Von Dichtung und Wahrheit

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Von Dichtung und Wahrheit

   Häufig drängen sich auf meiner Bettstatt Leiber,
die wie Schlangen gierig sich umwinden.
   Blumenbrechend keuchen Münder junger Weiber
oder Burschen, die sich gleichsam finden,
      um an nacktem Fleische sich im Spiel
         der zart benetzten Köstlichkeiten
            liebestoll zu reiben.
         Unbemerkt im wilden Treiben
      such‘ ich Kiel    und Tinte, weiße Seiten.

   Silbernen Beschlag hat meine schöne Feder.
Ihre Fahne taugte die zu kitzeln,
   deren blasse Haut mein Pergament sei; Leder,
das ich wagte, schändlich zu bekritzeln.
      Auf der Suche nach dem Tintenhorn
         ergäb‘ ich mich dem irren Sehnen,
            schnitt in ihre Pelle
         mit dem Federkiel die Quelle:
      „Mir zum Born,    Arterien und Venen!“

   Und ich schrieb mit ihrem Blut die ganze Wahrheit
meiner Niedertracht auf ihre Körper,
   schaffte mir im Stillen dahingehend Klarheit,
daß im Reigen jener armen Dörper
      sich die Kraft der Dichtung offenbart. –
         Doch genug! Auf weichen Linnen
            will ich mich nun strecken
         zwischen liebestollen Gecken.
      Sei’s erspart,    Geschichten zu ersinnen!

XIV | Mai 2004

Zur Entstehung

In einm Kurs zur Mittelhochdeutschen Metrik gab uns Prof. Dr. Christph März eine Aufgabe, die mir die Augen ein Stück weiter dafür geöffnet hat, was Metrik wirklich ist. Er gab uns ein Faksimile des Gedichtes „Het ich tugende nicht so vil“ von Heinrich von Morungen, das, wie in mittelalterlichen Handschriften üblich, im Fließtext notiert war. Wir sollten es in eine zeitgenössische Edition bringen, also Zeilenumbrüche setzen und Leerzeilen lassen, wo wir das für angemessen hielten.

Das Morungen-Gedicht ist von der Form her eine Kanzone mit drei Strophen, entspricht also dem groben Schema AAB. Ich habe den geglätteten Versbau dieses Textes für mein „Von Dichtung & Wahrheit“ übernommen. Vom Drang geleitet, eine Kanzone zu schreiben, machte ich mich auf die Suche nach einem passenden Thema und so kam mir die erotische Szene des Schreibens auf den nackten Körper in den Sinn, die von einem meiner Lieblingsfilme, „The Pillow Book“, von Peter Greenaway inspiriert ist. Damit allein konnte ich aber kein Gedicht füllen und ich überlegte weiter, wie man diese erotische Szene einbetten könnte. Ich erfand also die Geschichte eines lyr. Ich in einer orgiastischen Gesellschaft. Um die erotischen Motive nicht zu platt erscheinen zu lassen, mußte aber eine darüber hinausgehende Story her. Die Verbindung zur Dichtkunst war schon durch das Schreiben auf die Haut gegeben und ich machte mich daran, diesen Faden auszubauen. Letztlich erfand ich ein lyr. Ich, das als Dichter eine erotische Begebenheit erzählt, von der sich am Ende herausstellt, dass sie frei erfunden ist, ebenso wie demzufolge ihr Erzähler selbst. Die Frage danach, was nun Wahrheit und was Dichtung ist, habe ich für den Leser offen gelassen. Darüber darf er gerne selbstständig weiter reflektieren.

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