume de Machaut and the ‚Roman de Fauvel‘, in: Miscelánea en Homenaje a Monsenor Higinio Anglès, Barcelona: 1958-1961, vol.2, pp. 846-849

Einige Passagen dieses Artikels sind wortwörtlich in den Wikipedia-Artikel zum Lai (Fassung vom 13.09.08) übernommen worden, also nicht von mir geklaut, sondern von mir beigestiftet.

Die Geographie der Musik

Dienstag, 11. Dezember 2007

Auf dem Gymnasium habe ich in meiner Musikklasse einmal eine coole Sprechfuge gelernt. Da hieß es: „Der Popokateptl liegt nicht in Kanada, sondern in Mexiko“, und so weiter. Nun war Geographie nie meine Stärke und darum soll es in diesem Post eigentlich auch gar nicht gehen. Vielmehr möchte ich zwei wunderbare Musiklinks unter meinen Lesern verbreiten. Beide führen zu etwas, das man vielleicht am besten als Landkarte der Musik bezeichnen könnte.

Der erste Link, music-map.de, nennt sich auch so. Es ist ein Graph, der Musikgeschmäcker darstellt. Nach dem Motto, wenn sie gerne Johann Sebastian Bach hören, dann hören sie auch gerne mal Mozart (ja, ich weiß, xi, du nicht!), was ja an sich keine große Überraschung ist. Es ist aber sehr praktisch in Musikgebieten, in denen man weniger firm ist. Gestern lernte ich z.B. die mir zuvor unbekannte Band „Irie Révoltés“ kennen, deren Musik ich gleich mal youtubete und die mir spontan zusagte. Und zwar, weil mir auch die „Ohrbooten“ gefallen, eine Dub-Band, die ich mal vor x Jahren auf einer Lesung in X-Berg hörte. Natürlich habe ich mir auch den Spaß erlaubt, nach Guillaume de Machaut zu suchen, aber ich glaube, ich bin mit meinem Mega-Retro-Musikinteresse meiner Zeit mal wieder weit voraus.

Der zweite Link führt zum Electronic Music Guide, einem Stemma der Elektronischen Musik. Zu jedem Stil gibt es dort mehrere Soundsamples, in die man sich einhören und zu denen man sich ein Geschmacksurteil bilden kann. Außerdem werden „Verwandtschaften“ der Stile angezeigt, an denen man sich dann entlanghangeln kann, wenn man etwas gefunden hat, das dem Geschmack zusagt. So weiß man später, ob man tatsächlich auf einer Party erscheinen möchte, auf der „Hard Acid Trance“ als musikalische Untermalung angekündigt wird. Früher dachte ich ja immer, elektronische Musik wäre etwas für Torfköppe. Aber inzwischen weiß ich da zu differenzieren. Ebenso wie es in der Mittelaltermusik mehr als Gregorianik gibt, gibt es eben beim Techno auch mehr als Rave.

Werkeinführung: Johann Sebastian Bach ~ Weihnachtsoratorium

Freitag, 30. November 2007

Am 23.12.2007 führt mein Chor, die Berliner Singakademie, gemeinsam mit seinem Kinderchor, dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und vier wunderbaren Solisten (Geller, Markert, Petzold, Gottschick) im Großen Saal der Berliner Philharmonie das Weihnachtsoratorium (I-III, VI) von Johann Sebastian Bach auf. Wer das Konzert besuchen möchte oder noch darüber nachdenkt, kann sich hier als Apppetithäppchen meine kleine Werkeinführung durchlesen. Und wer noch ein Weihnachtsgeschenk für seine Liebsten sucht, könnte mit dem Besuch eines so traditionellen Konzertes am Tag vor Heilig Abend vielleicht genau ins Schwarze treffen. Die Karten kann man bequem online bestellen (und sollte das tun, solange noch gute Plätze vorhanden sind).


Berliner Singakademie vor dem Konzerthaus Berlin
am Gendarmenmarkt

Werkeinführung

Kein anderes Werk gehört so sehr zu Weihnachten, wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach und kein zweites Werk Bachs erlangte solche Popularität wie dieses. “WO” nennen es Insider schlicht, und es ist eines von drei Bachschen Werken, denen der Komponist den Titel “Oratorium” zugedacht hat.

Dabei handelt es sich eigentlich um einen Kantaten-Zyklus, dessen sechs Teile an den damals drei Weihnachtsfeiertagen, dem Neujahrsfest, dem Sonntag nach Neujahr und dem Epiphaniasfest aufgeführt wurden. Durch seine Bildungsreise in den Norden ist Bach schon 1705 mit ähnlich groß angelegten musikalischen Formen in Berührung gekommen. Für die Weihnachtsfeierlichkeiten der Leipziger Hauptkirchen St. Nicolai und St. Thomae zur Jahreswende 1734/35 komponierte er nun selbst eine solche Großform.

Die sechs Teile sind in sich geschlossen, was nicht nur durch den Textzusammenhang, sondern auch durch die musikalische Anlage deutlich wird. Als Jubelton spannt D-Dur den tonartlichen Bogen über das gesamte Werk. Es eröffnet im ersten Teil, kulminiert im dritten und kehrt in Teil sechs schließlich zur Grundtonart zurück. Die übrigen Kantaten sind von verwandten Tonarten geprägt. Die Subdoninante G-Dur ist charkateristisch für den pastoralen Inhalt des zweiten Teils. Im vierten erzeugt die Parallele der Mollvariante, F-Dur, eine gefällige Ruhe und A-Dur, die Dominante ist Ausdruck von Zufriedenheit im fünften Teil.

Insgesamt versprühen die sechs Kantaten mit ihren Dur-Tonarten eine anhaltende Jubelstimmung, ein Umstand, der möglicherweise auch dem weltlichen Ursprung einzelner, beinhalteter Stücke geschuldet ist. Bach komponierte nämlich nicht das gesamte Material für sein Weihnachtsoratorium neu. Ein Großteil der Arien und nicht-choralgebundenen Chöre entstammt zwei Huldigungskantaten für das sächsische Herrscherhaus, die schon 1733 entstanden sind und ihrerseits wiederum auf früheres Material zurückgreifen. Bach übernimmt die Musik, arbeitet sie leicht um und unterlegt sie mit einem neuen Text. Aus “Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten” (BWV 214) wird “Jauchzet, frohlocket”, der imposante Eingangschor des Oratoriums, bei dem noch immer zuerst die Pauken, dann die Trompeten einsetzen.

Parodie nennt man dieses Verfahren und es entsprach der gängigen Praxis des Barockzeitalters. Der romantischen Vorstellung von der Einmaligkeit des einen vollkommenen Originals entsprach es jedoch nicht und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Weihnachtsoratorium deshalb als imperfekt stigmatisiert. Generationen von Musikwissenschaftlern verwandten ihre Fähigkeiten darauf, Rechtfertigungen für seine Beliebtheit zu formulieren. Dabei geht es in der barocken Affektenlehre nicht um eine musikalische Ausformung sprachlicher Begrifflichkeit, sondern um die Vermittlung überbegrifflicher Emotionen, eben Affekte und dahingehend kann die Freude beim Anblick des Jesus-Kindleins durchaus der Freude beim Lobpreis am Herrschersohn entsprechen. Dem barocken Anspruch eines aufeinander abgestimmten Wort-Ton-Verhältnisses wird das Weihnachtsoratorium also allemal gerecht. Es als Recycling-Produkt abzuwerten oder gar zu verschmähen wäre verkehrt, zumal es durchaus innovative Neukompositionen bietet.

Sämtliche Rezitative und Choräle sind exklusiv für das Weihnachtsoratorium geschaffen worden, ebenso die Sinfonia zu Beginn des zweiten Teils mit ihren Geigen, Flöten und Schalmaien. Neu komponiert wurde auch die Sopran-Arie “Schließe, mein Herze” als Zentrum der dritten Kantate und des gesamten Zyklus, obwohl Bach zunächst auch dort über eine Parodie nachdachte. Einen fast fertigen Satz in seiner Lieblingstonart h-Moll verwarf er, bevor die endgültige Fassung entstand. Einzigartig in Bachs Gesamtwerk bleibt das Duett aus Bass-Rezitativ und der Choralweise “Jesu, du mein liebstes Leben” im Sopran, das den Rahmen für die “Echo-Arie”, das geistige Zentrum der F-Dur-Kantate bildet.

Jede der sechs Kantaten hat ihr eigenes musikalisches Zentrum und folgt einer eigenen Binnenstruktur, was die Aufführung an verschiedenen Feiertagen ermöglichte. Betont wird dabei oft die pietistische Anlage der einzelnen Teile, die mit der Folge Evangelist, frei gedichtetes Rezitativ, Arie und Choral der Vorstellung der Bibellektüre von Lesung, Betrachtung, Gebet und Amen der Gemeinde entspräche. In seiner Reinform trifft dies aber nur auf die erste Kantate wirklich zu. Das Pietistische liegt vielmehr in den theatralisch, bildreichen Choralstrophen, die Bach vom Textdichter Paul Gerhardt übernahm.

Nur einmal wurde das Weihnachtsoratorium zu Bachs Lebzeiten aufgeführt. Erst 1857 brachte die Singe-Academie zu Berlin, die auch im Besitz des Autographen war, das Werk wieder auf die Bühne. So konnte es schließlich seinen Siegeszug antreten. Heute wird das WO selten auf verschiedene Feiertage verteilt aufgeführt, eher finden sich Teilaufführungen der Kantaten I-III und IV-VI. Die Berliner Singakademie wird am 23.12.2007 in der Philharmonie Berlin die Kantaten 1-3 und 6 aufführen. Unterstützt wird sie dabei vom Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und ihrem hauseigenen Kinder- und Jugendchor, sowie den Solisten Brigitte Geller (Sopran), Anette Markert (Alt), Martin Petzold (Tenor) und Jörg Gottschick (Bass). Die Leitung übernimmt Achim Zimmermann. Sichern Sie sich rechtzeitig Ihre Karten und lassen Sie Sich und ihre Liebsten mit Bachschen Jubelchören, Arien und Rezitativen gebührend von uns auf die Weihnacht einstimmten.

Alte Musik online

Dienstag, 06. November 2007

Es ist ja immer ein bisschen schwierig mit der alten Musik. Wenn Konzerte unter diesem Titel angesagt sind, dann spielt das meistens auf die historische Aufführungspraxis und nicht etwa das Alter der aufgeführten Komponisten an, so dass man dann doch wieder nur Händel und Haydn zu hören bekommt. Dass ich an der Uni in diesem Semester einen Kurs zur Musiktheorie der klassischen Antike mache, ist dann doch eher die absolute Ausnahme, denn für gewöhnlich fängt Musikgeschichte auch an unserem Insitut erst mit Bach an. Da muß man sich dann als Freund der Mittelaltermusik weitestgehend autark orientieren, was zum Glück zunehmend einfacher wird. Denn inzwischen finden sich auch im Internet einige Anlaufstellen für alte Musik. Nachdem ja in dem deutschsprachigen Mittelalterportal, Mediaevum, die Musikwissenschft eher stiefmütterlich vertreten ist, ist es erfreulich, dass man sich trotzdem langsam seine Adressen zusammensammelt.

Da ist z.B. das niederländische Webradio Conzertzender das live-streams anbietet und auch eine Sparte „oude muziek“ hat. (Einfach auf das türkis-farbene Feld klicken und reinhören!) Außerdem habe ich mich gestern auf der Seite des Digital Image Archive of Medieval Music angemeldet, bei dem auch auch als Nichtakademiker nach Anmeldung freien Zugang zu eingescannten Faksimiles mittelalterlicher Musikmanuskripte erhält. Die Seite wird von Margaret Bent initiiert, ist also in guten wissenschaftlichen Händen. Regelmäßig findet man mich natürlich in der Medieval Music Database der La Trobe University. Wenn ich mich über ein bestimmtes Manuskript, einen Komponisten oder ein spezielles Stück informieren möchte, gucke ich zuerst dort nach Editionen, Literatur, Texten, etc. Leider liegt das Projekt seit Februar 2004 brach und wird nicht mehr weiter upgedated, was wirklich äußerst schade ist. Trotzdem ist das Ganze noch immer eine empfehlenswerte Quelle. Auf der Seite der Medieval Music & Arts Foundation finden sich hingegen spannende Fachtexte, die auch als Einstieg gut geeignet sind. Weiter in die Materie dringende Aufsätze kann man dann bei Jstor – The Scholary Journal Archive finden. Dort kann man die gefundenen Artikel dann auch herunterladen und lesen, vorausgesetzt man surft über ein Netzwerk, das dort registriert ist, z.B. das der FU.

Wer mehr Links auf interessante Seiten zur Mittelaltermusik, zur Paläographie, Kodikologie oder sonstiger mediaevistischer Studien für mich hat, der scheue sich nicht, sie hier zu posten. Ich bin ein dankbarer Abnehmer solcher Infos.

Create your own remixes

Mittwoch, 10. Oktober 2007

Eigentlich steh ich ja nicht auf diese Web 2.0 (beta)-Klatschen mit obligatorisch fehlendem E in der Endung. Aber wenn der Zufall es will, dass auf solchen Seiten dann doch mal interessante Inhalte zu finden sind, dann möchte ich das ungern verschweigen. Die Rede ist von einem MediaDefendr-Tutorial, in dem es um das Remixen von Musiktiteln geht. Das Schöne daran ist, dass das Ganze anhand des Audioeditors „Audacity“ erklärt wird, den jeder frei im Netz herunterladen kann. So kann man sich auch als Laie, ohne größeren Aufwand einfach mal ausprobieren.

Während meines Radioprojektes an der Uni habe ich kurze Zeit mit Audacity gearbeitet, das an sich viele schöne Bearbeitungstools mitbringt. Aber damals war es mir zu anstrengend, mich da intensiver hineinzufriemeln und weil ich mit einer anderen Software schon mehr Erfahrungen hatte, stieg ich wieder darauf um. Das MediaDefendr-Tutorial bietet aber einen guten Überblick über die Funktionen von Audacity und erleichtert so den Einstieg in die Arbeit mit dem Programm. Natürlich wird man dadurch nicht gleich zum High-End-Remixer, aber wer sich einfach mal auf dem Gebiet der Audio-Arbeit ausprobieren möchte, der wird hiermit seine Freude haben. MediaDefendr bietet auf seiner Seite auch diverse Samples zum freien Download an.

Gemeinschaftskonzert: Guiseppe Verdi ~ Requiem

Freitag, 05. Oktober 2007

Das Verdi-Requiem zählt ja neben dem von Mozart und dem von Britten zu den drei musikgeschichtlich zentralen Werken dieser Gattung. Die Berliner Singakademie und der Philharmonische Chor Berlin werden es am So, 07.10.07, um 16:00 Uhr (!) in der Berliner Philharmonie mit dem Berliner Sinfonieorchester unter Jörg-Peter Weigle in einem Gemeinschaftskonzert aufführen. Ich habe es diesmal leider nicht geschafft, wie sonst, eine Konzerteinführung zu schreiben, weil ich unitechnisch den Kopf gerade nicht frei kriege. Aber es gibt einen Artikel auf der wikipedia, der einen ganz guten Überblick liefert. Außerdem kann man sich zur Einstimmung schon einmal den Videomitschnitt von der sehr gelungenen Aufführung mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abado 2001 ansehen. Das sind ganze neun Teile (ich verweise auf den ersten) und die Soundqualität ist wegen des Formats nicht gerade überwältigend zu nennen. Aber für den Ohrenschmaus kann man ja auch am Sonntag in die Philharmonie kommen und sich das live angucken. Die Proben mit dem Philharmonischen Chor und seinem Direktor haben jedenfalls großen Spaß gemacht und meine eigene Vorfreude auf das Konzert nur noch gesteigert. Es wird bestimmt ein grandioses Erlebnis und eine hörenswerte Aufführung.

Seminararbeit: Musica son

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Musica son. Betrachtung eines Madrigals des italienischen Trecento-Komponisten Francesco Landini und seines historischen Kontextes, Freie Universität Berlin, Mar. 2004
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400” der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Propositio

« Musik um 1400 » ist der Titel des Proseminars Probleme und Methoden der Musikwissenschaft in diesem Semester. Dass das Thema in diesem Zusammenhang besprochen wird, lässt zu mindest vermuten, dass die Zeit um 1400 und der Diskurs darüber für den Musikwissenschaftler eine gewisse Herausforderung darstellen.

Thematisiert wurden vor allem Aspekte französischer Musik der Ars Nova und Ars Subtilior, deren Formen, deren Komponisten, deren Quellen und deren Kontroversen. Für mich stellte es in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, durch ein Referat in die italienische Musikkultur der Ars Nova einzuführen. Ich versuchte dieser Aufgabe durch die Analyse des Madrigals « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » gerecht zu werden.

In meiner Hausarbeit soll es nun darum gehen, diese Analyse und einige weitere, im Referat aufgeworfene Themen zu komplettieren und zu verschriftlichen. Dabei soll, neben der ausführlichen Formanalyse, auch das Verhältnis von Landinis Musik zum italienischen bzw. französischen Stil betrachtet werden.

In einer kurzen Einführung, « Landini und das Trecento », werde ich die kulturellen Grundlagen des italienischen Stils und einige Begebenheiten aus Francescos Biographie besprechen. Dem folgt die Analyse des Madrigals, bei der ich, vom Allgemeinen ausgehend, zu den speziellen Betrachtungen kommen werde. Dabei soll zunächst der Text, dann die Musik betrachtet werden. Eine selbst erarbeitete Statistik wird die Darstellung harmonischer Begebenheiten unterstützen.

Zum Ende meiner Ausführungen will ich mit wenigen Worten das Thema « Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87 » anreißen. Jedoch soll dieses nicht ausgeweitet werden, sondern lediglich die in der Analyse besprochenen Argumente unterstützen.

Die Hauptquellen, auf die sich meine Argumente stützen, werden innerhalb der Tractatio genannt werden. Eine ausführliche Quellenangabe findet sich zusammen mit diversen Noten, dem Gedichttext mit Übersetzung und einer Tabelle im Anhang meiner Arbeit.

2. Tractatio
2.1 Landini und das Trecento

Die Zeit des Trecento, außerhalb Deutschlands als italienische Ars Nova bezeichnet, war eine Zeit politischer Wirren. Zahlreiche Kämpfe zwischen kaiserlichen und freien Städten Italiens und zwischen Kaiserreich und Frankenreich auf italienischem Boden brachten wechselnde Bündnisse, Siege und Niederlagen gleichermaßen. Der Verfall der Stauferherrschaft nach dem Tod Friedrichs II. (1250) und die Regentschaft der französischen Päpste in Avignon (1305 – 1387) griffen das Vertrauen in die „alte Ordnung“ stark an.

Das Trecento war die Zeit der großen Hungersnöte und schrecklichen Pestepidemien (1348/49 & 1361/62), die das Volk zu Tausenden dahinrafften. Und dennoch entwickelte sich gerade in dieser Zeit eine eigenständige und reiche italienische Kultur.

Diese Entwicklung stand sicherlich in engem Zusammenhang mit dem italienischen Städtetum, dem florierenden Handel, der Ausbildung politischer und kultureller Zentren im Norden und der Mitte Italiens und natürlich der Existenz wohlhabender Förderer italienischer Kunst. Die Namen der Familien Visconti in Mailand, Scaliger in Padua und später der Medici in Florenz sind bis heute bekannt.

Auch in Italien war die Kunst ein Privileg der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, hauptsächlich des gehobenen Bürgertums der freien Handelsstädte und klerischer Kreise.

Voraussetzung für die kulturelle Blüte war die Entwicklung einer eigenständigen, italienischen Literatursprache durch die sizilianisch-toskanische Dichterschule unter Dante Alighieri, der auch die Dichter Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio angehörten. Sie bildeten in ihrer Lyrik den sog. dolce stile nuovo aus, der bald starken Einfluss auf die zeitgenössischen Komponisten ausübte. Es kam so zur Kultivierung neuer Formen der Lied- und Dichtkunst, wie der Canzona, dem Madrigal, der Ballata und der Caccia.

In der Musik, herrschten ein- und zweistimmige Kompositionen ohne liturgischen Tenor vor. Isorhythmie und Diminutionstechniken, wie sie die französische Motette pflegte, fanden wenig Anwendung. Kultiviert wurden eher kanonische Techniken, besonders in der Caccia. Bezeichnend für den italienischen Stil ist heute vor allem die enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik, die sog. poesia per musica. Die Struktur der Liedsätze ist unmittelbar vom Vers geprägt.

Das Trecento entwickelte sogar eine eigenständige Notation, ein Divisionssystem nach Petrus de Cruce. Doch alles in allem blieb der italienische Stil in der Folgezeit nicht frei von französischen Einflüssen.

Francesco Landini oder Franciscus Landino, von mir im Folgenden als Francesco bezeichnet, ist ein Komponist der „zweiten Generation“. Aus musikalischen Quellen ist er uns als Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia, Francesco degli Orghani oder Coechus de Florentia bekannt. All diese Bezeichnungen beziehen sich entweder auf seine Heimat Florenz, seine Erblindung oder seinen Beruf als Organist. Die Verbindung mit der Familie Landini kann erst durch die Verwendung des Landini-Wappens auf Francescos Grabstein und durch die Schriften seines Großneffen Christoforo Landino, in denen er Erwähnung findet, hergestellt werden.

Geboren um 1325 oder 1335 in Fiesole oder Florenz (weder Geburtsjahr, noch -ort sind urkundlich belegt) wendet sich Francesco früh der Musik zu. Aus Villanis Chronik « Liber de originis civitatis Florentiae et eiusdem famosis civibus » wissen wir, dass er als Kind durch eine Pockenerkrankung erblindet ist. Diese Erblindung hält ihn jedoch schon zu Lebzeiten nicht davon ab, als Meister der Improvisation, besonders auf der Orgel gerühmt zu werden.

1361 wird Francesco Organist im Kloster Santa Trinità in Florenz, 1365 Capellanuns an der Kirche San Lorenzo ebendort. Aus dieser Zeit sind uns zahlreiche Quellenbelege überliefert, die uns Auskunft über Francescos Leben und Wirken in Florenz geben.

Auch in der Literatur seiner Zeit taucht Francesco auf. In Giovanni da Pratos Ramanza « Il paradiso degli Alberti » wird von Zusammenkünften im Landhaus der Florentiner Bankiersfamilie Alberti berichtet, bei denen er sich geistreich an gelehrten und politischen Diskussionen beteiligt.

Am 2. September 1397 stirbt Francesco in Florenz. Er wird am 4. September in der Kirche San Lorenzo beigesetzt.

Uns sind 154 Werke des Komponisten aus verschiedenen Quellen überliefert: Ballaten, Caccias, Madrigale, Motetten und ein französisches Virelai. Die erhaltenen Werke machen etwa ein Viertel des gesamten überlieferten weltlichen Trecento-Repertoires aus. Die breite und zahlreiche Überlieferung seiner Werke, besonders in norditalienischen Quellen, spricht deutlich für deren damalige Beliebtheit.

2.2 « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli »
2.2.1 Der Text

Francescos dreistimmige Komposition « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den einschlägigen Quellen, diversen Lexika, sowie musikwissenschaftlichen Texten als Madrigal anerkannt.

Das Madrigal, marigale, wie es in Venedig oder madriale, wie es in der Toskana genannt wird, ist in seinen Ursprüngen eine von Petrarca, weniger von Dante gepflegte und kultivierte poetische Gattung. Etymologisch stammt das Wort vermutlich von [lat.] „matricalis“, was soviel bedeutet wie „von der Mutter her, in der Muttersprache“. Es handelt sich beim Madrigal um ein muttersprachliches, also italienisches Gedicht.

Formell besteht es aus einer beliebigen Anzahl an Terzetti (Strophen à drei Verse). Jeder Vers eines Terzetts besteht aus sieben oder elf Silben und weist den gleichen Endreim auf (Schema a-a-a). Jedem Terzett kann ein ein- oder zweiversiges Ritornell folgen, das einen anderen Endreim bringt (Schema b-[b]).

Petrarca behandelt im Madrigal noch vorrangig pastorale Themen. Die arkadischen Inhalte weichen jedoch mit der Zeit zunehmend autobiographischen, symbolischen, moralischen oder politischen Topoi.

Der Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » (Anhang B) stammt vermutlich von Francesco selbst. Es gibt jedoch auch Überlegungen, die Zweifel an seiner Autorschaft aufkommen lassen und aufgrund mangelnder Beweise kann ihre Authentizität nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Im Aufbau folgt der Text den Konventionen der Madrigalform. « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » besteht aus drei Strophen à einem Terzett, jeweils mit zweiversigem Ritornell. Zählt man die Silben, wobei man die zahlreichen Elisionen beachten muss, wird man feststellen, dass jeder Vers mit elf Silben bestückt ist. Einzig die Endreime des ersten und letzten Terzetts weichen vom traditionellen Reimschema ab.

In musikwissenschaftlichen Textbesprechungen wird immer wieder auf den „autobiographischen“ Inhalt des Madrigals hingewiesen. Der Terminus „autobiographisch“ ist jedoch sehr ungenau. Der Text kommuniziert einen kritisch-moralischen Inhalt auf metatextueller Ebene. Frau Musika beklagt sich über die Verderbtheit des Publikums, der „cavalieri, baroni e gran signori“ und über das mangelnde Bestreben der Künstler nach Perfektion, „tendo ogun le sue autenticitate“. Es finden sich sogar performative Sprachelemente, wie „inarrar musical note“. Dies hat wohl zu der weit verbreiteten Annahme geführt, es handle sich um einen autobiographischen Text.

Mit seinem kritischen Inhalt steht der Text in engem kulturellen Zusammenhang mit Themen, wie sie in den Rahmenhandlungen des « Decameron » oder in « Il paradiso degli Alberti » besprochen werden und kann deshalb als besonders repräsentativ gelten.

2.2.2 Die Musik

Im frühen Trecento entwickelt sich das Madrigal, später von der Ballata abgelöst, zur häufigsten Liedgattung. Seine musikalische Struktur ist ganz der italienischen Tradition der poesia per musica verpflichtet, d.h. vom Text geprägt. Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B, der in deutlicher Abgrenzung zu A meist in einer anderen Mensur steht. Die Verse werden derart vertont, dass es auf jeder ersten und vorletzten Silbe zu ausgedehnten Melismen kommt. Interpunktiert wird in der Regel am Versende auf reinen Konsonanzen.

Es gibt sowohl zweistimmige, als auch dreistimmige Kompositionen. Der Tenor erklingt meist eine Quarte oder Quinte unter dem Superior. Er hat begleitenden Charakter und ist im Unterschied zum französischen Stil textiert. Der Superior weist kürzere Notenwerte, einen lebhafteren und primären Charakter auf. Die Ambitus beider Stimmen haben vornehmlich den Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde. In einer zweistimmigen Komposition verlaufen diese beiden Stimmen kreuzungsfrei.

Eine dreistimmige Komposition entsteht aus der Ergänzung der Zweistimmigkeit durch eine dritte Stimme, den Contratenor. Dieser kann verschiedene Funktionen übernehmen. Er kann im Charakter sowohl einem zweiten Superior entsprechen, als auch eine ruhigere Mittelstimme sein oder aber als Fundament fungieren, ähnlich wie ein zweiter Tenor. Danach, welche Funktion der Contratenor übernimmt, unterscheiden sich die Arten des dreistimmigen Madrigals.

Vom italienischen Stil wird oft berichtet, er mute wie eine Improvisation an. Die freie Wahl von Kadenztönen, der ungebundene Umgang mit der Vertonung von Elisionen und relativ häufig auftretende offene Unisono-, Quint- oder Oktavparallelen begründen wohl dieses Empfinden.

Der repräsentative Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » und sein kritischer Inhalt evozieren bereits große Erwartungen an deren musikalische Umsetzung. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität von Francescos Komposition kann die Textabsicht souverän transportieren. Dass sie der Wertschätzung anderer Künstler gerecht wird, bezeugt die breite Überlieferung in mindestens fünf verschiedenen Quellen.

Schon die Dreistimmigkeit des Tripelmadrigals zeugt von hohem musikalischem Anspruch. Der Text der drei Strophen erklingt simultan in allen drei Stimmen, so dass es während des Vortrags zu einer besonderen Mehrtextigkeit kommt. Das ist ungewöhnlich.

In der Tradition der Madrigalform splittet sich das Musikstück in erwarteter Weise auf: Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B. Während Teil A eine imperfekte Mensur aufweist, wird in Teil B durch die Punktierung der ersten Longa (Anhang C3) eine Dreizeitigkeit erzeugt. In Ms. Mediceo-Palatino 87 hat der Kopist darüber hinaus ein Mensurzeichen gesetzt, das Dreizeitigkeit anzeigt.

Initialklang und Schlusskadenz des A-Teils werden von vollkommenen Konsonanzen gebildet. Am Anfang des B-Teils steht ein vollständiger Dreiklang mit großer Terz. Der Dreiklang ist aus England bekannt. Dass er hier einen Initialklang bildet, kann wohl als besonders gelten. In der finalen Kadenz enden die drei Stimmen in einem Unisono.

Der Tenor bildet als tiefste Stimme das Fundament der Komposition. Er verläuft ruhiger als der Superior und hat begleitenden Charakter. Der Superior ist bewegter, hat kürzere Notenwerte und zeugt von größerer rhythmischer Vielfalt. Der Contratenor wird als zweiter Superior gebraucht.

Contratenor und Superior sind sich also rhythmisch und melodisch sehr ähnlich. Häufig umspielen und kreuzen sie einander, ahmen einander nach. Bei der Nachahmung handelt es sich jedoch nicht um eine Kanontechnik, wie man sie in der Caccia antrifft, sondern eher um eine freie und bruchstückhafte Imitation kürzerer Floskeln. Auffällig treten diese Imitationen in den Takten 20-22, sowie 29-30 (Anhang C1) zwischen Superior und Contratenor in Erscheinung. Im B-Teil findet sich eine Imitation zwischen Superior und Tenor in den Takten 76-77. In Anhang C1 habe ich diese Stellen braun gekennzeichnet. Marginalere Imitationen unter den Stimmen lassen sich auf Floskelbildung zurückführen, auf die ich später noch ausführlich kommen werde.

Der Tenor mit genauem Ambitus einer Oktave berührt den Contratenor relativ häufig. In den Takten 43 und 76 kommt es zur Kreuzung zwischen beiden Stimmen. Den eine Quinte höher gelegenen Superior berührt der Tenor weniger oft. Es kommt nicht zur Stimmkreuzung. Einzige und sehr interessante Ausnahme bildet hier Takt 56 (Anhang C2), in dem der Tenor kurz vor Ende des A-Teils mit einer großen Geste zur höchsten Stimme aufsteigt.

Zwar haben Superior und Contratenor den gleichen Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde, die Ambitus sind im selben Stimmraum gelegen und die beiden Stimmen sind sich auch sonst sehr ähnlich. Da aber der Tenor öfter mit dem Contratenor als mit dem Superior in Berührung kommt, kann man daraus erkennen, dass der Contratenor durchschnittlich tiefer gelegen ist und sich meist zwischen Tenor und Superior ansiedelt.

Die im italienischen Stil übliche Textvertonung mit Melismen auf der ersten und vorletzten Silbe jedes Verses befolgt Francesco zwar, jedoch nicht äußerst streng. Auf vorletzter Silbe finden sich besagte Melismen, in Anhang C1 grün markiert, immer. Die Melismen auf der ersten Silbe, in Anhang C1 orange markiert, werden innerhalb des Stücks, besonders im B-Teil, z.T. übergangen.

Eine interessante Folge der Mehrtextigkeit des Stücks ist die lineare Klauselbildung. Die drei Stimmen, die den Text simultan vortragen, erreichen die Versenden, die ich in C1 blau markiert habe, zu unterschiedlicher Zeit. So kommt es, dass jede Stimme einzeln und für sich interpunktiert, wobei ich in dem Fall von den simultanen Kadenzen der Initial- und Finalklänge absehe.

Die Klauseln auf den Tönen d bzw. a, auf e in Takt 18 und cis in T. 75 zeugen von einem harmonischen Konzept. Von freier Wahl der Kadenztöne kann hier freilich nicht die Rede sein. Die Ambitus, sowie die Stimmräume der einzelnen Stimmen lassen eine klare Organisation der Kadenzbildung innerhalb des dorischen Modus erkennen.

Die Versenden und –anfänge sind jeweils durch Longapausen voneinander getrennt. Einzige Ausnahme bilden die Takte 37-38 im Tenor, wo Versende und –anfang durch ein untextiertes Zwischenspiel aneinander gebunden werden. Ein weiteres Zwischenspiel dieser Art findet sich in den Takten 21-24 im Tenor. Hier folgen jedoch vor Beginn des nächsten Verses die zwei Longapausen. Dass es untextierte Zwischenspiele gibt, stützt die Vermutung, dass die Stimmen während des Vortrags instrumental begleitet wurden.

Die in der französischen Motette so häufig angewandte Isorhythmie findet sich in diesem italienischen Lied nicht. Auch längere Synkopenketten, wie sie in Ars Subtilior-Kompositionen gepflegt wurden, sind hier nicht vorhanden. Der Rhythmus dieser Komposition ist eher von einer markanten rhythmischen Formel, ss saas v, geprägt (wobei s eine Sechzehntelnote, a eine Achtelnote und v eine Viertelnote repräsentiert). Diese Formel nimmt, da sie in linearer Abfolge oder mit mindestens einem Wendepunkt in ähnlicher Art immer wieder auftaucht, den Status einer Floskel ein. Sie findet sich in den Takten 6, 39, 69, 77 und 80 im Superior, in den Takten 2, 10, 11, 35, 46 und 49 im Contratenor und in Takt 76 in bedeutender imitatorischer Anwendung im Tenor.

Insgesamt werden die in der Ars Nova üblichen Notenwerte, Longa, Brevis, Semibrevis und Minima verwendet. Triolen oder andere kleinste Divisiones des „Brevis-Taktes“, wie sie in den Kompositionen der „ersten Generation“ üblich sind, bringt Francesco nicht. Das vorhandene rhythmische Material wird jedoch in verschiedenen Kombinationen ausgeschöpft, wobei meist sanfte Übergänge zwischen den Polwerten Longa und Minima gemacht werden.

In Teil A kommt es zwischendurch immer wieder zu beinahe homophonen Ruhepunkten, besonders auffällig zu beobachten in den Takten 3 und 23. Solche Ruhepunkte fehlen in Teil B völlig. Insgesamt lässt sich sagen, dass Teil B sowohl rhythmisch, als auch melodisch und in logischer Folge dessen harmonisch bewegter ist.

Das harmonische Gefüge des Stücks kann anhand der Transkription in moderner Notenschrift (Anhang C1) und der nach dieser Transkription edierten Midi-Notation (Anhang C2) sehr schnell in statistischen Aussagen über reine Klangsituationen zusammengefasst werden. So finden sich insgesamt 70 direkt angesungene vollkommene Konsonanzen in dem Stück, wobei es nur 3 mal zum Unisono kommt (T. 33, T. 70, T. 94) und 38 direkt angesungene unvollkommene Konsonanzen.

Die direkt angesungenen dissonanten Klänge halten sich in ihrer Zahl zurück. Diese, in Anhang C1 orange gekennzeichnet, treten hauptsächlich auf leicht gewichteten oder kurzen Notenwerten auf. Die einzig signifikante Dissonanz ist das direkte mi contra fa in Takt 69. Man mag aber annehmen, dass die damaligen Sänger, auch ohne vorgezeichnetes Akzidentium, solchen Zusammenklängen ausgewichen sind.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass es innerhalb des Stücks zu 41 direkt angesungenen vollständigen Dreiklängen kommt. Dies zeugt davon, dass der Harmonie hier besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ähnlich wie es innerhalb der Kontrapunktik in der frühen Neuzeit praktiziert wird. Ein weiterer Umstand, der für den hohen Anspruch der Komposition spricht.

Die Aussagekraft dieser Statistik (Anhang D) ist jedoch begrenzt. Zwar lassen sich ungefähre Verhältnisse erkennen, dennoch geben die Zahlen lediglich Hinweise auf die Quantität, nicht aber die Qualität einer harmonischen Erscheinung. So muss z.B. der initiale Dreiklang zu Beginn des B-Teils sehr viel schwerer gewichtet werden als die Dreiklänge die sich in Takt 67 ergeben.

2.3 Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87

Die Werke Francescos sind in mehreren Trecento-Quellen überliefert. Das Madrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den meisten als von Francesco stammend vermerkt. Die Authentizität seiner Autorschaft als Komponist kann dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Über die Entstehungszeit des Madrigals scheint Unklarheit zu herrschen. So gibt das Neue Handbuch der Musikwissenschaft an, es handle sich um ein eher spätes Werk, das um 1375 entstanden sei. Die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart meint jedoch, die Werke mit zweitem Superior seien vor 1375 entstanden. Da uns die Entstehungsumstände des Stücks nicht bekannt sind, ist es schwer eine vertrauensvolle zeitliche Einordnung vorzunehmen.

In der Prachthandschrift Ms. Mediceo-Palatino 87, dem „Squarcialupi-Codex“, leitet « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » das Kapitel des Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia ein. Da die Auswahl der aufgeführten Stücke bewusst getroffen und die Anordnung durchdacht und geplant ist, mag diese Stellung bezeichnend für die Bedeutung des Madrigals innerhalb des Œuvres des Komponisten sein.

Der Codex, benannt nach seinem ersten Besitzer Antonio Squarcialupi, später im Besitz der Medici, stellt die umfangreichste und prachtvollste Liedersammlung des Trecento dar. Er reiht Komponisten wie Giovanni da Cascia und Jacopo da Bologna, Gherardello da Firenze, Vincenzo da Rimini oder Antonius Zacharias de Teramo (Magister Zacara) auf. Insgesamt finden sich darin 354 Werke von 12 verschiedenen Komponisten, jeweils in „Kapiteln“ chronologisch angeordnet. Mehr als ein Drittel der Werke stammt von Francesco.

Die Pracht der 216 Pergamentfolianten liegt vor allem in ihrer reichen Ausstattung begründet. Jedes Kapitel wird von einer fein illuminierten und aufwändig mit Blattgold verzierten Miniatur, einem Portrait des Komponisten, eingeleitet. Aus diesen sog. historisierten Initialen können noch heute viele interessante Erkenntnisse gewonnen werden.

Der Anhang C3 stellt eine Abschrift der Gallo-Faksimile-Ausgabe des Squarcialupi-Codex dar. Sehr gut kann man erkennen, dass das Stück zwar, wie es in Italien üblich war, auf sechs Notenlinien notiert ist, dass es sich aber um französische Notation handelt. In diesem Fall ist das keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der Darstellungsmöglichkeiten.

Im italienischen Divisionssystem lassen sich Synkopen, die über den „Brevis-Takt“ hinausgehen, nicht oder nur sehr schwer darstellen. In « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » würden bei dem Versuch bereits in Takt 2 Probleme auftreten. Die rhythmischen Elemente des Superiors,  und des Contratenors, , sind nicht sinnvoll durch italienische Notation auszudrücken. Da dies nicht die einzige Stelle ist, an der Komplikationen auftreten würden, muss das gesamte Stück in französischer Notation festgehalten werden.

Dies ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Francesco nicht wie seine Vorgänger Jacopo da Bologna oder Giovanni da Cascia rhythmisiert. Für deren Stücke bot sich die italienische Notation noch an. Hier weicht Francesco jedoch in der Rhythmisierung bereits deutlich vom italienischen Stil, wie ihn die Komponisten der „ersten Generation“ prägten, ab. Eine Notation im Divisionssystem kommt für Francescos Musik bereits nicht mehr in Frage.

3. Conclusio

Francesco Landini hinterlässt uns mit dem Tripelmadrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » eine Trecento-Komposition, die einen sehr hohen musikalischen Anspruch verfolgt und den Wandel der Gattung Madrigal zu einer exklusiven und repräsentativen Form bezeugt. Vieles daran bedient noch die „alten“ Traditionen der Komponistengeneration, die bereits um 1340-50 in Norditalien gewirkt und den „typisch“ italienischen Stil begründet hat. Anderes daran ist neuartig und zeugt von einem individuellen Umgang mit französischen Einflüssen.

Da Francescos Autorschaft für den Text als nicht gesichert gelten kann, lassen sich hier wenig direkte Aussagen über sein Verhältnis zum italienischen Stil machen. Allein die Tatsache, dass er die im frühen Trecento äußerst beliebte Form des Madrigals und einen solch repräsentativen italienischen Text zur Vertonung gewählt hat, bringt die enge Verbundenheit mit italienischen Traditionen deutlich zum Ausdruck.

Die Struktur des Stücks und die Anlage der Stimmen folgt durchaus den bekannten Regeln der poesia per musica. Darüber hinaus bemüht sich Francesco um die Anwendung verschiedenster klanglicher Raffinessen, die neuartig wirken und den künstlerischen Anforderungen des Textes Genüge leisten. Dazu zählen die Mehrtextigkeit und die kühne Stimmkreuzung in Takt 56 genauso, wie die Anwendung der zahlreichen Dreiklänge oder der rhythmischen Floskel.

Von einem improvisatorischen italienischen Stil kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Stück mutet unerwartet organisiert und durchdacht an. Kompositorische Ungeschicktheiten, wie unangenehme dissonante Zusammenklänge oder Parallelbewegung in den Stimmen, sind dieser Komposition so gut wie fremd.

Die Abkehr vom italienischen Divisionssystem und aller damit verbundenen kompositorischen Eigentümlichkeiten und die Hinwendung zu rhythmischen Gestaltungsmitteln, die nur in französischer Notation sinnvoll ausgedrückt werden können, lassen hier einen direkten französischen Einfluss erkennen.

Das Werk « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » steht in der Linie italienischer Tradition und darüber hinaus für die große Begabung und die stilistische Individualität seines Komponisten.

Die Anhänge

Die Anhänge umfassen vier Teile. Ein PDF mit den kompletten Anhängen kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: Musica son – Appendices

  • A: Literatur- und Quellenverzeichnis
  • B: Madrigaltext und Übersetzung
  • C: Noten
    • C1: moderne Edition/Transkription
    • C2: Edition in „Midi“-Notation
    • C3: diplomatische Abschrift
  • D: Statistik

März 2004