Seminararbeit: Stil und Rhythmus der Fauvel-Lais

Sonntag, 23. Mai 2010

Die vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ spiegeln einen Paradigmenwechsel wider, der sich um 1300 in Nordfrankreich vollzieht und die Epoche der „Ars Nova“ ankündigt. Sie sind in zwei verschiedenen Stilen abgefaßt, die einander innerhalb der Gattungsgrenze des Lais gegenübergestellt werden. Dabei wird der traditionelle, große Stil ins Lächerliche gezogen. Ein neuer, von kürzeren Notenwerten und rascherem, mensuriertem Rhythmus geprägter Stil wird zum Ideal der weltlichen, vernakularsprachigen Monodie. Die volle Version der Seminararbeit kann im PDF heruntergeladen werden. Im Artikel gibt es Gliederung und Einleitung.

Download PDF: Stil und Rhythmus der vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ [F-Pn fr. 146]

Gliederung

  1. Einleitung
  2. Entstehung und Umfeld des Manuskripts
  3. Das Laiprinzip
    1. Heterometrie und Isometrie
    2. Tanz und Tanzmusik
  4. Notation und Rhythmus
    1. Plica und Conjunctura
    2. Ligaturen und Repetition
    3. Semibrevis und Mensur
  5. Großer und kleiner Stil
    1. cantus und cantilena
    2. tragica und comica
    3. deklamatorisch und tänzerisch
  6. Zusammenfassung
  7. Literatur

Einleitung

In die älteste und umfangreichste Überlieferung des „Roman de Fauvel“, die in die multimediale Prunkhandschrift F-Pn fr. 146 eingebunden ist, haben die Editoren vier Vertreter einer Liedgattung aufgenommen, für die es in den ca. 50 Jahren zuvor keine Überlieferungen gibt. Die Rede ist vom Lai, einem monodischen Lied mit einem volkssprachigen (in diesem Falle altfranzösischen) Text, das sich in erster Linie durch Unstrophigkeit auszeichnet.

Der Lai erlebte seine Blüte in einer Zeit, da der Rhythmus seiner Melodie noch nicht mensural fixiert wurde. Über den Rhythmus dieser Gattung und anderer Vertreter des Trouvère- und Troubadour-Repertoires gab es in der musikwissenschaftlichen Forschungsgeschichte deshalb zahlreiche Kontroversen. Vom Vorschlag einer freien, deklamatorischen, der Rede angepaßten Interpretation, über einen isosyllabischen Rhythmus, bei der jede Textsilbe die gleiche Tondauer hat, bis hin zur Idee, es könnte sich um klar mensurierte Tanzmusik handeln gab es verschiedene Ansichten.

Die vorliegende Arbeit möchte anhand der Kontextualisierung, der Analyse rhythmischer und außerrhythmischer Merkmale und des Vergleichs klären, welche Rhythmisierung für die vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ sinnvoll ist und an welchen Merkmalen solche Urteile ausgerichtet werden können. Sie wird in ihrem Verlauf zeigen, dass die vier Fauvel-Lais an der Grenze eines Paradigmenwechsels stehen, der in der Faktur der Stücke selbst ablesbar ist. Dieser Paradigmenwechsel manifestiert sich um 1300 in vielerlei Hinsicht. Er geht einerseits mit dem Streben der aufkommenden „Ars Nova“ nach rhythmischer Präzision und kürzeren Notenwerten und der daran anknüpfenden Erweiterung der Mensuralnotation, andererseits mit einer Nobilitierung der höfischen Refrainformen, ja vielleicht sogar mit der aufkommenden Mode des Paartanzes einher.

Die vier altfranzösischen Lais stehen dabei repräsentativ für zwei konkurrierende Konzepte, zum einen ein modernes (zeitgemäßes), das sich am Genre des Kleinen Liedes orientiert, zum anderen ein antiquiertes (überkommenes), das sich am Genre des Großen Liedes orientiert. Dieses antiquierte Genre wird durch seine satirische Verwendung als defizitär gegenüber dem modernen Liedkonzept dargestellt.

Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Zunächst betrachtet sie das Entstehungsumfeld des Manuskripts F-Pn fr. 146, um daraus Rückschlüsse auf die Verfasser, Komponisten und Editoren, ihre Absichten und ihren Bildungsgrad zu ziehen. Dann widmet sie sich der Frage des traditionellen Charakters der Gattung Lai, erklärt dabei die entgegengesetzten Prinzipien von Heterometrie und Isometrie und führt in die Geschichte des höfischen Paartanzes ein. Im folgenden Kapitel wird der Zeichenvorrat, mit dem die Stücke in der Handschrift notiert sind, betrachtet und interpretiert. Das Besondere ist dabei, dass Vertreter der Gattung Lai hier erstmals in einer den Rhythmus kodierenden Notationsform vorliegen, aus der entsprechende Rückschlüsse gezogen werden können. Das letzte Kapitel führt einige der zuvor analysierten Elemente als stilübergreifende Merkmale vor und versucht, die vier Lais entsprechend stilistisch einzuordnen. Der Gebrauch von Gegensatzpaaren wie groß – klein, heterometrisch – isometrisch, deklamatorisch – tänzerisch, etc. spielt bei der Unterscheidung eine zentrale Rolle.

Die vier Lais werden innerhalb der Arbeit mit den Siglen L1, L2, L3 und L4 entsprechend der Reihenfolge ihrer Standorte innerhalb der Handschrift benannt. L1 ist der mit dem Vers „Talant que j’ai d’obeïr“ beginnende Lai, der sich auf den folii 17r-18v befindet. L2 ist der mit dem Vers „Je qui poair seule ai de conforter“ beginnende Lai, der auf den folii 19r-v notiert ist. L3 ist auf den zwischengeschobenen folii 28bis-ter fixiert und beginnt mit dem Vers „Pour recouvrer alegiance“. Der vierte Lai L4 befindet sich auf den folii 34v-36v und beginnt mit dem Vers „En ce dous temps d’esté“. Mit den Siglen V1, V2, V3, etc. werden die Versikel der einzelnen Lais benannt. L1V3 ist demnach der dritte Versikel des ersten Lais „Talant que j’ai“.

Die Vers- und Versikelstrukturen sind der modernen Edition von Hans Tischler „The Monophonic Songs of The ‚Roman de Fauvel'“ entnommen, die zusammen mit der 1990 bei Broude, New York erschienenen Faksimile-Ausgabe „Le roman de Fauvel. The complete manuscript, Paris, Bibliothèque Nationale, fond français 146“ die Grundlage dieser Betrachtungen bildet. Beide Editionen sind mitsamt den theoretischen Schriften, die in dieser Arbeit angeführt werden oder in Vorbereitung auf das Thema konsultiert wurden, als Literaturliste im Anhang aufgeführt.

Download PDF: Stil und Rhythmus der vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ [F-Pn fr. 146]

Ein musikalisches Rätsel

Samstag, 08. August 2009

Obwohl es sich bei Machauts Lied „Ma fin est mon commencement“ nachgewiesenermaßen um ein dreistimmiges Rondeau handelt, sind in den Quellen nur zwei Stimmen notiert. Des Rätsels Lösung liegt im Text des Gedichtes, der eine versteckte Spielanweisung für die notierte Musik ist. Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, wie man ein solches Stück aus den mittelalterlichen Handschriften rekonstruieren und in eine moderne Fassung übertragen könnte. Am Ende wartet auch eine Audiodatei darauf, angehört zu werden.

Ma fin est mon commencement

Eigentlich untersuche ich seit geraumer Zeit die vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“, genauer, deren Rhythmus. Deshalb schlage ich mich momentan mit spannenden Fragen der musikalischen „Übersetzung“ mittelalterlicher Notationsformen herum, die, insbesondere in Bezug auf die rhythmische Interpretation, machmal wirklich knifflig sind. Das beginnt bei mathematischen Aspekten der Mensur und geht bis hin zu Theorien über den Stil bestimmter Gattungen zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Entwicklungsgeschichte.

So weit möchte ich heute aber nicht gehen, sondern einfach einmal Einblicke in die beinahe cryptographische Arbeit mit mittelalterlichen Musikhandschriften geben. Dafür habe ich mir das dreistimmige Rondeau „Ma fin est mon commencement“ des Ars Nova Komponisten Guillaume de Machaut ausgesucht. Ich kenne es schon seit geraumer Zeit, habe mich jedoch nie intensiv damit auseinandergesetzt. Das soll sich heute ändern. Das Interessante an dem Stück ist, dass es sich um ein musikalisches Rätsel handelt, denn es ist nur zu zwei von drei Stimmen Musik notiert. Man kann also gar nicht sehen, dass es sich um ein dreistimmiges Lied handelt. Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt im Text.

Ma fin est mon commencement
et mon commencement ma fin
Et teneure vraiement
ma fin est mon commencement.
Mes tiers chans ⋅iij⋅ fois seulement
de retrograde : et einsi fin.
Ma fin est mon commencement
et mon commencement ma fin.

Nun bin ich leider keine Romanistin, aber ich hatte Französisch in der Schule und Latein in der Uni und bekomme die ungefähren Eckpunkte dieses Altfranzösischen Textes über den Daumen gebrochen. Außerdem hilft auch das Layout der Manuskripte beim Verständnis des Textinhalts.

Die Quellen: Mach. Ms A, G und E

Ich arbeite mit drei Faksimiles (s/w Kopien) der Machaut Handschriften Ms A, Ms G und Ms E, die ich zufällig hier zuhause habe. Von den dreien ist Ms A (F-Pn fr 1584), die wohl nach 1350, aber vor 1370, also noch zu Guillaumes Lebzeiten, entstanden ist, die älteste und damit dem Komponisten nahestehendste. Ms G (F-Pn fr 22545-46) ist nach Guillaumes Tod gefertigt worden, ist aber die von meinen drei Exempeln am besten lesbare. Ms E (F-Pn fr 9221) ist für Jean, Duc de Berry, geschrieben (das ist der mit den „Très riches heures“), enthält z.T. erheblichen Abweichungen und ist als Kopie wirklich schwer zu erkennen, eigentlich keine gute Referenz. Ich konzentriere mich auf die Fassung in G und ziehe A und E nur an den kniffligen Stellen heran.

Die Oberstimmen: Cantus + Ténor

In Handschrift G findet sich unser Rondeau in der linken Kolumne des Folio 153 recto. Die mit den beiden ersten Versen des Gedichtes textierte Stimme steht voran, dann folgt der untextierte Contratenor und anschließend der Text der restlichen sechs Verse. Der unter der obersten Stimme, dem Cantus, notierte Text steht jedoch auf dem Kopf und beginnt beim Finalis, dem Schlußton des Stückes: Mein Ende ist mein Anfang und mein Anfang mein Ende, heißt es in den ersten beiden Versen, woraus man schließen kann, dass die Melodie des Cantus also der Krebs (d.h. von rechts unten nach links oben gelesen) der von links oben nach rechts unten notierten Melodie ist.

Der Ténor ist ‚vraiement‘, heißt es weiter, woraus sich auf die Melodie der zweiten Stimme schließen läßt, die nämlich der Krebs der ersten ist, d.h. das, was dort ‚vraiement‘ in der bekannten Schreibweise von links oben nach rechts unten notiert ist. Aber was ist da eigentlich notiert und paßt das überhaupt so zusammen, wie es der Text vorsieht?

Die Abbildung zeigt den Ténor, wie er in Ms G notiert ist, jedoch ohne Angaben von Tonhöhen. Wir sehen zwei Phrasen à 40 Breves, die im tempus imperfectum cum prolatio minor notiert sind, d.h., eine Longa hat die Dauer von zwei Breves, eine Brevis die von zwei Semibreves und jede Semibrevis die von zwei Minimae. Das entspricht (Fachleute mögen mich für diese Aussage schlagen) ungefähr dem, was heute ein 2/4-Takt wäre.

Tempus imperfectum cum prolatio minor

Diese Mensur war für mich zunächst nicht sofort erkennbar (und ist ja auch nicht unbedingt ‚klassisch‘ für diese Zeit), da ich die Minimae-Pausen auf der fünften und siebenten Brevis für Divisionspunkte gehalten und mich darüber gewundert hatte, dass dazwischen nur sieben Minimae in der Perfektion waren. Weil sieben Minimae weder in eine perfekte, noch in eine imperfekte Mensur passen, hatte ich mir schon wunderbare Theorien über die Alteration der letzten Minima zurechtgelegt, als mir klar wurde, dass das ein Holzweg war und es sich bei den vermeintlichen Punkten um Pausen handelte.

(Man muß bedenken, es handelt sich um s/w Kopien von Handschriften und nicht etwa um eine gestochen scharf gedruckte Notenedition. Da kann man einen Fussel auf dem Kopiergerät manchmal nicht von einem Haarstrich an einer Note oder ähnlichem unterscheiden. Ich nenne soetwas liebevoll „Fliegenschiß“ und ein Fliegenschiß könnte eben alles mögliche sein.)

Man nennt den in den Machaut-Manuskripten festgehaltenen Stand der Entwicklung der Musiknotation „schwarze Mensuralnotation“ und es gibt keinen Zweifel daran, dass auch „Ma fin est mon commencement“ in dieser Form notiert ist. (Zum Vergleich: Die Lais im „Roman de Fauvel“ sehen von den Zeichen her ganz ähnlich aus, sind aber dennoch mit größerer Vorsicht zu genießen, weil gleiche Zeichen nicht immer auch die gleiche Bedeutung haben.)

In der Zeit der schwarzen Mensuralnotation existieren die perfekten und imperfekten Mensuren nebeneinander, d.h. ein Notenwert kann entweder in drei (perfekt) oder in zwei (imperfekt) Noten des nächstkleineren Wertes geteilt werden und zwar auf jeder Verhältnisebene individuell. Das Verhältnis zwischen Brevis und Longa heißt „modus“, das zwischen Semibrevis und Brevis „tempus“ und das zwischen Minima und Semibrevis ist die „prolatio“. In der Ars Nova (das ist die dazugehörige Stil-Epoche) rückt die Prolatio in den Fokus; die bloße Anwesenheit von Minimae ist also ein erster Hinweis darauf, dass es sich um Musik nach 1300 handelt.

Da es noch keine Taktangaben oder gar Taktstriche gibt (das gesamte Konzept „Takt“ ist der mittelalterlichen Musik fremd, weshalb auch moderne Transkriptionen in Taktform der Musik solcher Stücke nur teilweise gerecht werden) kann man das Verhältnis der Noten nur aus deren Zusammenhang in einem konkreten Stück erkennen. Die Anfangsfolge L SBS MMMM MSM eignet sich ganz gut zur Bestimmung der Mensur. Man kann sie „von hinten“ aufschlüsseln: 2M = 1S, 2S = 1B und 2B = 1L. Wenn man die Brevis als Grundduktus annimmt, hat die obige Folge eine Dauer von sechs Breves und ein Mensurverhältnis von 1 : 2 : 4.

Wenn wir wieder den gesamten Ténor betrachten und bedenken, dass die Oberstimme laut Instruktion im Krebs dagegen gesungen werden soll, ist es also von Vorteil, dass beide Phrasen die exakt gleiche Länge von 40 Breves haben, weil sie dann gemeinsam beginnen und aufhören können. Die Oberstimme singt also auf den Text des ersten Verses die Melodie der 2. Phrase rückwärts, während der Ténor zugleich die 1. Phrase vorwärts singt. Dann singt die Oberstimme den Text des zweiten Verses auf den Krebs der Melodie der ersten Phrase, während der Ténor die Melodie der 2. Phrase vorwärts singt. Daraus ergibt sich für die beiden Stimmen die Konstruktion eines Kreuzkanons, womit der erste Teil des Rätsels (Wo ist die dritte Stimme?) eigentlich gelöst wäre.

Das Rondeau, eine Refrainform

Bleiben aber noch die Fragen: Was tut der Contraténor währenddessen und was passiert eigentlich mit dem Text der übrigen sechs Verse? Letzteres ist schnell erschlossen, wenn man sich die Gedichtstruktur anschaut:

AB aA ab AB

Es handelt sich um ein klassisches Rondeau, das heißt, die Melodie wird nach dem Reimschema des Textes immer wieder wiederholt. Alle Verse, die auf „-ment“ enden, singt die Oberstimme auf den Krebs der Melodie der 2. Phrase (A) und alle Verse, die auf „fin“ enden, auf den Krebs der 1. Phrase (B) und zwar in der Reihenfolge der Verse. Der Ténor schließt sich melodisch jeweils über kreuz der Oberstimme an. Ob er textiert (gar über Kreuz: Et mon commencement ma fin / ma fin est…“) oder vokalise gesungen oder eventuell sogar von einem Instrument gespielt wird, bleibt offen und also dem dem Gusto des Aufführenden überlassen.

Der Contraténor: Eine Stimme – viele Möglichkeiten

Die Stimme des Contratenors ist hingegen definitiv untextiert und sie sieht mit ihren großen Intervallsprüngen sogar so aus, als sei sie für den instrumentalen Vortrag gedacht. Was hier notiert ist, zeigt die folgende Abbildung.

Die Mensur ist augenscheinlich dieselbe, wie die bereits von den beiden Oberstimmen her bekannte. Jedoch hielt ich auch hier eine Pause fälschlicherweise für einen Divisionspunkt und eine Longa plicata für eine Brevis, weshalb mich der Mittelteil der Stimme zunächst in großer Verwirrung zurück ließ und ich die beiden anderen Quellen zurande zog.

An der kritischen Stelle zwischen der 8. und der 26. Brevis (s. Auszug) unterschieden sich beide Handschriften in winzigen Details. Es wunderte mich nicht, dass offenbar auch die Schreiber so ihre Probleme mit der verzwickten Stelle gehabt zu haben schienen und mit den Unterschieden Hinweise auf ihre Interpretation gaben. Als ich bemerkte, dass der vermeintliche Divisionspunkt in A aber doch ziemlich lang geraten war, kam mir erstmals der eigentlich nicht abwegige Gedanke an Pausen. Es machte Sinn in A von einer Brevispause auszugehen, denn obwohl es auf der 14. Brevis zu einer bis zur 22. Brevis andauernden kurzzeitigen Verschiebung um eine Minima kam, ergab sich für den Contraténor insgesamt eine Länge von 40 Breves.

Auch mit der Spielanweisung meine dritte (Stimme) singe nur dreimal hätte das halbwegs hingehauen, da zumindest die Phrasenlänge mit der der Oberstimmen kongruent ist. Solche Minimalverschiebungen, wie sie sich aus A ergeben, sind mir von Stücken der Ars Subtilior (der auf die Ars Nova folgenden Epoche) bekannt. Sie hier anzutreffen, wäre ungewöhnlich, aber nicht vollkommen ausgeschlossen und einem Komponisten wie Machaut durchaus zuzutrauen.

Derartige Sophismen sind in unserer heutigen Notation nur schwer übertragbar und mein Lieblingsbeispiel dafür, dass taktierte Trankspriptionen in Sachen Lesbarkeit den Originalen durchaus nicht immer vorzuziehen sind. Ebenso wie man ein Lied von Mendelssohn nur schwer in Mensuralnotation fixieren kann, kann man mensurierte Stücke nur schwer in unsere klassische Notenschrift übertragen. Es ist das übliche Dilemma des Übersetzers, der damit konfrontiert ist, den Verlust des Mehrwertes des einen Zeichensystemes bei der Übertragung in ein anderes möglichst nicht zu schermzlich aussehen zu lassen. Es ist immer am schönsten, ein Gedicht in der Originalsprache zu genießen, sofern man diese gut genug beherrscht, um die Feinheiten wahrzunehmen.

Wobei ich wieder bei meinem Problem, nicht gut genug Altfranzösisch zu sprechen, angelangt wäre. Was genau heißt denn nun: „Mes tiers chans ⋅iij⋅ fois seulement de retrograde : et einsi fin“? Singe mich dreimal vorwärts und dann einmal von hinten bis zum Ende oder dreimal rückwärts und dann einmal vorwärts? Ich weiß es nicht genau, deshalb muß ich ausprobieren, welche Variante im Zusammenhang mit den beiden Oberstimmen am wahrscheinlichsten erscheint.

Der Stimmverlauf

Die Oberstimme hat insgesamt acht Verse auf zwei Melodien (A + B) mit je 40 Breves zu singen. Wenn also der Contraténor dreimal in die eine Richtung, dann einmal in die andere Richtung gesungen und anschließend eben dieser Ablauf bis zum Ende einmal komplett wiederholt wird, dann würden alle drei Stimmen zum selben Zeitpunkt anfangen und aufhören. Die Frage ist, in welche Richtung wird zuerst gesungen, vorwärts oder rückwärts?

Aufschluß darüber geben die Initial- und Finaltöne der einzelnen Stimmen. Der Tenor beginnt Phrase B vorwärts mit einem c und beendet diese mit einem h, dann folgt Phrase A vorwärts, beginnend mit einem d und endend mit einem c. Die Oberstimme beginnt Phrase A von hinten mit einem c, beendet sie mit einem d, singt anschließend von h aus rückwärts die Phrase B bis zur Finalis c. Der Contraténor beginnt vorwärts mit c und endet mit d, während er rückwärts mit d beginnt und mit c endet. In Anbetracht der Tatsache, dass mehrstimmige Lieder in dieser Zeit überwiegend auf reinen Konsonanzen anfangen und enden und dissonante Intervalverhältnisse wie Sekunden auf Haltetönen eigentlich undenkbar ist. Gehe ich davon aus, dass der Contraténor immer dann vorwärts gesungen wird, wenn die Oberstimme Phrase A rückwärts singt und immer dann rückwärts gesungen wird, wenn der Tenor Phrase A vorwärts sind. Daraus ergäbe sich ungefähr dieser Ablauf.

Die Anweisung „dreimal vorwärts, dann einmal rückwärts“ für die dritte Stimme, den Contraténor, trifft also genau für den Teil des Liedes zu, in dem von der Oberstimme nicht der Refrain, d.h. die Verse 1/2 und 7/8 intoniert werden. Den Rest („et einsi fin“) wurschtelt man sich dann irgendwie so hin, wie man das braucht, damit sich Harmonie zwischen den drei Stimmen einstellt.

Diplomatie, Transkription und Audio

Am Ende meiner ganzen Überlegungen soll nun natürlich eine Transkription in unsere moderne Notenschrift stehen, mit der auch jemand etwas anfangen könnte, der in Fragen der Mensuralnotation weniger bewandert ist (das, im Übrigen, dürfte auf den Großteil der Menschheit zutreffen, selbst wenn man nur die Gruppe der geschulten Musiker betrachtet). Das PDF ist mitnichten die Offenbarung der Editionskunst, unter Mühen konvertiert aus einem Finale2004 .mus-File. Aber ich denke, es dürfte trotzdem reichen, um ein Verständnis von „Ma fin es mon commencement“ zu vermitteln.

machaut-r14.pdf

Ich habe in der Edition den Text entsprechend des Ablaufs unter dem Cantus ergänzt und mit einer Versnummerierung versehen. In Vers drei mußte ich nach Gutdünken schummeln, da dieser, sofern ich mit meinen Vermutungen über die Altfranzösische Silbentrennung richtig liege, eine Silbe zu wenig hat. Ich habe # direkt vorgezeichnet, wo sie im MS notiert sind und in der näheren Umgebung übergeschrieben, wo sich mi-fa-Konstellationen ergeben. In Klammern stehen jene Vorzeichen, die ich in der Midi-Aufnahme (s.u.) weggelassen habe, weil ich das klanglich interessanter so fand. Wo sich im Manuskript Ligaturen befinden, sind eckige Klammern über die Noten gesetzt. Auf der 10. Brevis des Contraténors steht eigentlich eine Longa plicata ascendens. Ich habe diese nicht als Stichnote gesetzt, sondern durch den Hinweis „plic. asc.“ kenntlich gemacht. In der Midi-Aufnahme hört man nur eine Longa auf d.

Der Grund, weshalb ich mich in der Übertragung letztlich gegen die in Ms A überlieferte Version des Contraténors entschieden habe, liegt darin, dass ich letztlich auch die Longa plicata auf der 8. Brevis, fälschlicherweise als Brevis (plicata) gedeutet hatte. Durch die Korrektion hätten sich für die Version in Ms A 41 Breves in der dritten Stimme ergeben. In Anbetracht der Tatsache, dass aber Ms E auf der Position der 8. Brevis sogar drei Breves in Folge und keine einzige Longa notiert, könnte man eine gewisse Nachlässigkeit im Umgang mit Brevis und Longa (z.B. zugunsten der spannenden Minimalverschiebung) an der Stelle vielleicht mit einem Augenzwinkern durchgehen lassen. Variationen sind denkbar und sicherlich keine Entdeckung der Neuzeit. Vielleicht hat ja jemand Lust, soetwas mal zu edieren und zu schauen, ob es überhaupt klingt.

Zum Vergleich stelle ich auch noch eine diplomatische Abschrift der Version Ms G zur Verfügung. Es ist leider aus urheberrechtlichen Gründen nicht erlaubt, Faksimiles zu veröffentlichen, was eigentlich eine Schande ist, wenn man bedenkt, seit wievielen Jahren die Urheber des Stückes und der Handschriften bereits tot sind. Zum Glück gibt es inzwischen Bemühungen, der Öffentlichkeit Digitalisate mittelalterlicher Manuskripte zur Verfügung zu stellen, so dass man damit arbeiten kann, ohne diese wirklich wertvollen, alten Bücher unnötig zu strapazieren. Diese Bestrebungen müssen m.E. dringend vorangetrieben werden – da bin ich auch gern behilflich.

Und weil mittelalterliche Musik auf dem Papier zwar hübsch aussieht, aber wie jede andere Musik erklingen sollte, gibt es am Ende nun auch noch ein von einem Computerprogramm erstelltes, in das .mp3-Format konvertieres Midifile für den Höreindruck (wobei Eindruck an dieser Stelle hinsichtlich der Qualität nicht unbedingt mit „beeindruckend“ zu verwechseln ist). Das ist zwar kein Ersatz für eine Aufnahme mit Stimmen, Text und Instrumenten, aber vielleicht gerade deshalb ein Ansporn, sich an einer solchen einmal zu probieren.

[audio:machaut-r14.mp3]

Achso, falls sich unter meinen Lesern rein zufällig ein Romanist finden sollte, würde ich mich über eine deutsche Übersetzung des Textes in den Kommentaren freuen. 😉

Seminararbeit: Musica son

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Musica son. Betrachtung eines Madrigals des italienischen Trecento-Komponisten Francesco Landini und seines historischen Kontextes, Freie Universität Berlin, Mar. 2004
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400” der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Propositio

« Musik um 1400 » ist der Titel des Proseminars Probleme und Methoden der Musikwissenschaft in diesem Semester. Dass das Thema in diesem Zusammenhang besprochen wird, lässt zu mindest vermuten, dass die Zeit um 1400 und der Diskurs darüber für den Musikwissenschaftler eine gewisse Herausforderung darstellen.

Thematisiert wurden vor allem Aspekte französischer Musik der Ars Nova und Ars Subtilior, deren Formen, deren Komponisten, deren Quellen und deren Kontroversen. Für mich stellte es in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, durch ein Referat in die italienische Musikkultur der Ars Nova einzuführen. Ich versuchte dieser Aufgabe durch die Analyse des Madrigals « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » gerecht zu werden.

In meiner Hausarbeit soll es nun darum gehen, diese Analyse und einige weitere, im Referat aufgeworfene Themen zu komplettieren und zu verschriftlichen. Dabei soll, neben der ausführlichen Formanalyse, auch das Verhältnis von Landinis Musik zum italienischen bzw. französischen Stil betrachtet werden.

In einer kurzen Einführung, « Landini und das Trecento », werde ich die kulturellen Grundlagen des italienischen Stils und einige Begebenheiten aus Francescos Biographie besprechen. Dem folgt die Analyse des Madrigals, bei der ich, vom Allgemeinen ausgehend, zu den speziellen Betrachtungen kommen werde. Dabei soll zunächst der Text, dann die Musik betrachtet werden. Eine selbst erarbeitete Statistik wird die Darstellung harmonischer Begebenheiten unterstützen.

Zum Ende meiner Ausführungen will ich mit wenigen Worten das Thema « Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87 » anreißen. Jedoch soll dieses nicht ausgeweitet werden, sondern lediglich die in der Analyse besprochenen Argumente unterstützen.

Die Hauptquellen, auf die sich meine Argumente stützen, werden innerhalb der Tractatio genannt werden. Eine ausführliche Quellenangabe findet sich zusammen mit diversen Noten, dem Gedichttext mit Übersetzung und einer Tabelle im Anhang meiner Arbeit.

2. Tractatio
2.1 Landini und das Trecento

Die Zeit des Trecento, außerhalb Deutschlands als italienische Ars Nova bezeichnet, war eine Zeit politischer Wirren. Zahlreiche Kämpfe zwischen kaiserlichen und freien Städten Italiens und zwischen Kaiserreich und Frankenreich auf italienischem Boden brachten wechselnde Bündnisse, Siege und Niederlagen gleichermaßen. Der Verfall der Stauferherrschaft nach dem Tod Friedrichs II. (1250) und die Regentschaft der französischen Päpste in Avignon (1305 – 1387) griffen das Vertrauen in die „alte Ordnung“ stark an.

Das Trecento war die Zeit der großen Hungersnöte und schrecklichen Pestepidemien (1348/49 & 1361/62), die das Volk zu Tausenden dahinrafften. Und dennoch entwickelte sich gerade in dieser Zeit eine eigenständige und reiche italienische Kultur.

Diese Entwicklung stand sicherlich in engem Zusammenhang mit dem italienischen Städtetum, dem florierenden Handel, der Ausbildung politischer und kultureller Zentren im Norden und der Mitte Italiens und natürlich der Existenz wohlhabender Förderer italienischer Kunst. Die Namen der Familien Visconti in Mailand, Scaliger in Padua und später der Medici in Florenz sind bis heute bekannt.

Auch in Italien war die Kunst ein Privileg der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, hauptsächlich des gehobenen Bürgertums der freien Handelsstädte und klerischer Kreise.

Voraussetzung für die kulturelle Blüte war die Entwicklung einer eigenständigen, italienischen Literatursprache durch die sizilianisch-toskanische Dichterschule unter Dante Alighieri, der auch die Dichter Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio angehörten. Sie bildeten in ihrer Lyrik den sog. dolce stile nuovo aus, der bald starken Einfluss auf die zeitgenössischen Komponisten ausübte. Es kam so zur Kultivierung neuer Formen der Lied- und Dichtkunst, wie der Canzona, dem Madrigal, der Ballata und der Caccia.

In der Musik, herrschten ein- und zweistimmige Kompositionen ohne liturgischen Tenor vor. Isorhythmie und Diminutionstechniken, wie sie die französische Motette pflegte, fanden wenig Anwendung. Kultiviert wurden eher kanonische Techniken, besonders in der Caccia. Bezeichnend für den italienischen Stil ist heute vor allem die enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik, die sog. poesia per musica. Die Struktur der Liedsätze ist unmittelbar vom Vers geprägt.

Das Trecento entwickelte sogar eine eigenständige Notation, ein Divisionssystem nach Petrus de Cruce. Doch alles in allem blieb der italienische Stil in der Folgezeit nicht frei von französischen Einflüssen.

Francesco Landini oder Franciscus Landino, von mir im Folgenden als Francesco bezeichnet, ist ein Komponist der „zweiten Generation“. Aus musikalischen Quellen ist er uns als Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia, Francesco degli Orghani oder Coechus de Florentia bekannt. All diese Bezeichnungen beziehen sich entweder auf seine Heimat Florenz, seine Erblindung oder seinen Beruf als Organist. Die Verbindung mit der Familie Landini kann erst durch die Verwendung des Landini-Wappens auf Francescos Grabstein und durch die Schriften seines Großneffen Christoforo Landino, in denen er Erwähnung findet, hergestellt werden.

Geboren um 1325 oder 1335 in Fiesole oder Florenz (weder Geburtsjahr, noch -ort sind urkundlich belegt) wendet sich Francesco früh der Musik zu. Aus Villanis Chronik « Liber de originis civitatis Florentiae et eiusdem famosis civibus » wissen wir, dass er als Kind durch eine Pockenerkrankung erblindet ist. Diese Erblindung hält ihn jedoch schon zu Lebzeiten nicht davon ab, als Meister der Improvisation, besonders auf der Orgel gerühmt zu werden.

1361 wird Francesco Organist im Kloster Santa Trinità in Florenz, 1365 Capellanuns an der Kirche San Lorenzo ebendort. Aus dieser Zeit sind uns zahlreiche Quellenbelege überliefert, die uns Auskunft über Francescos Leben und Wirken in Florenz geben.

Auch in der Literatur seiner Zeit taucht Francesco auf. In Giovanni da Pratos Ramanza « Il paradiso degli Alberti » wird von Zusammenkünften im Landhaus der Florentiner Bankiersfamilie Alberti berichtet, bei denen er sich geistreich an gelehrten und politischen Diskussionen beteiligt.

Am 2. September 1397 stirbt Francesco in Florenz. Er wird am 4. September in der Kirche San Lorenzo beigesetzt.

Uns sind 154 Werke des Komponisten aus verschiedenen Quellen überliefert: Ballaten, Caccias, Madrigale, Motetten und ein französisches Virelai. Die erhaltenen Werke machen etwa ein Viertel des gesamten überlieferten weltlichen Trecento-Repertoires aus. Die breite und zahlreiche Überlieferung seiner Werke, besonders in norditalienischen Quellen, spricht deutlich für deren damalige Beliebtheit.

2.2 « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli »
2.2.1 Der Text

Francescos dreistimmige Komposition « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den einschlägigen Quellen, diversen Lexika, sowie musikwissenschaftlichen Texten als Madrigal anerkannt.

Das Madrigal, marigale, wie es in Venedig oder madriale, wie es in der Toskana genannt wird, ist in seinen Ursprüngen eine von Petrarca, weniger von Dante gepflegte und kultivierte poetische Gattung. Etymologisch stammt das Wort vermutlich von [lat.] „matricalis“, was soviel bedeutet wie „von der Mutter her, in der Muttersprache“. Es handelt sich beim Madrigal um ein muttersprachliches, also italienisches Gedicht.

Formell besteht es aus einer beliebigen Anzahl an Terzetti (Strophen à drei Verse). Jeder Vers eines Terzetts besteht aus sieben oder elf Silben und weist den gleichen Endreim auf (Schema a-a-a). Jedem Terzett kann ein ein- oder zweiversiges Ritornell folgen, das einen anderen Endreim bringt (Schema b-[b]).

Petrarca behandelt im Madrigal noch vorrangig pastorale Themen. Die arkadischen Inhalte weichen jedoch mit der Zeit zunehmend autobiographischen, symbolischen, moralischen oder politischen Topoi.

Der Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » (Anhang B) stammt vermutlich von Francesco selbst. Es gibt jedoch auch Überlegungen, die Zweifel an seiner Autorschaft aufkommen lassen und aufgrund mangelnder Beweise kann ihre Authentizität nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Im Aufbau folgt der Text den Konventionen der Madrigalform. « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » besteht aus drei Strophen à einem Terzett, jeweils mit zweiversigem Ritornell. Zählt man die Silben, wobei man die zahlreichen Elisionen beachten muss, wird man feststellen, dass jeder Vers mit elf Silben bestückt ist. Einzig die Endreime des ersten und letzten Terzetts weichen vom traditionellen Reimschema ab.

In musikwissenschaftlichen Textbesprechungen wird immer wieder auf den „autobiographischen“ Inhalt des Madrigals hingewiesen. Der Terminus „autobiographisch“ ist jedoch sehr ungenau. Der Text kommuniziert einen kritisch-moralischen Inhalt auf metatextueller Ebene. Frau Musika beklagt sich über die Verderbtheit des Publikums, der „cavalieri, baroni e gran signori“ und über das mangelnde Bestreben der Künstler nach Perfektion, „tendo ogun le sue autenticitate“. Es finden sich sogar performative Sprachelemente, wie „inarrar musical note“. Dies hat wohl zu der weit verbreiteten Annahme geführt, es handle sich um einen autobiographischen Text.

Mit seinem kritischen Inhalt steht der Text in engem kulturellen Zusammenhang mit Themen, wie sie in den Rahmenhandlungen des « Decameron » oder in « Il paradiso degli Alberti » besprochen werden und kann deshalb als besonders repräsentativ gelten.

2.2.2 Die Musik

Im frühen Trecento entwickelt sich das Madrigal, später von der Ballata abgelöst, zur häufigsten Liedgattung. Seine musikalische Struktur ist ganz der italienischen Tradition der poesia per musica verpflichtet, d.h. vom Text geprägt. Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B, der in deutlicher Abgrenzung zu A meist in einer anderen Mensur steht. Die Verse werden derart vertont, dass es auf jeder ersten und vorletzten Silbe zu ausgedehnten Melismen kommt. Interpunktiert wird in der Regel am Versende auf reinen Konsonanzen.

Es gibt sowohl zweistimmige, als auch dreistimmige Kompositionen. Der Tenor erklingt meist eine Quarte oder Quinte unter dem Superior. Er hat begleitenden Charakter und ist im Unterschied zum französischen Stil textiert. Der Superior weist kürzere Notenwerte, einen lebhafteren und primären Charakter auf. Die Ambitus beider Stimmen haben vornehmlich den Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde. In einer zweistimmigen Komposition verlaufen diese beiden Stimmen kreuzungsfrei.

Eine dreistimmige Komposition entsteht aus der Ergänzung der Zweistimmigkeit durch eine dritte Stimme, den Contratenor. Dieser kann verschiedene Funktionen übernehmen. Er kann im Charakter sowohl einem zweiten Superior entsprechen, als auch eine ruhigere Mittelstimme sein oder aber als Fundament fungieren, ähnlich wie ein zweiter Tenor. Danach, welche Funktion der Contratenor übernimmt, unterscheiden sich die Arten des dreistimmigen Madrigals.

Vom italienischen Stil wird oft berichtet, er mute wie eine Improvisation an. Die freie Wahl von Kadenztönen, der ungebundene Umgang mit der Vertonung von Elisionen und relativ häufig auftretende offene Unisono-, Quint- oder Oktavparallelen begründen wohl dieses Empfinden.

Der repräsentative Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » und sein kritischer Inhalt evozieren bereits große Erwartungen an deren musikalische Umsetzung. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität von Francescos Komposition kann die Textabsicht souverän transportieren. Dass sie der Wertschätzung anderer Künstler gerecht wird, bezeugt die breite Überlieferung in mindestens fünf verschiedenen Quellen.

Schon die Dreistimmigkeit des Tripelmadrigals zeugt von hohem musikalischem Anspruch. Der Text der drei Strophen erklingt simultan in allen drei Stimmen, so dass es während des Vortrags zu einer besonderen Mehrtextigkeit kommt. Das ist ungewöhnlich.

In der Tradition der Madrigalform splittet sich das Musikstück in erwarteter Weise auf: Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B. Während Teil A eine imperfekte Mensur aufweist, wird in Teil B durch die Punktierung der ersten Longa (Anhang C3) eine Dreizeitigkeit erzeugt. In Ms. Mediceo-Palatino 87 hat der Kopist darüber hinaus ein Mensurzeichen gesetzt, das Dreizeitigkeit anzeigt.

Initialklang und Schlusskadenz des A-Teils werden von vollkommenen Konsonanzen gebildet. Am Anfang des B-Teils steht ein vollständiger Dreiklang mit großer Terz. Der Dreiklang ist aus England bekannt. Dass er hier einen Initialklang bildet, kann wohl als besonders gelten. In der finalen Kadenz enden die drei Stimmen in einem Unisono.

Der Tenor bildet als tiefste Stimme das Fundament der Komposition. Er verläuft ruhiger als der Superior und hat begleitenden Charakter. Der Superior ist bewegter, hat kürzere Notenwerte und zeugt von größerer rhythmischer Vielfalt. Der Contratenor wird als zweiter Superior gebraucht.

Contratenor und Superior sind sich also rhythmisch und melodisch sehr ähnlich. Häufig umspielen und kreuzen sie einander, ahmen einander nach. Bei der Nachahmung handelt es sich jedoch nicht um eine Kanontechnik, wie man sie in der Caccia antrifft, sondern eher um eine freie und bruchstückhafte Imitation kürzerer Floskeln. Auffällig treten diese Imitationen in den Takten 20-22, sowie 29-30 (Anhang C1) zwischen Superior und Contratenor in Erscheinung. Im B-Teil findet sich eine Imitation zwischen Superior und Tenor in den Takten 76-77. In Anhang C1 habe ich diese Stellen braun gekennzeichnet. Marginalere Imitationen unter den Stimmen lassen sich auf Floskelbildung zurückführen, auf die ich später noch ausführlich kommen werde.

Der Tenor mit genauem Ambitus einer Oktave berührt den Contratenor relativ häufig. In den Takten 43 und 76 kommt es zur Kreuzung zwischen beiden Stimmen. Den eine Quinte höher gelegenen Superior berührt der Tenor weniger oft. Es kommt nicht zur Stimmkreuzung. Einzige und sehr interessante Ausnahme bildet hier Takt 56 (Anhang C2), in dem der Tenor kurz vor Ende des A-Teils mit einer großen Geste zur höchsten Stimme aufsteigt.

Zwar haben Superior und Contratenor den gleichen Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde, die Ambitus sind im selben Stimmraum gelegen und die beiden Stimmen sind sich auch sonst sehr ähnlich. Da aber der Tenor öfter mit dem Contratenor als mit dem Superior in Berührung kommt, kann man daraus erkennen, dass der Contratenor durchschnittlich tiefer gelegen ist und sich meist zwischen Tenor und Superior ansiedelt.

Die im italienischen Stil übliche Textvertonung mit Melismen auf der ersten und vorletzten Silbe jedes Verses befolgt Francesco zwar, jedoch nicht äußerst streng. Auf vorletzter Silbe finden sich besagte Melismen, in Anhang C1 grün markiert, immer. Die Melismen auf der ersten Silbe, in Anhang C1 orange markiert, werden innerhalb des Stücks, besonders im B-Teil, z.T. übergangen.

Eine interessante Folge der Mehrtextigkeit des Stücks ist die lineare Klauselbildung. Die drei Stimmen, die den Text simultan vortragen, erreichen die Versenden, die ich in C1 blau markiert habe, zu unterschiedlicher Zeit. So kommt es, dass jede Stimme einzeln und für sich interpunktiert, wobei ich in dem Fall von den simultanen Kadenzen der Initial- und Finalklänge absehe.

Die Klauseln auf den Tönen d bzw. a, auf e in Takt 18 und cis in T. 75 zeugen von einem harmonischen Konzept. Von freier Wahl der Kadenztöne kann hier freilich nicht die Rede sein. Die Ambitus, sowie die Stimmräume der einzelnen Stimmen lassen eine klare Organisation der Kadenzbildung innerhalb des dorischen Modus erkennen.

Die Versenden und –anfänge sind jeweils durch Longapausen voneinander getrennt. Einzige Ausnahme bilden die Takte 37-38 im Tenor, wo Versende und –anfang durch ein untextiertes Zwischenspiel aneinander gebunden werden. Ein weiteres Zwischenspiel dieser Art findet sich in den Takten 21-24 im Tenor. Hier folgen jedoch vor Beginn des nächsten Verses die zwei Longapausen. Dass es untextierte Zwischenspiele gibt, stützt die Vermutung, dass die Stimmen während des Vortrags instrumental begleitet wurden.

Die in der französischen Motette so häufig angewandte Isorhythmie findet sich in diesem italienischen Lied nicht. Auch längere Synkopenketten, wie sie in Ars Subtilior-Kompositionen gepflegt wurden, sind hier nicht vorhanden. Der Rhythmus dieser Komposition ist eher von einer markanten rhythmischen Formel, ss saas v, geprägt (wobei s eine Sechzehntelnote, a eine Achtelnote und v eine Viertelnote repräsentiert). Diese Formel nimmt, da sie in linearer Abfolge oder mit mindestens einem Wendepunkt in ähnlicher Art immer wieder auftaucht, den Status einer Floskel ein. Sie findet sich in den Takten 6, 39, 69, 77 und 80 im Superior, in den Takten 2, 10, 11, 35, 46 und 49 im Contratenor und in Takt 76 in bedeutender imitatorischer Anwendung im Tenor.

Insgesamt werden die in der Ars Nova üblichen Notenwerte, Longa, Brevis, Semibrevis und Minima verwendet. Triolen oder andere kleinste Divisiones des „Brevis-Taktes“, wie sie in den Kompositionen der „ersten Generation“ üblich sind, bringt Francesco nicht. Das vorhandene rhythmische Material wird jedoch in verschiedenen Kombinationen ausgeschöpft, wobei meist sanfte Übergänge zwischen den Polwerten Longa und Minima gemacht werden.

In Teil A kommt es zwischendurch immer wieder zu beinahe homophonen Ruhepunkten, besonders auffällig zu beobachten in den Takten 3 und 23. Solche Ruhepunkte fehlen in Teil B völlig. Insgesamt lässt sich sagen, dass Teil B sowohl rhythmisch, als auch melodisch und in logischer Folge dessen harmonisch bewegter ist.

Das harmonische Gefüge des Stücks kann anhand der Transkription in moderner Notenschrift (Anhang C1) und der nach dieser Transkription edierten Midi-Notation (Anhang C2) sehr schnell in statistischen Aussagen über reine Klangsituationen zusammengefasst werden. So finden sich insgesamt 70 direkt angesungene vollkommene Konsonanzen in dem Stück, wobei es nur 3 mal zum Unisono kommt (T. 33, T. 70, T. 94) und 38 direkt angesungene unvollkommene Konsonanzen.

Die direkt angesungenen dissonanten Klänge halten sich in ihrer Zahl zurück. Diese, in Anhang C1 orange gekennzeichnet, treten hauptsächlich auf leicht gewichteten oder kurzen Notenwerten auf. Die einzig signifikante Dissonanz ist das direkte mi contra fa in Takt 69. Man mag aber annehmen, dass die damaligen Sänger, auch ohne vorgezeichnetes Akzidentium, solchen Zusammenklängen ausgewichen sind.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass es innerhalb des Stücks zu 41 direkt angesungenen vollständigen Dreiklängen kommt. Dies zeugt davon, dass der Harmonie hier besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ähnlich wie es innerhalb der Kontrapunktik in der frühen Neuzeit praktiziert wird. Ein weiterer Umstand, der für den hohen Anspruch der Komposition spricht.

Die Aussagekraft dieser Statistik (Anhang D) ist jedoch begrenzt. Zwar lassen sich ungefähre Verhältnisse erkennen, dennoch geben die Zahlen lediglich Hinweise auf die Quantität, nicht aber die Qualität einer harmonischen Erscheinung. So muss z.B. der initiale Dreiklang zu Beginn des B-Teils sehr viel schwerer gewichtet werden als die Dreiklänge die sich in Takt 67 ergeben.

2.3 Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87

Die Werke Francescos sind in mehreren Trecento-Quellen überliefert. Das Madrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den meisten als von Francesco stammend vermerkt. Die Authentizität seiner Autorschaft als Komponist kann dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Über die Entstehungszeit des Madrigals scheint Unklarheit zu herrschen. So gibt das Neue Handbuch der Musikwissenschaft an, es handle sich um ein eher spätes Werk, das um 1375 entstanden sei. Die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart meint jedoch, die Werke mit zweitem Superior seien vor 1375 entstanden. Da uns die Entstehungsumstände des Stücks nicht bekannt sind, ist es schwer eine vertrauensvolle zeitliche Einordnung vorzunehmen.

In der Prachthandschrift Ms. Mediceo-Palatino 87, dem „Squarcialupi-Codex“, leitet « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » das Kapitel des Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia ein. Da die Auswahl der aufgeführten Stücke bewusst getroffen und die Anordnung durchdacht und geplant ist, mag diese Stellung bezeichnend für die Bedeutung des Madrigals innerhalb des Œuvres des Komponisten sein.

Der Codex, benannt nach seinem ersten Besitzer Antonio Squarcialupi, später im Besitz der Medici, stellt die umfangreichste und prachtvollste Liedersammlung des Trecento dar. Er reiht Komponisten wie Giovanni da Cascia und Jacopo da Bologna, Gherardello da Firenze, Vincenzo da Rimini oder Antonius Zacharias de Teramo (Magister Zacara) auf. Insgesamt finden sich darin 354 Werke von 12 verschiedenen Komponisten, jeweils in „Kapiteln“ chronologisch angeordnet. Mehr als ein Drittel der Werke stammt von Francesco.

Die Pracht der 216 Pergamentfolianten liegt vor allem in ihrer reichen Ausstattung begründet. Jedes Kapitel wird von einer fein illuminierten und aufwändig mit Blattgold verzierten Miniatur, einem Portrait des Komponisten, eingeleitet. Aus diesen sog. historisierten Initialen können noch heute viele interessante Erkenntnisse gewonnen werden.

Der Anhang C3 stellt eine Abschrift der Gallo-Faksimile-Ausgabe des Squarcialupi-Codex dar. Sehr gut kann man erkennen, dass das Stück zwar, wie es in Italien üblich war, auf sechs Notenlinien notiert ist, dass es sich aber um französische Notation handelt. In diesem Fall ist das keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der Darstellungsmöglichkeiten.

Im italienischen Divisionssystem lassen sich Synkopen, die über den „Brevis-Takt“ hinausgehen, nicht oder nur sehr schwer darstellen. In « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » würden bei dem Versuch bereits in Takt 2 Probleme auftreten. Die rhythmischen Elemente des Superiors,  und des Contratenors, , sind nicht sinnvoll durch italienische Notation auszudrücken. Da dies nicht die einzige Stelle ist, an der Komplikationen auftreten würden, muss das gesamte Stück in französischer Notation festgehalten werden.

Dies ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Francesco nicht wie seine Vorgänger Jacopo da Bologna oder Giovanni da Cascia rhythmisiert. Für deren Stücke bot sich die italienische Notation noch an. Hier weicht Francesco jedoch in der Rhythmisierung bereits deutlich vom italienischen Stil, wie ihn die Komponisten der „ersten Generation“ prägten, ab. Eine Notation im Divisionssystem kommt für Francescos Musik bereits nicht mehr in Frage.

3. Conclusio

Francesco Landini hinterlässt uns mit dem Tripelmadrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » eine Trecento-Komposition, die einen sehr hohen musikalischen Anspruch verfolgt und den Wandel der Gattung Madrigal zu einer exklusiven und repräsentativen Form bezeugt. Vieles daran bedient noch die „alten“ Traditionen der Komponistengeneration, die bereits um 1340-50 in Norditalien gewirkt und den „typisch“ italienischen Stil begründet hat. Anderes daran ist neuartig und zeugt von einem individuellen Umgang mit französischen Einflüssen.

Da Francescos Autorschaft für den Text als nicht gesichert gelten kann, lassen sich hier wenig direkte Aussagen über sein Verhältnis zum italienischen Stil machen. Allein die Tatsache, dass er die im frühen Trecento äußerst beliebte Form des Madrigals und einen solch repräsentativen italienischen Text zur Vertonung gewählt hat, bringt die enge Verbundenheit mit italienischen Traditionen deutlich zum Ausdruck.

Die Struktur des Stücks und die Anlage der Stimmen folgt durchaus den bekannten Regeln der poesia per musica. Darüber hinaus bemüht sich Francesco um die Anwendung verschiedenster klanglicher Raffinessen, die neuartig wirken und den künstlerischen Anforderungen des Textes Genüge leisten. Dazu zählen die Mehrtextigkeit und die kühne Stimmkreuzung in Takt 56 genauso, wie die Anwendung der zahlreichen Dreiklänge oder der rhythmischen Floskel.

Von einem improvisatorischen italienischen Stil kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Stück mutet unerwartet organisiert und durchdacht an. Kompositorische Ungeschicktheiten, wie unangenehme dissonante Zusammenklänge oder Parallelbewegung in den Stimmen, sind dieser Komposition so gut wie fremd.

Die Abkehr vom italienischen Divisionssystem und aller damit verbundenen kompositorischen Eigentümlichkeiten und die Hinwendung zu rhythmischen Gestaltungsmitteln, die nur in französischer Notation sinnvoll ausgedrückt werden können, lassen hier einen direkten französischen Einfluss erkennen.

Das Werk « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » steht in der Linie italienischer Tradition und darüber hinaus für die große Begabung und die stilistische Individualität seines Komponisten.

Die Anhänge

Die Anhänge umfassen vier Teile. Ein PDF mit den kompletten Anhängen kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: Musica son – Appendices

  • A: Literatur- und Quellenverzeichnis
  • B: Madrigaltext und Übersetzung
  • C: Noten
    • C1: moderne Edition/Transkription
    • C2: Edition in „Midi“-Notation
    • C3: diplomatische Abschrift
  • D: Statistik

März 2004

Seminararbeit: Fumeuse speculations

Sonntag, 09. September 2007

Fumeuse speculation. An Essay on musical Semiotics and a semiotic Analysis of the 14th Century Rondeau „Fumeux fume“, Freie Universität Berlin, 2007 [Abschlußarbeit zum Hauptseminar „Issues in Musical Semiotics“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. David Lidov (University of Toronto)]

1. Introduction

This is an essay in the original sense of that word. I’m trying to cope with the task of analysing music with regard to its semiotic aspects for the first time in my life. Which are the scientific basics to build upon? Which are the analytical methods to adopt? I started my investigations in musical semiotics with the assumption that music and language are similar.

Though both are agreed to be systems of signs, there are reasonable doubts about their likeness. Yet, I had to rely on my knowledge of the one system to find out more about the other. After all, I’ve chosen a medieval rondeau to concentrate my attempt on. And in medieval music, lyrics and sound have a deep relation by tradition.

I have divided my essay into two parts. The first one will consist of general reflections on musical semiotics. Referring to two scientific sources, I will describe how processing of musical signs in the brain functions and how this strenghthened my conviction that musical signs have a Saussurian duality of form on the one hand and meaning on the other. Thereupon I will expose some ideas about musical form as a syntactic and musical meaning as a semantic problem. I will introduce the analytical points I chose for the second part of my essay – the analysis of „Fumeux fume“.

Though my task, in fact, was the semiotic analysis of a musical piece itself, I needed a general approach to come to terms with this complex challenge. Then, in the second part, I will regard the 14th century composition of „Fumeux fume“, a surprisingly early example of hallucinogetic aestethics, from a semiotic viewpoint. I will analyse its highly ambiguous lyrics and its eccentric music with regard to both syntax and semantics and demonstrate the relevance of the historic context to the meaning of the piece.

2. Part I – General Reflections

2.1 Neurocognition of Musical Signs

Music is language. Or at least something very similar, as a group of researchers at the Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences has set out in 2004. Interested in the processing of music and language, they exposed listeners to music interfered with nuisances, like unexpected or dissonant chords. Everytime a nuicance occurred, the researchers detected a high brain activity in an area opposite to Broca’s Area. The latter is known to be involved in the processing of grammatical errors in language. Though this is no proof for the legend of music processing on the right site being an exact mirror of language processing on the left, it gives some semiotical clue: If the brain objects musical nuicances in the same way it protests against linguistic ones, this in an evidence of a musical grammar or syntax.

Musical syntax is the body of rules responsible for the assembly of musical signs, more precisely, the form-part of the sign. But is there, on the other hand, a musical semantic, too? Other experiments of the MPI researchers showed that the brain reacts faster to known melodies, while it literally broods over unknown ones. Thus they assumed some kind of library for musical phrases and high profiles resulting in emotions and affections, but couldn’t approve their ideas, yet.

I got another hint about musical semantics from reading Jeff Hawkins „On Intelligence“. In his book, the former AI researcher of the Messachussetts Institute of Technology descibes how the cortex works. Processing of visual, auditive or somatosensory sensations occures in different layers of the cortex. Those layers are organized in a stemmatic hierarchy. Their task is to recognize patterns and sequences of signals and to make a prediction about what might impact on the senses next. The lower components get a more fragmented, but therefore detailed concept of the real world. They identify the cluster of the signal and pass it to the next higher layer. While going up the processing tree, the concept (of the sensational input) gets less and less detailed and fragmented, until it becomes a wholistic concept, like a face, a melody or a felt item in the association area.

The feedforward of recognizing patterns and sequences of signals is answered by an immediate feedback – the prediction, which runs down the processing tree. Since the processing areas of the cortex are connected in a vast network, they interact in feeding each other back and forth. The information of cracking wood in a dark forest may evoke the prediction of an animal coming to focus. It might as well lead to the dumping of epinepherine and a feeling of fear. For reacting is a feedback of the cortex, too – a set of instructions from the motor cotex. Associating a shaggy quadruped when we read the word „dog“ or „chien“ or „Hund“ is an action of recognition. Feeling something while listening to a melody is an action of recognition, too. What we associate with „dog“ leads us to the semantics of language. What we associate when we listen to music leads us to the semantics of music, whether this association is an abstract idea, an image or a feeling.

2.2 On Musical Semiotics

Music is not language. Indeed, both are systems of primarily acoustical signs and have their graphical substitutes. Both have rules for form and meaning and both relate to time, frequency and rhythm. But unlike linguistic signs, musical signs are not symbols in the first instance. For Peirce, a symbol is a sign that’s associated with its object by convention, not similarity or contiguity. Signs of language are symbols first and foremost. But we weren’t told by our parents to feel sad whenever we heared a descending minor triad, as we were to say „dog“ whenever we saw a representative of the canidae-family. Musical signs may be symbols, too. We can find agreements upon single aspects of music: My music teacher, for instance, claimed, that the „tatatada“, the first motive of the fifth symphony by Ludwig van Beethoven, refers to knocking fate. Nevertheless, there is no general code we agreed upon, considering musical interpretation, as there is considering language.

At a glimpse, musical semiotics seems to be something very individual and subjective. Yet, there is room for scientific approaches. The fact that we can tell Greek from Indian music, that we expect a tonica at the end of a song, that we turn sad on a big gesture or even that we have an idea of measurement when we see a crotchet in a score, all this is evidence for some kind of collectivity in musical association – inborn, acquired or both. Meaning rises from its relation to form. Semiotic analysis will therefore concentrate on the quality of the relation between musical form and meaning and the associations this relation evokes or may once have evoked.

To a considerable extent music depends on local, temporal and stylistic conventions and paradigms. We can analyse it by checking concords with similar pieces, as well as marking exceptions, anomalies or concious violations. Referring to known patterns explicitly by title, lyrics, links to other artwork or by non-verbal structures may be analysed. The choice of a fugue, a whole-tone-scale or a marimbaphone may be an allusion to a known pattern. Even graphical dimensions should not be ignored. Referring to patterns implicitly, is harder to come by, since it is not investigated systematically by musicology, yet. Music recalls associations of emotion that are not always individual; sometimes it recalls affects kind of directly. This may function by referring to or imitating so called „sentic shapes“, neural concepts of emotion. But without any neurological data this is highly speculative and only guesswork until now.

3. Part II – Analysis of Fumeux

3.1 Poetry

„Fumeux fume“ is a rondeau by Solage (fl. 1380 to 1400) bequeathed to us in the Chantilly Codex, a compilation of the ars subtilior. At the end of the 14th century the rondeau is one of the so called „formes fixes“, besides ballade and virelai. Those are highly elaborated forms of french secular poetry mostly set to music. The rondeau had a tradition before 1350. Solage’s predecessor Guillaume de Machaut (1300 – 1377) was the one to standardise and heighten it for courtly use in the second half of the 14th century.

In its structure of verse „Fumeux fume“ follows Machauts standards, being a poem of the form AB aA ab AB. The sections represented by the init-caps are the refrain. Traditionally refrains of rondeaus have the character of a saying. We can guess this character in the first
two lines of „Fumeux“, which build a more or less autonomous entity.

fumeux fume par fumee
fumeuse speculacion

Within these two lines there lies the very essence of the poem itself, both in form and content. They make up five out of eight lines of the poem (62.5%), whereas the first line is repeated three times, the second twice. The remaining three verses are bound inbetween and refer to it by final rhyme. The repetitions lend it a circular structure, typical for rondeaux. In this case it is even enriching the content.

So what does fumeux mean? There are two ways of translating the old French word into modern English, the first being „smoky“, the second „fuming“. Neither tobacco nor pipes were known in central europe until the end of the 15th century. If we stick to the first translation, we have to imagine substances like opium or hashish burnt in a censer-like tool. But it was uncommon (not impossible) to inhale the smoke of such substances, rather they were consumed eating or drinking. So the second translation initially seems more likely. It points to the old model of the four humors stemming from the Greek physician Hippocrates. Human behaviour, he thought, was conducted by bodily fluids: sanguine, choleric, melancholic and phlegmatic. Fuming may have been a fifth humor discussed in the period of the ars subtilior.


fumeux fume par fumee
fumeuse speculacion
qu’antre fummet sa pensee
fumeux fume par fumee
quar fumer molt li agree
tant qu’il ait son entencion

fumeux fume par fumee
fumeuse speculation

A closer look at the poem would reveal a text about a wrathful fuming grouch, whose thoughts are filled with wrath and who is not satisfied until he gets his way. The circular form of the rondeau would illustrate the durable endlessness of this grumpy nature. But then there seems to be more to it, for the text floats between the literal and the metaphorical meaning of fumeux. Phrases like „par fumee“ or „fummet sa pensee“ reveal the ambiguous nature of the word we stumbled upon first. The exessive use of voiceless fricatives [f] and [s] and plosives [p], [k] and [t] is remakable, too. This usage evokes the association of inhaling, breathing and smoking by the mere sound of the language itself. Astonishingly, all the pregnant words not dealing with fume have something else in common. Speculation, pensee, agree and entencion derive all from an abstract, intellectual context. So „Fumeux“ might not deal with just wrathful or just toxic vapours, but with clouding the senses in a broader meaning.

There is another interesting fact. Solage’s rondeau is not the only chanson in the Chatilly Codex dealing with fumeux. There is another one by Hasprois called „Puis que je suis fumeux“. Both fumeux-songs seem to allude to a set of poems by Eustache Deschamps. In 1368 he wrote „Le Chartre des Fumeux“, a kind of manifesto describing a society of eccentric, juvenile bohemians. Fume seems to be the humor of those drinking, dancing and debating aesthetes, expressing itself not in wrath, but in some kind of youthful jollity, folly and extraordinary way of life. It is not known wether this group really existed, it may as well be a pure brainchild of Deschamps. But then we virtually have a group of high-class poets, composers and aesthets at the end of the 14th century: Machaut compiling his own work, Deschamps debating poetry without music, Pizan criticising women’s role in the „Roman de la Rose“, the Duke of Berry appointing the „Très Riches Heures“, etc. All of them develop an extraordinary, artistic emanzipation and all of them point to the French royal court.

It is likely not only that Solage knew the work of Deschamps, but that his exclusive audience did, too. Whether it refers to smoking or to fuming it does especially one thing – presenting itself as an extraordinary piece of art. It is done by ambiguous arrangement, oscillation between literal and metaphorical meaning, by playful and creative exposure to features of poetical form and language, but especially by musical composition, as I will show now.

3.2 Music

The rondeau is poetica per musica, which means the text is supposed to come forth with music. Pleasantly, the Chantilly Codex passes down „Fumeux fume“ with musical notation. The graphical system is quite different from the system today: Music of the 14th Century has no bars and uses square notes – to mention only the most distinctive features. But unlike Baude Cordier’s „Belle, bonne, sage“ from the same source, „Fumeux fume“ shows no particularities, no symbolic meaning in notation. In fact, it looks quite normal with its three consecutively notated voices, its red notation and its prolatio. If it wasn’t for the accumulation of accidentals, the symmetric sequences and the low tessitura, none would expect a piece of extraordinary music from just glimpsing its source.

As every rondeau „Fumeux fume“ musically consists of two parts, A and B. As the text is structured AB aA ab AB those two parts are repeated identically for performance, resulting in a 3 times repetition of A in the middle of the piece. Part A has a length of 126 brevis, while B consists of only 88. This makes B a little more than two thirds as long as A, yet, missing golden ratio by 0,11. The tonal range of A is one and a half octaves, it is nearly two in B. It is most interesting that the final of A is vertically seen one tone lower than the final of B, cantus and contratenor changing registers. This new and unique option of cadencing will have struck contemporary auditors beyond doubt. Peter M. Lefferts even thinks testing it for Solage was the raison d’être of „Fumeux“.

But there are more distinctive features striking the ear. The hoquet-like sequence of descending breves in the end of A is not to be ignored. The same rhythmical motive appears six times in all three voices shifted by a brevis. It descends sequential in the cantus. And when reduced to its tonal scaffold, cantus and tenor are forming a sequence of descending thirds.

Another descending sequence can be found in the middle of B. This time the rhythmical motives are different in each voice. But similar to the first example this one is dominated by descending thirds and complementary sixths between cantus and tenor.

Thanks to the marked sequences, both parts, A and B, have a structured disposition of constitutive character: hovering around a high note, descending in a sequence, cadencing on a low note. The sequential descent is a troublesome step by step execution of a strange tonal material. Performers had and have to deal not only with chromatic semitones, but even with enharmonics. „Fumeux fume“ is musica ficta in its finest, recalling distant hexachords far off the Guidonian gamut.

It is not unusual for 14th century music to use musica ficta. Unusual is the consequency with which it is done here, the density of accidentals and the tonal distances reached therefore. The quantity of hexachordal mutation throughout the piece is remarkable. As the melody leads lower and lower, tonality leads far and far away.

All in all „Fumeux fume“ is noted on a remarkably low tessitura, reaching the E fa below Gamma ut in the tenor and contratenor and forcing the cantus down to the A re in the graves. Though it is not the only chanson reaching as low, all other examples occur in the same source – the Chantilly Codex. Ursula Günther therefore assumes that Solage’s rondeau may have been written for a special group of singers. Peter M. Lefferts however concludes, that „there is no compelling musical reason for this notation„. Singers could have transposed any musical composition to any comfortable level.

Anyways, the descent of melody, the distance of tonality, the grave register and the circular, repetitive structure of „Fumeux fume“ evoke an image of drowsiness, of fading away and loosing oneself. Music, by this realisation, destinctly embodies a hallucinogetic state, known to be caused by consumption of substances like hashish or opium. It is plausible to associate „Fumeux fume“ with some kind of hallucinogetic aesthetics, when listening to the music, rather than ideas of wrath or even rage. On the other hand it plys the audience with its artistic elaboration as if it wanted to say: „Hey, look at me, I’m extraordinary!“

4. Conclusion

„Fumeux fume“ is poetica per musica, finest poetry emphasised by excellent music. There are two main aspects of meaning in it. One arising from referential semantics, the other from some identificational process. Referential meaning points to two poles – the literal one of smoking and the metaphorical one of fuming. Both interpretations meet on a third point of vapoured drowsiness and/or confusion. May those confusing vapours be a result of drug consuming or the existence of bodily liquors. Some syntactical features of poetry and music encourage this assumption: the circular structure of the rondeau, the repetitions of refrain, rhyme and melody, the onomatopoetical use of consonants, the descent to remote tonality, the tonal and semantical ambiguity, and the allusion to intellectual contexts of fumeuse speculations and musica ficta.

Asides, there is this strong aspect of intellectual identification by defining correlation and differentiation. „Fumeux fume“ alludes to a manifesto of a colleague, adopting its bohemian character and giving it an individual note or interpretation. Only a small group of listeners will have noticed this allusion, knowing the „Chatre des Fumeux“ and perhaps understanding the complexity of alien and kind of „crazy“ musical features exectued in the chanson. The rondeau does not only fit into Deschamp’s image, it is actively participating in the idea of „Fumeux“ and addressing to insiders by marking itself.

Today, 700 years later, this second aspect of meaning could not have been noticed without the knowledge and investigation of medieval standards. Still „Fumeux fume“ is highly inspiring – it sure was back then.

5. Sources

  • Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences: „Spiegelbild der Sprache – Neurokognition von Musik“, Leipzig 2004; http://www.cbs.mpg.de/MPI_Base/NEU/institute/research_teams/team_koelsch
  • Jeff Hawkins/Sandra Blakeslee: „On intelligence. How a new understanding of the brain will lead to the creation of truely intelligent machines“, Times Books, New York 2004
  • Facsimile: „French Secular Music of the Late Fourteenth Century“, edited by Willi Apel, Cambridge/Massachussetts: Medieval Academy of America, 1950, plate V
  • Ian Laurie: „Deschamps and Comedy“, http://tell.fll.purdue.edu/RLA-Archive/1995/French-html/Laurie,Ian.htm
  • Ursula Günther: „Ars Nove – Ars Subtilior“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 1, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 1994
  • Yolanda Plumley: „Solage“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 15, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 2006
  • David Fallows: „Rondeau – Rondo“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 1998
  • Peter M. Lefferts: „Subtilitas in the tonal language of „Fumeux fume“, Early Music, 16 (1988), p. 176 – 183
  • Margo Schulter: „Hexachords, solmization, and musica ficta“, http://www.medieval.org/emfaq/harmony/hex1.html

Thanks to Prof. Dr. Martin Haase for translating some parts of Deschamps‘ „Chartre des Fumeux“ for me and thus helping me to understand it and to Prof. Dr. David Lidov giving his comments on this essay and thus helping me to improve it.

August 2007

Die Wurzeln der Bohème im Spätmittelalter

Dienstag, 03. Juli 2007

„Fumeux fume par fumee, fumeuse speculation“, lautet der Refrain eines außergewöhnlichen Rondeaus aus dem späten 14. Jahrhundert. Überliefert ist es im Codex Chanitlly (Musée Condé) unter dem Namen Solage (ich lese Solige). Über Solage, den Komponisten und vermutlich Dichter des Stückes, ist nicht viel bekannt, außer dem, was uns die Texte seiner Lieder offenbaren. Im Falle „Fumeux“ fragt man sich eventuell, was Solages Zeitgenossen damals wohl geraucht haben mögen, als Tabak in Mitteleuropa noch gar nicht bekannt war und die musikalische Anlage läßt zunächst einen Opium- oder Haschischrausch vermuten. Der Text hält aber mehr bereit.

Eifrige Romanisten haben nämlich herausgefunden, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Anspielung auf die „Chartre des Fumeux“ des französischen Dichters Eustache Deschamps handelt. Dieser verfaßte die Charta im Dezember 1368 als eine Art Manifest der exzentrischen Literatengruppe der „Fumeux“, die sich zum gemeinsamen Debattieren über Musik, Literatur und Sprache bei genüßlicher Einnahme bewußtseinserweiternder Substanzen traf. Es ist unklar, ob diese Clique nur eine künstlerische Idee des Dichters ist oder ob sie tatsächlich existierte. Fakt ist aber, dass im direkten Umfeld Eustaches Deschamps die Namen einer ganzen Reihe interessanter Literaten auszumachen sind und dass wir auf eine Zeit der literarischen Emanzipation zurückschauen.

Dante, Petrarca, aber auch Froissart und Chaucer fingen an, weltliche, von Musik unabhängige Lyrik in ihrer Nationalsprache zu verfassen. In Frankreich hatten die Lieder des Dichterkomponisten Guillaume de Machaut neue Maßstäbe gesetzt. Deschamps bezeichnete sich selbst als Machauts Neffe und war wohl auch in seiner Lehre, als dieser Kanon in Reims, der traditionellen Krönungsstadt der französischen Könige, war. Machaut hatte zunächst einige hohe Ämter bei Johann von Luxemburg inne, der Sohn des deutsch-römischen Kaisers, Heinrich VII, und selbst König von Böhmen war. Befreundet war Machaut auch mit dem späteren König Karl V., unter dessen Protektorat nun zufällig auch Eustache Deschamps und der Vater einer gewissen Christine de Pizans standen. Diese emanzipierte Autorin, Christine, ist nicht nur eine weitere Protagonistin unseres Pariser Literatenkreises, sondern auch frühe Feministin. Sie befaßte sich lange vor der Renaissance mit Studien der Antike und humanistischem Gedankengut, regte 1399 eine literarische Debatte um die Frauenverachtung im „Roman de la Rose“ an und verfaßte vor ihrem Tod die älteste, mir bekannte Utopie einer Gesellschaft, die Frauen gleiche Rechte gewährt. Sie hatte viele Gönner, u.a. Karls Bruder Johann, Graf von Berry, der Kunsthistorikern als bibliophiler Auftraggeber diverser, heute unbezahlbarer Handschriften bekannt sein dürfte, allen voran seine von den Brüdern Limburg illuminierten Très Riches Heures.

Ein weiterer Bruder Karls war Philipp II. der Kühne, Herzog von Burgund, auf dessen Umfeld einige Lieder unseres ersterwähnten Chantilly-Meisters Solage verweisen. Es ist daher anzunehmen, dass Solage unter Philipps Protektorat und damit ebenfalls in direkter Verbindung zu unserem Pariser Literatenkreis stand. Die Überlieferung zeigt jedenfalls mit Machaut, Deschamps, Pizan und Solage vier Gestalten, die sich allesamt im gehobenen Kreis der französischen Prinzen bewegten und deren künstlerischer Output für ihre Zeit außergewöhnlich exzentrisch und individuell war. Eventuell waren sie ja Teil der von Deschamps idealisierten „Fumeux“.

Seminararbeit: Das Liedgut des Jehannot de Lescurel

Montag, 14. Mai 2007

Das Liedgut des Jehannot de Lescurel. Zum musikalischen Anhang von Ms. F-Pn fr. 146 („Roman de Fauvel“), Freie Universität Berlin, WS 03/04
[Referat zum Proseminar „Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Überlieferungssituation und biographische Thesen

Der Dichter und Komponist Jehannot de Lescurel ist und lediglich aus einer einzigen Handschrift namentlich bekannt, aus dem Manuskript des Roman de Fauvel (Gervais du Bus), welches unter dem Einfluss Chaillou de Pestains mit musikalischen Interpolationen versehen und zusammengestellt wurde. Darin findet sich sein Name zwei Mal: Zum einen ist er als Verfasser der Balladen, Rondeaux und Dits entez (sus Refroiz de Rondeau) im Index aufgeführt, zum anderen findet sich in einem der Liedtexte ein Akrostichon, das „Dame, Jehann de Lescurel vous salue“ (Nr. 29), lautet.

Die Lieder Jehannots sind nicht, wie die anderen Musikstücke, in den Roman integriert, sondern befinden sich im Anhang zischen einem Dit des Geoffrey de Paris und einer anonymen, französischen Verschronik, die man ebenfalls Geoffrey zuschreibt. Die Stücke sind fast ausschließlich einstimmig. Eine einzige Ausnahme, das dreistimmige Rondeau, „A vous douce debonnaire“, werden wir uns nachher gemeinsam näher ansehen. Sowohl Liedkorpus als auch Index führen nach Alphabet und Genre geordnete Werke bis zum Buchstaben „G“ auf. Diese Anordnung und der Abbruch bei „G“ legen die Vermutung nahe, dass das Gesamtwerk Jehannots weitaus umfangreicher gewesen sein dürfte. Es sind uns immerhin 21 Balladen, elf Rondeaux (davon eines doppelt) und zwei Dits überliefert.

Zu zahlreichen, zum Teil wie phantastische Heldenmärchen anmutenden Spekulationen über Jehannots Herkunft und Biographie regten die Musikforschung zwei Pariser Chroniken an. Diese berichten von der Hinrichtung einiger Kleriker im Jahre 1303, die wegen sexueller Vergehen an Nonnen gehängt wurden, unter ihnen ein gewisser Jehan de L’Escurel. Eine Urkunde der Cathédrale Notre-Dame de Paris aus dem Jahre 1304 berichtet weiterhin, dass das Vermögen dieses Jehan an dieselbige Kirche übergegangen ist, was auf eine Verbindung zwischen dem Kleriker Jehan und Notre Dame de Paris hinweist.

Diese Dokumente und der Fakt, dass der Dichter Jehannot aufgrund der Datierung des Fauvel-Manuskripts und sprachlicher, sowie inhaltlicher Aspekte der Liedtexte im Paris um die Jahrhundertwende lokalisiert werden kann, gaben Anlass dazu, den Dichter Jehannot mit dem erhängten Kleriker Jehan gleichzusetzen. Als Vater nahm man den vermögenden Grundbesitzer Pierre a L’Escurel, als Mutter Aalis à L’Escurel an, die vermutlich als Buchhändlerin tätig war. Beide Namen tauchen in verschiedenen Pariser Steuerrollen der Jahre 1296-1300 auf, müssen aber nicht unweigerlich familiär verbunden sein, geschweige denn mit dem Kleriker in Verbindung stehen. Der Name L’Escurel war anscheinend durchaus nicht einzigartig in Paris.

Ein Aspekt, der laut Vorwort der Lescurel Gesamtausgabe CMM30 (N. Wilkins) für die Identität von Dichter und Kleriker spräche, sei das Material des Manuskripts Montpellier H. 196, das musikalisches Material der Cathédrale Notre-Dame aus dem 13. Jh. aufführt. Jehannots Stil tauche dort in einigen Motetten auf, die Werke selbst sind jedoch anonym überliefert.

Fakt ist leider, dass es bisher keine sicheren Zeugnisse gibt, die Rückschlüsse auf die Identität des Dichters Jehannot de Lescurel zulassen, dessen Werke uns in Ms. F-Pn fr. 146 überliefert sind. Alle Hinweise bleiben bisher rein spekulativ.

2. Balladen und Rondeaux
2.1 Jehannot und die formes fixes

Mit dem Werk des Dichters und Komponisten Guillaume de Machaut, der von ~1300 bis 1377 in Frankreich lebte, wird im Bereich der Liedkunst die Entwicklung von Ballade, Virelai und Rondeau zu gattungsspezifischen, festen Liedformen, den so genannten formes fixes weitestgehend abgeschlossen. Die Lieder Jehannots bezeugen einen dieser Endphase vorangehenden Entwicklungsstand.

Im gesamten Liedœuvre des Roman de Fauvel, so auch bei Jehannot, wird nur zwischen Rondeaux einerseits und Balladen andererseits unterschieden. Der zweite Typus enthält dabei sowohl Stücke mit der Struktur der barförmigen Ballade mit Endrefrain, als auch der späteren chansons balladés, genannt Virelai.

Die Ursprünge der beiden Gattungen sind unklar, doch sowohl das altfranzösische Wort „Rondeau“, als auch das provenzalische „Ballade“ findet sich seit Mitte des 12. Jh. in literarischen Quellen belegt. Der Gebrauch der Begriffe deutet zunehmend eine literarische Emanzipation der Formen an. Mit ihnen verbinden sich bald Anspruch und Wert einer qualitativ verfeinerten, poetischen Sprache. So hebt die Schöpfung von Balladen bspw. laut König Alfons X. von Kastilien den Trobador bereits 1275 über den gewöhnlichen Spielmann hinaus.

Während das Rondeau als Begleitlied eines Rundtanzes (carole) relativ schnell zu einer feststehenden Form findet, ist dieser Prozess im Falle der Ballade weniger distinkt. Ihre Formen sind zunächst mannigfaltig. Neben Tanzliedern mit refrainartig-exklamatorischen Einwürfen, stehen Strophen mit festen Refrains oder Voltas (in Metrik, Reim und Musik identisch), bis sich irgendwann eine Art Grundform herausbildet, mit Refrain (R), Stollen (A), Gegenstollen (A‘), Strophenabschluss (B) und Refrain (R), wobei der Refrain selbst und der zu ihm zurückführende Strophenabschluss äußerst variabel bleiben (R AA’B R).

Den meisten Balladen Jehannots, sowie der Ballade „Ay amours“ aus dem Roman de Fauvel fehlt ein Refrain am Anfang des Liedes. Erst am Schluss wird ein solcher aufgeführt. Dieser ist jedoch so gestaltet, dass sich der erste Vers melodisch an den Refrain anschließen könnte, stünde dieser davor. Die Strophe selbst ist jedoch wie schon bei Guillaume li Vinier und Adam de la Halle barförmig (AAB) aufgebaut. Dieser Balladentypus wird später die Grundlage für die Ballades Guillaume de Machauts bilden.

Der andere unter dem Begriff Ballade bei Jehannot vertretene Typus, unterscheidet sich von dem erstgenannten dahingehend, dass sowohl am Anfang, als auch am Ende des jeweiligen Stückes ein Refrain auftritt, während der Strophenabschluss eine Volta darstellt, d.h. eine Versperiode, die in Metrik Reim und Musik mit dem Refrain identisch ist und nicht nur, wie in der barförmigen Ballade, auf diesen zurückführt. (A bb’a A) Diesem Typus entspricht die italienische Ballata und der sich später bei Machaut etablierende chanson balladé, genannt Virelai.

Während Virelai und Ballade auch im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts eher zur Einstimmigkeit tendieren, wird für das Rondeau die Mehrstimmigkeit bald zur Regel. Bereits im Liedkorpus Jehannots ist ein erstes, mehrstimmiges Rondeau aufgeführt, bei welchem die Melodien in einem Note-gegen-Note-Satz melismatisch zusammentreten. Dazu nun ein wenig mehr.

2.2 Analyse des Rondeaus „A vous douce debonnaire“

[audio:lescurel-w1.mp3]

Abb. 1: Noten (transkribiert + diplomatisch) [JPG]

Kommen wir nun zur Analyse des 3-stimmigen Rondels „A vous douce debonnaire“, die ich mit euch gemeinsam machen möchte. Da wir es hier nicht mit einer Motette zu tun haben (alle drei Stimmen singen denselben Text), können wir uns nicht, wie wir es aus den vorangegangenen Seminaren gewohnt sind, am Tenor des Stückes entlanghangeln. Wie ich jedoch bereits erwähnte, sind die Liedformen des frühen 14. Jahrhunderts literarisch emanzipierte Formen, d.h. die formale Struktur der Lieder sollte bereits in den Texten erkenntlich sein. Daher bitte ich euch zunächst, 5 Minuten selbstständig den Text zu beschauen. Die Gliederung dürfte in den Silbenzahlen, Reimen und Versparallelen deutlich werden.

A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.

Vo vair euil mi font atraire
a vous, dame debonnaire:
Ne ja ne m’en quier retraire   
   ains vous serviré
   tant com[me] vivré.
A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.
A: 1 7_a
B: 2 5b
B: 3 5b
a: 4 7_a
A: 5 7_a
a: 6 7_a
b: 7 5b
b: 8 5b
A: 9 7_a
B: 10 5b
B: 11 5b

Wir sehen also, dass es sich eindeutig um eine uns schon von Machaut bekannte Liedform, das Rondeau (AB aA ab AB) handelt, bei der am Anfang und am Ende des Stückes ein Refrain auftreten, dessen erster Teil am Ende der ersten Strophe wiederholt wird. Betrachten wir uns nun gemeinsam, wie sich die Musik auf diesen Text verteilt:

  • Was erklingt auf den ersten Vers?

Auf den ersten Vers verteilt sich die Musik der ersten 10 Takte (30 Brevis). Dabei ist die Vertonung melismatisch und die Melismen durchziehen den ganzen Text. Auf der 4. Silbe kommt es zu einer Kadenz auf E/G (T.5/15B). Ebenso kommt es auf der 8. Silbe (7_) zu einer Kadenz auf C/E (T.10/30B), mit der der erste Vers endet. Der Satz schreitet weitestgehend simultan (Note-gegen-Note) voran.

  • Was erklingt auf den zweiten und dritten Vers?

Auf den zweiten Vers verteilt sich die Musik der Takte 11-14 (12 Brevis). Die Vertonung ist am Anfang des Verses (T.11-12) weniger melismatisch als am Schluß, der Satz noch immer simultan. Der Vers endet auf der Kadenz A/F. Auf den dritten Vers verteilt sich die Musik der Takte 15-20 (18 Brevis). Die Melismen sind wieder über den ganzen Vers verteilt, der Satz bleibt simultan und endet auf F/C.

Mit Noten versehen ist also nur der Refrain, doch die Textur der übrigen Verse verrät uns, dass sie auf dieselben Melodien gesungen werden. Es kommt also zur Abfolge: ABaAabAB, wobei im B-Teil die zwei kurzen Verse zusammengefasst sind.

Beide Teile weisen ein binär-harmonisches Verhältnis auf, so umfasst die Musik des A- und des B-Teils jeweils 30 Brevis (10 Takte). Jeder Teil hat zwei Kadenzen, die eine Länge von 2×15, 12 und 18 Brevis haben und denen jeweils eine Brevis Pause als Gliederungselement nachfolgt. Darüber hinaus bleibt das Stück pausenlos. Die Schlusskadenz ist identisch mit der Initialis und einzige perfekte Konsonanz (1-5-8). Alle übrigen Kadenzen und Initialis-Klänge sind imperfekte Konsonanzen (1-3-8). Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn man sich die Fundamenttöne des Stückes in einem Schema betrachtet.

Abb. 2: Fundamenttöne [jpg]

An diesem Schema wird neben den Kadenzen auch der Stimmverlauf sehr deutlich. So ist bspw. zu bemerken, dass Tenor und Cantus sich kreuzen, während das Triplum immer über diesen beiden Stimmen schwebt. Ebenfalls deutlich werden die extremen Sprünge des Tenors, die nur durch die melismatischen Verziehrungen der Melodie kaschiert werden. Es wäre daher plausibel, wenn diese Stimme von einem Instrument gespielt würde. Der Cantus bleibt in jedem Falle textierte Stimme, denn dieser ist uns als drittes Werk in Jehannots Liedkorpus als Einzelstimme überliefert. Dies zeigt auch, dass der Cantus die bedeutungstragende Stimme des Rondeaus ist, um die sich Triplum und Tenor gruppieren.

An unserem Fundamentton-Schema ist aber noch eine sehr interessante Auffälligkeit zu erkennen. Diese betrifft den ersten Teil des B-Teils, jenen, den wir schon vorhin als weniger melismatisch entlarvt haben. Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass Triplum und Tenor sich an dieser Stelle spiegeln. In den Takten 11-12 reicht diese Spiegelung bis in die Semibrevisgruppe hinein. Doch nicht nur das, auch die Fundamenttöne des Cantus spiegeln mit denen des Tenors, während sich beide Stimmen dabei sogar überkreuzen. Der Cantus erhebt sich hier über den Tenor. Dies und die Raffung der Passage bewirken an dieser Stelle eine unglaubliche, innere Spannung.

Es ist eigenartig, dass dieser Teil nur 12 Brevis hat, wo er doch ebenso viele Silben zählt, wie der darauffolgende. Eine Teilung in 2×15 Brevis wäre auch hier möglich gewesen und hätte damit sogar eine Symmetrie mit dem A-Teil aufgewiesen. Doch Jehannot entschied sich anders und er tat dies vermutlich aus poetischen Gründen.

Wenn wir uns an Christopher Pages Urteil zu dem anonymen Rondeau „Las, que me demanderoye“ erinnern, so bemängelte er daran, die starke Geste des A-Teils, die sich in ihrer formell bedingten, ständigen Wiederholung irgendwann selbst erbricht. Jehannot setzt die große Geste zu Beginn des B-Teils und erzielt damit nach der dreimaligen Wiederholung des A-Teils beim erneuten Einsetzen des B-Teils einen Effekt von geradezu überragender Wirkung.

2. 3 Zur musikwissenschaftlichen Bedeutung Jehannots

Das Œuvre Jehannots stellt in jedem Falle ein wichtiges Zeugnis für die vielschichtige Umbruchszeit zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit und zwischen schriftloser und schiftgebundener Praxis in der Musik um 1300 dar. Die Entwicklung der monodischen Gattungen wird daran ebenso deutlich, wie die Entwicklung neuer Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Jehannot sagt sich in seinen Liedern von dem engen Korsett modaler Schemata los und durchbricht darüber hinaus sogar deren ternäre Rhythmen. Durch die Vorteile der Mensuralnotation können nun erstmals auch kleinteilige Verziehrungen unterhalb der dreigeteilten Brevis notiert werden. Diese finden sich z.B. als Melismen über den ganzen Text verteilt, was die Lieder weitaus cantabler macht, als die älteren Conductus, die nur am Anfang und am Ende Melismen aufweisen. Kleine Notenwerte finden sich aber auch innerhalb schnell deklamierter, syllabischer Passagen. Eine Technik, die Jehannot von Petrus de Cruce übernimmt und hier zum ersten Mal auf die Monodie anwendet.

Mit seinem dreistimmigen Rondeau dürfte uns zudem wohl einer der frühsten, mehrstimmigen Liedsätze überliefert sein. Die hohe Qualität und die Kohärenz der Komposition lassen vermuten, dass Jehannot bereits gute Erfahrungen auf dem Gebiet der Mehrstimmigkeit hatte. Seinen Innovationsstatus beweist auch die Etablierung der zwei neuen Balladentypen. Sowohl die barförmige Ballade mit Endrefrain, als auch das Virelai begegnen uns als musikalisch-dichterische Formen bei Jehannot zum ersten Mal.

Sollte sich die zweifelhafte These der Identität von Dichter und Kleriker jemals bestätigen, wären diese zahlreichen Neuerungen bereits in der Zeit um Ende des 13. Jahrhunderts anzusiedeln. Also noch bevor sie im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts durch Philippe de Vitry und Johannes de Muris im Sinne einer „Ars Nova“ ausformuliert und etabliert werden.

Doch auch wenn sich dieser Verdacht nicht erhärten lässt und die Lieder also erst in den 1310er Jahren entstanden sein sollten, so dürfte Jehannot dennoch unter die frühen Wegbereiter der so genannten „Ars Nova“ gezählt werden.

3. Notation & Fragen zu Metrik und Rhythmik

Die frankonische Notation kennt grundlegend vier Notenwerte (Maxima, Longa, Brevis und Semibrevis) und drei Mensurverhältnisse (Maximodus, Modus und Tempus). Aus der Theorie wissen wir, dass eine Brevis den Teilwert von zwei oder drei Semibrevis haben kann. Die kürzeste Note, die demnach möglich wäre, wäre also eine Semibrevis im Tempus perfectum.

In der modifizierten Notation des Fauvel-Manuskripts, also auch in Jehannots Rondeau W1, finden sich Gruppen mit 2, 3 und sogar 4 Semibrevis, die insgesamt den Wert einer Brevis haben. Dies zeigt, dass es hier einen Notenwert geben muß, der kürzer ist, als der 3. Teil einer Brevis im Tempus perfectum. In der Theorie der „Ars Nova“ entspräche dieser Wert einer Minima. Ihr Notenzeichen existiert zu Jehannots Zeiten jedoch noch nicht, weshalb ihr Wert nicht eindeutig notiert werden kann.

Im Nachhinein bleibt fraglich, ob dennoch schon ein Verständnis für die Prolatio, also das Verhältnis zwischen Semibrevis und Minima, existierte oder nicht. Diese Leerstelle muß unweigerlich zu einem Transkriptionsproblem führen. Schauen wir uns an, wie Friedrich Gennrich, Nigel Wilkins und Elisabeth Aubrey es zu lösen versuchten.

Abb. 3: Transkriptionen: Gennrich, Wilkins, Aubrey [JPG]

Alle drei gehen davon aus, dass es sich im Falle von W1 um ein Tempus imperfectum handelt. Vermutlich lehnen sie sich mit dieser Entscheidung an eine Äußerung Philippe de Vitrys, der über die Motette „Adesto – Alleluia Benedictus“, die sich ebenfalls im Fauvel-Manuskript findet und ebenfalls solche Semibrevisgruppen aufweist, sagt, dass ihr Tempus imperfekt wäre. Darüber hinaus treten Gruppen mit zwei Semibrevis weit häufiger auf, als solche mit dreien. Dagegen spräche jedoch, dass in der „Ars Antiqua“ imperfekte Tempora eher selten waren. Letztlich kann das Tempus in W1 nicht zweifelsfrei bestimmt werden, da Semibrevis nie einzeln, sondern immer nur in Gruppen auftreten.

Was nun die Prolation betrifft, bewegen wir uns auf noch glatterem Eis. Während Gennrich eine imperfekte Prolation annimmt, übersetzt Aubrey eine perfekte. Wilkins nimmt hingegen für die Dreiergruppen imperfekte, für die Vierergruppen aber perfekte Prolation an, was inkonsequent erscheint.

Völlig unklar bleibt aber so oder so, inwiefern hier Alterations- und Diminutionsregeln auf die Prolation anwendbar sind. Gennrich alteriert in der Dreiergruppe, wohl von der Cauda verleitet, die erste Semibrevis, lässt aber in den Zweier- und Vierergruppen die Caudas unbeachtet. Wilkins und Aubrey beachten die Caudas in den Dreier- und Vierergruppen, nicht aber in den Zweiergruppen.

Ein sachkundiger Blick in das Manuskript zeigt aber, dass die Caudas mit zaghafter und von der Haupthand verschiedener Hand eingefügt wurden. Willi Apel betrachtet sie nicht als original. Dies würde bedeuten, dass sich unter Beachtung der frankonischen Diminutions- und Alterationsregeln andere Figuren für die Prolatio ergeben müssten. Probieren wir das mal selbst aus.

Abb. 4: Versuche zur Übertragung [JPG]

Bei all diesen Versuchen sind wir nun immer davon ausgegangen, dass es zu der Zeit bereits ein Verständnis für die Prolation gab, so dass also auch Diminutions- und Alterationsregeln auf die angewandt werden können. In den theoretischen Quellen wird darüber jedoch nichts berichtet und es ist durchaus anzunehmen, dass es ein solches Verständnis nicht gab. Zumal Stücke überliefert sind, in denen solche Semibrevisgruppen syllabisch vertont wurden. Dass es aber aufführungstechnisch möglich gewesen sein soll, in solchen Fällen Differenzierungen im Bereich von „16tel-Triolen“ zu singen, erscheint aus rein praktischen Gründen zweifelhaft. Wahrscheinlicher wäre, dass die Semibrevisgruppen in solchen Fällen einer unabhängig von einem Prolationsverständnis als undifferenzierte Teilwerte der Brevis verstanden wurden, ähnlich wie man es sich bei den Stücken Petrus‘ de Cruce vorstellen kann.

WS 03/04

Schwarze Mensuralnotation

Mittwoch, 08. März 2006

Wie funktioniert eigentlich so die schwarze Mensuralnotation.

Schwarze Mensuralnotation

Guillaume de Machaut ~ Messe de Nostre Dame

Samstag, 30. April 2005

Dies ist die erste der beiden Reden, die ich für meine Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005 vorbereitete. Sie beinhaltet eine Biographie Guillaumes, eine Werkeinführung in die Messe und die Analyse des letzten Satzes „Ite missa est“. Alle drei Teile sind knapp und sollten lediglich die Grundlage für ein sich entwickelndes Prüfungsgespräch zum Thema bilden.

Guillaume de Machaut (~1300 – 1377)

Das erste Zeugnis, welches wir von der Existenz Guillaumes haben, ist eine päpstliche Bulle aus dem Jahre 1330, in der ihm, dem Gesuch seines Dienstherren, Jean de Luxemboug entsprechend, ein Kanonikat an der Kathedrale von Verdun in Aussicht gestellt wird. Ähnliche Dokumente finden sich aus den Jahren 1332 und 33 die Städte Arras und Reims betreffend. Die Edikte berichten, dass zu Guillaumes Verantwortungsbereichen im Hofstaat des Königs, die Stellen des „clerc, amounier, secrétaire und notaire gehören“. In einer weiteren Schriftrolle von 1335 heißt es, Guillaume diene dem König schon seit 12 Jahren, was uns auf das Jahr 1323 zurückführt.

Um seine Aufgaben zu bewältigen, musste Machaut schon zu dieser Zeit eine außergewöhnlich hohe Bildung mitbringen, die nur innerhalb einer kirchlichen Einrichtung zu erhalten war – in welcher, bleibt unklar.

Ein Dokument aus dem 15. Jh. zählt Guillaume unter den Dichtern der Champagne auf, weshalb heute Machaut oder Reims als Geburtsstadt angenommen werden. Eine frühe Beziehung zu Reims belegt bereits die Motette „Bone Pastor“. Zugleich legt der hohe kompositorische Standart im Stile Philippe de Vitrys die Vermutung nahe, dass Guillaume Zeit in Paris verbracht hat. Der Titel des Magister, der ein abgeschlossenes Studium an der Universität bedeuten würde, ist jedoch äußerst schwach belegt und nie in den Selbstaussagen zu finden.

Dieser Bildungsweg lässt vermuten, dass Guillaume um 1300 geboren ist. Er könnte aber auch jünger oder sogar älter sein. Wie auch immer diese frühe Lebensphase ausgesehen haben mag, sie änderte sich, als Guillaume in den Dienst des Königs trat. Denn dieser pflegte (selbst für einen mittelalterlichen König) viel zu Reisen und in seinem Gefolge pendelte Guillaume zwischen Frankreich, Luxemburg und Böhmen. Er gelangte sogar bis nach Deutschland, Österreich und Litauen. 1323/24 führten ihn diplomatische Reisen an den französischen Königshof nach Paris, wo es zu einem Treffen mit Philippe de Vitry gekommen sein könnte. Die Dichtungen dieser Zeit dokumentieren die Rolle des Dichters am Hof und konzentrieren sich, am Ideal der amour courtoise festhaltend, auf die Darstellung des höfischen Lebens.

In den 1340er Jahren war Johann von Luxemburg von zunehmender Blindheit geschlagen. Ungefähr zu dieser Zeit finden sich erste Zeugnisse von Guillaumes Aufenthalt in Reims, wo er im Jahre 1337 das Kanonikat übernommen hatte. Sein Amt als Kanonikus war mit liturgischen Pflichten verbunden, vor allem mit der Feier des Offiziums. Seine Stellung bot ihm eine materielle Basis für die literarische und musikalische Produktion, so dass in dieser Zeit zunehmend umfangreichere Dits entstanden, die noch immer Bezug auf den Hochadel nahmen.

1346 stirbt Johann von Luxemburg Legenden zufolge sehr glorreich bei der Schlacht von Crécy, in die er blind geritten sein soll. Zur Bezugsfigur wird seine Tochter Bonne, die als Auftraggeberin mit der Handschrift C in Verbindung gebracht wird. In diesem und weiteren Manuskripten, die sich erstaunlicherweise allein dem Werk Guillaumes widmen, sind die wichtigsten Zeugnisse für das musikalische und literarische Schaffen aufgeführt, das „Livre dou Voir Dit“ und „La Louage des Dames“. Um 1372, dem Jahr, in dem Guillaumes Bruder stirbt, entsteht der „Prologue“, ein Vorwort, das den Dichter und Komponisten sein Gesamtwerk reflektieren lässt und neben den Dits wichtige Einblicke in sein Selbstverständnis liefert.

1377 stirbt Guillaume in Reims.

Messe de Nostre Dame

Die Messe de Nostre Dame wird heute aufgrund der Quellenlage (sie erscheint erst im 1370er Manuskript Vg) und stilistischer Begebenheiten auf die 1360er Jahre datiert. Sie fällt damit in die Reimser Phase. Die Annahme, dass es sich um eine Messe zur Krönung Karls V im April 1364 in der Kathedrale von Reims handelt, gilt heute als weitgehend widerlegt. Zwischen dem Tod Johannes II und der Krönung Karls wären weniger als 6 Wochen für den Auftrag und die Komposition geblieben, was angesichts der Reife des Werkes nicht realistisch erscheint. Anne Walters-Robertson legte 2002 ihre Untersuchungen vor, die die These stützen, es handle sich um eine Marienmesse, die im Gedenken der Brüder Machaut jeden Samstag in der Roella der Kathedrale gesungen wurde.

Die Messe ist innerhalb des Oeuvres Guillaumes singulär und bleibt es bis über das Ende des 14. Jh. hinaus auch. Das Erstaunliche daran ist, dass er sechs Ordinarientexte wählt (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus-Benedictus, Agnus Dei und Ite, missa est) und diese zu einem einzigen kompositorischen Gesamtzyklus verbindet. Ob diese innovative Idee tatsächlich von Guillaume stammt, ist heute schwer zu sagen. Quellen könnten verloren gegangen sein und die Sicht auf die Dinge fälschen. Fakt ist aber, dass er wohl einer der Ersten war, der sich an ein solches Projekt wagte.

Für die Vertonung bedient sich Guillaume zweier zeitgemäßer Kompositions-Techniken – des Simultanstils für die wortreichen Sätze (Gloria + Credo) und des Stils der isorhythmischen Motette für die wortärmeren Sätze (Kyrie, Sanctus, Agnus + Ite missa). Jedem der Stücke liegt ein gregorianischer Choral zugrunde, der im Tenor ausgeführt wird. In den ersten drei Stücken steht dieser im dorischen, in den letzten dreien im lydischen Modus. Das Amen des Credos bildet eine Art harmonische Überleitung zwischen diesen zwei Modi. So deuten initialis und finalis (d) des Chorals auf das Dorische, der Rezitationston (c) jedoch auf das Lydische hin.

Das Credo-Amen ist darüber hinaus auch das am stärksten systematisierte Stück des gesamten Zyklus‘. Tenor und Contratenor tauschen in chiastischem Wechsel die rhythmischen Formeln (taleae) und in pan-isorhythmischer Strenge folgen die Oberstimmen diesem komplexen Prinzip. Insgesamt werden nur 8 verschiedene rhythmische Figuren verwandt. Die anderen isorhythmischen Sätze sind bei weitem nicht so streng. Zwar erklingen in den Oberstimmen an Hoquetus-/Synkopen-Passagen immer wieder isorhythmische Formeln, jedoch kommt es nicht nur Ausbildung einer vollständigen Isorhythmie, wie im Amen.

Für die Sätze im simultanen Stil ist wichtig zu bemerken, dass sie durch den Einsatz zweistimmiger, untextierter Gelenkstücke (Passagen, die auf den Einsatz von Instrumenten hindeuten) Teiligkeiten ausbilden. Otto Gombosi wies in den 1940ern eine Strophigkeit des Glorias nach, wobei sich jede Strophe aus einem ouvert (beliebiger Kadenz) und zwei clos (Kadenz auf finalis) zusammensetzt. Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Credo der Messe Nostre Dame und dem der so genannten Messe von Tournai konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Zwar nutzen beide Stücke ähnliche melodische Wendungen und machen beide Gebrauch von Gelenkstücke zur Gliederung, jedoch scheint es sich dabei um gewöhnliche Gesten der zeitgenössischen Musik zu handeln, was die Sache wenig beweiskräftig macht.

Das Prinzip der Isorhythmie möchte ich – mit ihrem Einverständnis – nun am Analysebeispiel des Satzes „Ite Missa est“ erklären.

Ite missa est

Die 21-tönige Choralmelodie im lydischen Modus, die color genannt wird und im Tenor liegt, teilt sich in zwei Abschnitte mit jeweils 10 Tönen, die gleichartig rhythmisiert sind (so genannte taleae). Nach der Abfolge der ersten 20 color-Töne erklingt die finalis.

Diesem Bauprinzip schließt sich der Contratenor an, der eine freie Melodie aus zwei Mal 16 Tönen talea plus finalis wählt. Er verläuft zum Tenor phasengleich, d.h er ist zur gleichen Zeit mit seiner ersten talea fertig, wie der Tenor. Die beiden Unterstimmen bilden das harmonische Fundament, welches am Anfang jeder talea in derselben harmonischen Folge (F-g-a-(C)-F) verläuft.

Die Oberstimmen sind ein wenig freier gestaltet. In den ersten vier Takten verfolgen sie jeweils ein freies rhythmisches Modell. Die darauf folgenden vier sind jedoch isorhythmisch. Auch sie verlaufen phasengleich.

Damit kommt in jeder Phase zu einer Art Spiegelung zwischen den ersten vier Takten der Unterstimmen und den letzten vier Takten der Oberstimmen.