Interpretation: L’Albatros ~ Charles Baudelaire

[M]Eine Interpretation

Diese kurze und klassische Interpretation ist als Ergänzung zu meinem Arbeitsblatt-Artikel „Symbolismus“ gedacht. Sie soll einige Merkmale des Stils aufzeigen, wenngleich sich in einem einzelnen Text nicht alles finden lassen wird, was ich in meinem Artikel beschrieb. Aber es lassen sich dennoch gewisse Tendenzen erkennen.

Das Gedicht „L’Albatros“ des Urvaters des Symbolismus, Charles Baudelaire, wurde 1859 erstveröffentlicht und etwas später, 1861, in den Gedichtband Les Fleurs du Mal, das Lebenswerk des Autors integriert. Innerhalb des Gesamtwerkes ist „L’Albatros“ das dritte Gedicht und in seinem Kapitel Spleen et Idéal das zweite. Da der Gedichtband einem durchkomponierten Konzept folgt, ist die Stellung der Gedichte zueinander und deren Unterteilung in Kapitel von großer Bedeutung für die Einzeltexte. Doch auf diese große Bedeutung der Intertextualität der Fleurs werde ich in diesem Rahmen nicht speziell eingehen können.

Formell handelt es sich bei dem Gedicht um einen klar strukturierten Text mit vier Strophen à vier Versen. Die Versstruktur folgt dem französischen Alexandriner, einem 12-hebigen Iambus. Das Reimschema folgt dem Kreuzreim mit abwechselnd betonten und unbetonten Kadenzen. An dieser klassischen und strengen Form erkennt man deutlich das symbolistische Streben nach Formvollendung und Harmnonie innerhalb der poésie pure.

Der Titel, „L’Albatros“, ist demonstrativ und kündigt seine symbolische Hauptfigur, einen majestätisch großen Seevogel, an.

S1:
Die erste Strophe führt uns zunächst in eine Szene des Marinealltags. Matrosen, über Meerestiefen gleitend, fangen sich zum Spaß Albatrosse, die ihr Schiff träge und antriebslos begleiten. Assoziative Wörter wie pour s’amuser (zum Spaß), vaste oiseaux (große Vögel), indolents compagnons (träge, antriebslose Begleiter), de voyage (der Reise), gouffres amers (Meerestiefen) suggerieren dem Leser hier bereits, eine metaphorische Bedeutung der Signifikanten, eine tieferliegende Sinngebung des Gesagten zu vermuten.

S2:
Dieses Bild wird in der zweiten Strophe ausgebaut. Die Matrosen werden zu Schaulustigen, die sich an der Ungeschicktheit der vom Himmel geholten Vögel ergötzen. Der Albatros wird in seiner Divergenz dargestellt. Im Flug, am Himmel ist der weiße Vogel mit seinen weiten Schwingen majestätisch und schön. Nun, da er auf den Boden gezwungen ist, behindern ihn die weiten Schwingen in seinem Gang. Er wirkt komisch, so daß er den Matrosen zur Belustigung gereicht.

S3:
In der ursprünglichen Fassung des Gedichtes fehlte die dritte Strophe. Als es in die Fleurs eingefügt wurde, wurde sie ergänzt. Das dargestellte Szenario wird (einzige Strophe mit holperndem Sprachrfluß) zu einem Bild sadistischer Tiefe ausgebaut. Die Verse eins und zwei bedienen ein Spiel mit den Gegensätzen (Antithesen). Mit Wörtern wie „gauche et veule“, „beau“ oder „comique et laid“ erfährt der Zwiespalt des Vogels eine eindeutige Wertung. Auf der einen Seite ist er schön, wenn er in der Luft fliegt, auf der anderen Seite ist er häßlich und lächerlich, wenn er am Boden gehen muß. Die Qual am Boden wird dem Vogel noch durch die sadistische Schaulustigkeit der Matrosen erschwert, die ihn reizen und nachäffen, sich also an seinem Leid erfreuen.

S4:
Die vierte Strophe, besonders der erste Vers, ist der Schlüssel zur tieferen Bedeutungsebene: Der Dichter gleicht dem Albatros. In den Höhen seiner Geistigkeit fühlt er sich überlegen und narrt die, die ihn anvisieren. Wird er jedoch aus seinem Element auf den Boden (vielleicht in die Kreise gesellschaftlicher Konventionen) geholt, macht man sich über ihn lustig, denn er kann sich dort nicht angemessen bewegen, kann dort nur komisch existieren.

In diesem Gedicht geht es also, wie in so vielen symbolistischen Texten, um die Diskrepanz der menschlichen Seele. Es wird nicht nur die Gegensätzlichkeit des Dichters, sondern auch der Sadismus der anderen Masse aufgezeigt. Darüber hinaus wird durch den Vergleich mit dem Albatros und die Bewertung seiner Situation eine Ambivalenz zwischen Bedauern und Beschimpfen aufgebaut.
Der Albatros ist träger und antriebsloser Begleiter des Schiffes. Er müßte die Qual des Gefangen-Seins nicht erdulden, könnte davon fliegen, tut es aber nicht. Vielmehr gefällt sich der Dichter in diesem Widerspruch aus Qual und Freude und stellt so seinen eigenen Masochismus zur Schau.

Die Bedeutungsebenen des Dichters, des Albatroses und der Matrosen fließen ineinander, es findet ein ständiger Rollentausch statt. Mehrere Bewußtseinsebenen werden verflochten, der Quäler wird zum Gequälten und wird in seinem Masochismus wieder zum Quäler. Der Dichter wird in seiner Menschlichkeit, nicht mehr als Genie auf dem Elfenbeinturm, sondern als mit den Eindrücken kämpfender, sich ständig selbstreflektierender Mensch gezeigt, der selbst in seiner Animalisierung noch Ästhetik sieht.

Insgesamt haben wir es also mit einem sehr repräsentativen Text zu tun, der nicht umsonst an dritter Stelle der Fleurs und an zweiter innerhalb des Kapitels Spleen et Idéal steht.
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