Lyssos

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Lyssos

für A.S.

Ich glaubte jenen, die mich Egoistin nannten.
   Zur bittern Marter zwang des Glaubens stille Qual,
die harten Worte derer, die mich besser kannten.
   Und Unsichtbares triumphiert im Jammertal.

Was kann ein Lahmer denn mit Tatendrang beginnen?
   Ich will nichts wissen von der Welt, die an mir nagt.
Die goldnen Hennen singen für die Königinnen –
   ein Wort ist nichts, vergessen schneller, was nicht plagt.

Ich will die Haare mir von meinem Kopfe reißen,
   daß ich für euch gelacht, wo jede Maske fällt,
wo falsche Scham und Spott selbst den Zynismus beißen.
   Euch geht es gut, was soll ich noch auf dieser Welt?

Selbst dich, geliebter Lyssos, kann ich nur noch hassen.
Ich kann mein Grab nicht tief genug herunterlassen!

III | Okt. 2003

Zur Entstehung

In der griechischen Mythologie ist Lyssa der personifizierte Wahnsinn. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich mich damals dafür entschieden habe, aus Lyssa (feminin) einen Lyssos (maskulin) zu machen. Vielleicht war es meine feministische Emanzipation, nach der ich mich weigerte den Wahnsinn durch eine Frau verkörpert darzustellen. Vielleicht war es aber auch gerade deren Mangel, eine Kopfbarriere, die es mir nicht erlaubte, eine Frau in eine derartige „Charakterrolle“ zu stecken. Heute hätte ich mich für Lyssa entschieden…

Der Text thematisiert eine (psychologische) Katharsis, den verzweifelten emotionalen Ausbruch eines Menschen, der erkennt, dass er sich für eine falsche Vorstellung von Glück verstellt und sich dabei selbst verloren hat. Der Schlußvers ist dabei nicht so wörtlich gemeint, wie er bei vielen Lesern angekommen ist. Der Ausweg aus dem inneren Konflikt der Selbsterkenntnis ist nicht die Auslöschung des Selbst, sondern die Auslöschung des unerträglich gewordenen Teils des Selbst, sprich die eigene Verstellung, die Maske.

Ich empfinde Lyssos aber nicht nur aus diesem Grund heute als unzulänglich. Am meisten stört mich die Anspielung in Q2V3, weil sie vom Leser ein Spezialwissen erfordert, das über die Allgemeinbildung weit hinausgeht. An sich wären solche speziellen Anspielungen kein Problem, wenn sie als Zusatz für den versierten Leser konzipiert sind. Hier greift sie aber direkt in den logischen Zusammenhang des Textes ein und dafür ist sie zu speziell.

Ich kann von meinen Lesern nicht verlangen, dass sie Neidharts Lied „Sinc an guldin huon!“ (Singe, goldener Hahn!) gut genug kennen, um zu verstehen, warum in meinem Gedicht nun goldne Hennen singen. Ich kann nicht einmal verlangen, dass meine Leser dieses Lied oder dessen Verfasser überhaupt kennen. Trotzalledem scheint der verzweifelte Charakter des Textes noch immer gut genug rübergekommen zu sein, als dass er seinen eigenen kleinen Fankreis bekommen hat…

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