Seminararbeit: Das Liedgut des Jehannot de Lescurel

Montag, 14. Mai 2007

Das Liedgut des Jehannot de Lescurel. Zum musikalischen Anhang von Ms. F-Pn fr. 146 („Roman de Fauvel“), Freie Universität Berlin, WS 03/04
[Referat zum Proseminar „Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Überlieferungssituation und biographische Thesen

Der Dichter und Komponist Jehannot de Lescurel ist und lediglich aus einer einzigen Handschrift namentlich bekannt, aus dem Manuskript des Roman de Fauvel (Gervais du Bus), welches unter dem Einfluss Chaillou de Pestains mit musikalischen Interpolationen versehen und zusammengestellt wurde. Darin findet sich sein Name zwei Mal: Zum einen ist er als Verfasser der Balladen, Rondeaux und Dits entez (sus Refroiz de Rondeau) im Index aufgeführt, zum anderen findet sich in einem der Liedtexte ein Akrostichon, das „Dame, Jehann de Lescurel vous salue“ (Nr. 29), lautet.

Die Lieder Jehannots sind nicht, wie die anderen Musikstücke, in den Roman integriert, sondern befinden sich im Anhang zischen einem Dit des Geoffrey de Paris und einer anonymen, französischen Verschronik, die man ebenfalls Geoffrey zuschreibt. Die Stücke sind fast ausschließlich einstimmig. Eine einzige Ausnahme, das dreistimmige Rondeau, „A vous douce debonnaire“, werden wir uns nachher gemeinsam näher ansehen. Sowohl Liedkorpus als auch Index führen nach Alphabet und Genre geordnete Werke bis zum Buchstaben „G“ auf. Diese Anordnung und der Abbruch bei „G“ legen die Vermutung nahe, dass das Gesamtwerk Jehannots weitaus umfangreicher gewesen sein dürfte. Es sind uns immerhin 21 Balladen, elf Rondeaux (davon eines doppelt) und zwei Dits überliefert.

Zu zahlreichen, zum Teil wie phantastische Heldenmärchen anmutenden Spekulationen über Jehannots Herkunft und Biographie regten die Musikforschung zwei Pariser Chroniken an. Diese berichten von der Hinrichtung einiger Kleriker im Jahre 1303, die wegen sexueller Vergehen an Nonnen gehängt wurden, unter ihnen ein gewisser Jehan de L’Escurel. Eine Urkunde der Cathédrale Notre-Dame de Paris aus dem Jahre 1304 berichtet weiterhin, dass das Vermögen dieses Jehan an dieselbige Kirche übergegangen ist, was auf eine Verbindung zwischen dem Kleriker Jehan und Notre Dame de Paris hinweist.

Diese Dokumente und der Fakt, dass der Dichter Jehannot aufgrund der Datierung des Fauvel-Manuskripts und sprachlicher, sowie inhaltlicher Aspekte der Liedtexte im Paris um die Jahrhundertwende lokalisiert werden kann, gaben Anlass dazu, den Dichter Jehannot mit dem erhängten Kleriker Jehan gleichzusetzen. Als Vater nahm man den vermögenden Grundbesitzer Pierre a L’Escurel, als Mutter Aalis à L’Escurel an, die vermutlich als Buchhändlerin tätig war. Beide Namen tauchen in verschiedenen Pariser Steuerrollen der Jahre 1296-1300 auf, müssen aber nicht unweigerlich familiär verbunden sein, geschweige denn mit dem Kleriker in Verbindung stehen. Der Name L’Escurel war anscheinend durchaus nicht einzigartig in Paris.

Ein Aspekt, der laut Vorwort der Lescurel Gesamtausgabe CMM30 (N. Wilkins) für die Identität von Dichter und Kleriker spräche, sei das Material des Manuskripts Montpellier H. 196, das musikalisches Material der Cathédrale Notre-Dame aus dem 13. Jh. aufführt. Jehannots Stil tauche dort in einigen Motetten auf, die Werke selbst sind jedoch anonym überliefert.

Fakt ist leider, dass es bisher keine sicheren Zeugnisse gibt, die Rückschlüsse auf die Identität des Dichters Jehannot de Lescurel zulassen, dessen Werke uns in Ms. F-Pn fr. 146 überliefert sind. Alle Hinweise bleiben bisher rein spekulativ.

2. Balladen und Rondeaux
2.1 Jehannot und die formes fixes

Mit dem Werk des Dichters und Komponisten Guillaume de Machaut, der von ~1300 bis 1377 in Frankreich lebte, wird im Bereich der Liedkunst die Entwicklung von Ballade, Virelai und Rondeau zu gattungsspezifischen, festen Liedformen, den so genannten formes fixes weitestgehend abgeschlossen. Die Lieder Jehannots bezeugen einen dieser Endphase vorangehenden Entwicklungsstand.

Im gesamten Liedœuvre des Roman de Fauvel, so auch bei Jehannot, wird nur zwischen Rondeaux einerseits und Balladen andererseits unterschieden. Der zweite Typus enthält dabei sowohl Stücke mit der Struktur der barförmigen Ballade mit Endrefrain, als auch der späteren chansons balladés, genannt Virelai.

Die Ursprünge der beiden Gattungen sind unklar, doch sowohl das altfranzösische Wort „Rondeau“, als auch das provenzalische „Ballade“ findet sich seit Mitte des 12. Jh. in literarischen Quellen belegt. Der Gebrauch der Begriffe deutet zunehmend eine literarische Emanzipation der Formen an. Mit ihnen verbinden sich bald Anspruch und Wert einer qualitativ verfeinerten, poetischen Sprache. So hebt die Schöpfung von Balladen bspw. laut König Alfons X. von Kastilien den Trobador bereits 1275 über den gewöhnlichen Spielmann hinaus.

Während das Rondeau als Begleitlied eines Rundtanzes (carole) relativ schnell zu einer feststehenden Form findet, ist dieser Prozess im Falle der Ballade weniger distinkt. Ihre Formen sind zunächst mannigfaltig. Neben Tanzliedern mit refrainartig-exklamatorischen Einwürfen, stehen Strophen mit festen Refrains oder Voltas (in Metrik, Reim und Musik identisch), bis sich irgendwann eine Art Grundform herausbildet, mit Refrain (R), Stollen (A), Gegenstollen (A‘), Strophenabschluss (B) und Refrain (R), wobei der Refrain selbst und der zu ihm zurückführende Strophenabschluss äußerst variabel bleiben (R AA’B R).

Den meisten Balladen Jehannots, sowie der Ballade „Ay amours“ aus dem Roman de Fauvel fehlt ein Refrain am Anfang des Liedes. Erst am Schluss wird ein solcher aufgeführt. Dieser ist jedoch so gestaltet, dass sich der erste Vers melodisch an den Refrain anschließen könnte, stünde dieser davor. Die Strophe selbst ist jedoch wie schon bei Guillaume li Vinier und Adam de la Halle barförmig (AAB) aufgebaut. Dieser Balladentypus wird später die Grundlage für die Ballades Guillaume de Machauts bilden.

Der andere unter dem Begriff Ballade bei Jehannot vertretene Typus, unterscheidet sich von dem erstgenannten dahingehend, dass sowohl am Anfang, als auch am Ende des jeweiligen Stückes ein Refrain auftritt, während der Strophenabschluss eine Volta darstellt, d.h. eine Versperiode, die in Metrik Reim und Musik mit dem Refrain identisch ist und nicht nur, wie in der barförmigen Ballade, auf diesen zurückführt. (A bb’a A) Diesem Typus entspricht die italienische Ballata und der sich später bei Machaut etablierende chanson balladé, genannt Virelai.

Während Virelai und Ballade auch im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts eher zur Einstimmigkeit tendieren, wird für das Rondeau die Mehrstimmigkeit bald zur Regel. Bereits im Liedkorpus Jehannots ist ein erstes, mehrstimmiges Rondeau aufgeführt, bei welchem die Melodien in einem Note-gegen-Note-Satz melismatisch zusammentreten. Dazu nun ein wenig mehr.

2.2 Analyse des Rondeaus „A vous douce debonnaire“

[audio:lescurel-w1.mp3]

Abb. 1: Noten (transkribiert + diplomatisch) [JPG]

Kommen wir nun zur Analyse des 3-stimmigen Rondels „A vous douce debonnaire“, die ich mit euch gemeinsam machen möchte. Da wir es hier nicht mit einer Motette zu tun haben (alle drei Stimmen singen denselben Text), können wir uns nicht, wie wir es aus den vorangegangenen Seminaren gewohnt sind, am Tenor des Stückes entlanghangeln. Wie ich jedoch bereits erwähnte, sind die Liedformen des frühen 14. Jahrhunderts literarisch emanzipierte Formen, d.h. die formale Struktur der Lieder sollte bereits in den Texten erkenntlich sein. Daher bitte ich euch zunächst, 5 Minuten selbstständig den Text zu beschauen. Die Gliederung dürfte in den Silbenzahlen, Reimen und Versparallelen deutlich werden.

A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.

Vo vair euil mi font atraire
a vous, dame debonnaire:
Ne ja ne m’en quier retraire   
   ains vous serviré
   tant com[me] vivré.
A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.
A: 1 7_a
B: 2 5b
B: 3 5b
a: 4 7_a
A: 5 7_a
a: 6 7_a
b: 7 5b
b: 8 5b
A: 9 7_a
B: 10 5b
B: 11 5b

Wir sehen also, dass es sich eindeutig um eine uns schon von Machaut bekannte Liedform, das Rondeau (AB aA ab AB) handelt, bei der am Anfang und am Ende des Stückes ein Refrain auftreten, dessen erster Teil am Ende der ersten Strophe wiederholt wird. Betrachten wir uns nun gemeinsam, wie sich die Musik auf diesen Text verteilt:

  • Was erklingt auf den ersten Vers?

Auf den ersten Vers verteilt sich die Musik der ersten 10 Takte (30 Brevis). Dabei ist die Vertonung melismatisch und die Melismen durchziehen den ganzen Text. Auf der 4. Silbe kommt es zu einer Kadenz auf E/G (T.5/15B). Ebenso kommt es auf der 8. Silbe (7_) zu einer Kadenz auf C/E (T.10/30B), mit der der erste Vers endet. Der Satz schreitet weitestgehend simultan (Note-gegen-Note) voran.

  • Was erklingt auf den zweiten und dritten Vers?

Auf den zweiten Vers verteilt sich die Musik der Takte 11-14 (12 Brevis). Die Vertonung ist am Anfang des Verses (T.11-12) weniger melismatisch als am Schluß, der Satz noch immer simultan. Der Vers endet auf der Kadenz A/F. Auf den dritten Vers verteilt sich die Musik der Takte 15-20 (18 Brevis). Die Melismen sind wieder über den ganzen Vers verteilt, der Satz bleibt simultan und endet auf F/C.

Mit Noten versehen ist also nur der Refrain, doch die Textur der übrigen Verse verrät uns, dass sie auf dieselben Melodien gesungen werden. Es kommt also zur Abfolge: ABaAabAB, wobei im B-Teil die zwei kurzen Verse zusammengefasst sind.

Beide Teile weisen ein binär-harmonisches Verhältnis auf, so umfasst die Musik des A- und des B-Teils jeweils 30 Brevis (10 Takte). Jeder Teil hat zwei Kadenzen, die eine Länge von 2×15, 12 und 18 Brevis haben und denen jeweils eine Brevis Pause als Gliederungselement nachfolgt. Darüber hinaus bleibt das Stück pausenlos. Die Schlusskadenz ist identisch mit der Initialis und einzige perfekte Konsonanz (1-5-8). Alle übrigen Kadenzen und Initialis-Klänge sind imperfekte Konsonanzen (1-3-8). Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn man sich die Fundamenttöne des Stückes in einem Schema betrachtet.

Abb. 2: Fundamenttöne [jpg]

An diesem Schema wird neben den Kadenzen auch der Stimmverlauf sehr deutlich. So ist bspw. zu bemerken, dass Tenor und Cantus sich kreuzen, während das Triplum immer über diesen beiden Stimmen schwebt. Ebenfalls deutlich werden die extremen Sprünge des Tenors, die nur durch die melismatischen Verziehrungen der Melodie kaschiert werden. Es wäre daher plausibel, wenn diese Stimme von einem Instrument gespielt würde. Der Cantus bleibt in jedem Falle textierte Stimme, denn dieser ist uns als drittes Werk in Jehannots Liedkorpus als Einzelstimme überliefert. Dies zeigt auch, dass der Cantus die bedeutungstragende Stimme des Rondeaus ist, um die sich Triplum und Tenor gruppieren.

An unserem Fundamentton-Schema ist aber noch eine sehr interessante Auffälligkeit zu erkennen. Diese betrifft den ersten Teil des B-Teils, jenen, den wir schon vorhin als weniger melismatisch entlarvt haben. Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass Triplum und Tenor sich an dieser Stelle spiegeln. In den Takten 11-12 reicht diese Spiegelung bis in die Semibrevisgruppe hinein. Doch nicht nur das, auch die Fundamenttöne des Cantus spiegeln mit denen des Tenors, während sich beide Stimmen dabei sogar überkreuzen. Der Cantus erhebt sich hier über den Tenor. Dies und die Raffung der Passage bewirken an dieser Stelle eine unglaubliche, innere Spannung.

Es ist eigenartig, dass dieser Teil nur 12 Brevis hat, wo er doch ebenso viele Silben zählt, wie der darauffolgende. Eine Teilung in 2×15 Brevis wäre auch hier möglich gewesen und hätte damit sogar eine Symmetrie mit dem A-Teil aufgewiesen. Doch Jehannot entschied sich anders und er tat dies vermutlich aus poetischen Gründen.

Wenn wir uns an Christopher Pages Urteil zu dem anonymen Rondeau „Las, que me demanderoye“ erinnern, so bemängelte er daran, die starke Geste des A-Teils, die sich in ihrer formell bedingten, ständigen Wiederholung irgendwann selbst erbricht. Jehannot setzt die große Geste zu Beginn des B-Teils und erzielt damit nach der dreimaligen Wiederholung des A-Teils beim erneuten Einsetzen des B-Teils einen Effekt von geradezu überragender Wirkung.

2. 3 Zur musikwissenschaftlichen Bedeutung Jehannots

Das Œuvre Jehannots stellt in jedem Falle ein wichtiges Zeugnis für die vielschichtige Umbruchszeit zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit und zwischen schriftloser und schiftgebundener Praxis in der Musik um 1300 dar. Die Entwicklung der monodischen Gattungen wird daran ebenso deutlich, wie die Entwicklung neuer Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Jehannot sagt sich in seinen Liedern von dem engen Korsett modaler Schemata los und durchbricht darüber hinaus sogar deren ternäre Rhythmen. Durch die Vorteile der Mensuralnotation können nun erstmals auch kleinteilige Verziehrungen unterhalb der dreigeteilten Brevis notiert werden. Diese finden sich z.B. als Melismen über den ganzen Text verteilt, was die Lieder weitaus cantabler macht, als die älteren Conductus, die nur am Anfang und am Ende Melismen aufweisen. Kleine Notenwerte finden sich aber auch innerhalb schnell deklamierter, syllabischer Passagen. Eine Technik, die Jehannot von Petrus de Cruce übernimmt und hier zum ersten Mal auf die Monodie anwendet.

Mit seinem dreistimmigen Rondeau dürfte uns zudem wohl einer der frühsten, mehrstimmigen Liedsätze überliefert sein. Die hohe Qualität und die Kohärenz der Komposition lassen vermuten, dass Jehannot bereits gute Erfahrungen auf dem Gebiet der Mehrstimmigkeit hatte. Seinen Innovationsstatus beweist auch die Etablierung der zwei neuen Balladentypen. Sowohl die barförmige Ballade mit Endrefrain, als auch das Virelai begegnen uns als musikalisch-dichterische Formen bei Jehannot zum ersten Mal.

Sollte sich die zweifelhafte These der Identität von Dichter und Kleriker jemals bestätigen, wären diese zahlreichen Neuerungen bereits in der Zeit um Ende des 13. Jahrhunderts anzusiedeln. Also noch bevor sie im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts durch Philippe de Vitry und Johannes de Muris im Sinne einer „Ars Nova“ ausformuliert und etabliert werden.

Doch auch wenn sich dieser Verdacht nicht erhärten lässt und die Lieder also erst in den 1310er Jahren entstanden sein sollten, so dürfte Jehannot dennoch unter die frühen Wegbereiter der so genannten „Ars Nova“ gezählt werden.

3. Notation & Fragen zu Metrik und Rhythmik

Die frankonische Notation kennt grundlegend vier Notenwerte (Maxima, Longa, Brevis und Semibrevis) und drei Mensurverhältnisse (Maximodus, Modus und Tempus). Aus der Theorie wissen wir, dass eine Brevis den Teilwert von zwei oder drei Semibrevis haben kann. Die kürzeste Note, die demnach möglich wäre, wäre also eine Semibrevis im Tempus perfectum.

In der modifizierten Notation des Fauvel-Manuskripts, also auch in Jehannots Rondeau W1, finden sich Gruppen mit 2, 3 und sogar 4 Semibrevis, die insgesamt den Wert einer Brevis haben. Dies zeigt, dass es hier einen Notenwert geben muß, der kürzer ist, als der 3. Teil einer Brevis im Tempus perfectum. In der Theorie der „Ars Nova“ entspräche dieser Wert einer Minima. Ihr Notenzeichen existiert zu Jehannots Zeiten jedoch noch nicht, weshalb ihr Wert nicht eindeutig notiert werden kann.

Im Nachhinein bleibt fraglich, ob dennoch schon ein Verständnis für die Prolatio, also das Verhältnis zwischen Semibrevis und Minima, existierte oder nicht. Diese Leerstelle muß unweigerlich zu einem Transkriptionsproblem führen. Schauen wir uns an, wie Friedrich Gennrich, Nigel Wilkins und Elisabeth Aubrey es zu lösen versuchten.

Abb. 3: Transkriptionen: Gennrich, Wilkins, Aubrey [JPG]

Alle drei gehen davon aus, dass es sich im Falle von W1 um ein Tempus imperfectum handelt. Vermutlich lehnen sie sich mit dieser Entscheidung an eine Äußerung Philippe de Vitrys, der über die Motette „Adesto – Alleluia Benedictus“, die sich ebenfalls im Fauvel-Manuskript findet und ebenfalls solche Semibrevisgruppen aufweist, sagt, dass ihr Tempus imperfekt wäre. Darüber hinaus treten Gruppen mit zwei Semibrevis weit häufiger auf, als solche mit dreien. Dagegen spräche jedoch, dass in der „Ars Antiqua“ imperfekte Tempora eher selten waren. Letztlich kann das Tempus in W1 nicht zweifelsfrei bestimmt werden, da Semibrevis nie einzeln, sondern immer nur in Gruppen auftreten.

Was nun die Prolation betrifft, bewegen wir uns auf noch glatterem Eis. Während Gennrich eine imperfekte Prolation annimmt, übersetzt Aubrey eine perfekte. Wilkins nimmt hingegen für die Dreiergruppen imperfekte, für die Vierergruppen aber perfekte Prolation an, was inkonsequent erscheint.

Völlig unklar bleibt aber so oder so, inwiefern hier Alterations- und Diminutionsregeln auf die Prolation anwendbar sind. Gennrich alteriert in der Dreiergruppe, wohl von der Cauda verleitet, die erste Semibrevis, lässt aber in den Zweier- und Vierergruppen die Caudas unbeachtet. Wilkins und Aubrey beachten die Caudas in den Dreier- und Vierergruppen, nicht aber in den Zweiergruppen.

Ein sachkundiger Blick in das Manuskript zeigt aber, dass die Caudas mit zaghafter und von der Haupthand verschiedener Hand eingefügt wurden. Willi Apel betrachtet sie nicht als original. Dies würde bedeuten, dass sich unter Beachtung der frankonischen Diminutions- und Alterationsregeln andere Figuren für die Prolatio ergeben müssten. Probieren wir das mal selbst aus.

Abb. 4: Versuche zur Übertragung [JPG]

Bei all diesen Versuchen sind wir nun immer davon ausgegangen, dass es zu der Zeit bereits ein Verständnis für die Prolation gab, so dass also auch Diminutions- und Alterationsregeln auf die angewandt werden können. In den theoretischen Quellen wird darüber jedoch nichts berichtet und es ist durchaus anzunehmen, dass es ein solches Verständnis nicht gab. Zumal Stücke überliefert sind, in denen solche Semibrevisgruppen syllabisch vertont wurden. Dass es aber aufführungstechnisch möglich gewesen sein soll, in solchen Fällen Differenzierungen im Bereich von „16tel-Triolen“ zu singen, erscheint aus rein praktischen Gründen zweifelhaft. Wahrscheinlicher wäre, dass die Semibrevisgruppen in solchen Fällen einer unabhängig von einem Prolationsverständnis als undifferenzierte Teilwerte der Brevis verstanden wurden, ähnlich wie man es sich bei den Stücken Petrus‘ de Cruce vorstellen kann.

WS 03/04

Anno 1014 – Die Schlacht von Kleidion

Donnerstag, 10. Mai 2007

Anno 1014 – Die Schlacht von Kleidion

Wir kennen aus Geschichten so manche Wundermähr.
Drum will auch ich berichten, von Mühen groß und schwer,
von Heldentat und Kriegen, vom Leid, das alle quält,
von ehrenhaften Siegen; davon sei euch nun hier erzählt.

Es trug sich in den Zeiten, da ich geboren ward,
ein kämpferisches Streiten von kriegerischer Art
hier zu, in unsern Landen, dem Kaiserreiche Rom,
und viele Männer fanden den Tod im Tal beim blutgen Strom.

Seit über hundert Jahren hat man uns schwer bedrängt,
von Seiten der Bulgaren den Hass auf uns gelenkt.
Und Basileios‘ Mannen die rückten jährlich ein,
das Feindesheer zu bannen und Macedonien zu befrein.

Da ging es mit den Siegen mal hin und auch mal her,
mal war uns Gott gediegen und mal dem fremden Heer.
Doch eines Tages standen (dies Lied erzählt davon)
des Zaren grimme Banden zur Wehr beim Pass von Kleidion.

Sie hatten Palisaden, postierten Mann und Pferd
und hielten, uns zum Schaden, den Weg ins Land versperrt.
Die Unsren ritten brausend am Bergespass entlang
und gegen Zwanzig-Tausend; da war so manchem Angst und Bang.

Am Waldrand ging ein leiser, kaum merklich schwacher Wind,
am Feld, wo Zar und Kaiser zusamm‘ gekommen sind.
Und beide Lager blickten sich dort ins Angesicht,
wo Tiere sich erquickten im sommerlichen Sonnenlicht.

Schon hob man die Standarte, das heißt, wir griffen an,
die Hörner spielten Quarte zur Schlacht von Mann zu Mann.
Da brach in Windeseile herein in unsern Sturm
ein Haufen flinker Pfeile vom fernen Bogenschützenturm.

Die Vorhut, stark und mutig, ließ dies nicht unberührt;
so Viele fielen blutig. Der Streich war gut geführt.
Doch auch des Kaisers Streiter erreichten bald ihr Ziel:
Fußvolk, Schützen, Reiter vom Heer des Zaren Samuil.

Derweil hat Nicephorus Xiphias unbemerkt
im Schutz des dichten Torus aus Felsen, Blätterwerk
und Sträuchern seine Truppen, zu jeder List bereit,
um des Berges Kuppen herum geführt zur andern Seit‘.

Den Rücken ihrer Feinde, ganz heimlich, wie es schien,
erstürmte die Gemeinde der Stadt des Konstantin.
Bulgariens Armeen warn sichtlich überrascht.
Man hatte ungesehen von hinten listig sie erhascht.

Sie liefen auf der Lichtung umher und aufgescheucht
in jede Himmelsrichtung, ins nahende Gesträuch.
Rasch wurden sie gefangen. Dies wendete das Blatt
und setzte nach dem Bangen des Zaren Truppen restlos matt.

Doch ist an dieser Stelle das Lied noch nicht vorbei.
Es sei fortan noch Quelle für Tode, derer zwei,
Gewalt (Mein lieber Leser, sei mutigen Gemüts!),
und Ehr‘ durch unsern Cäsar. Der hohe Herr vergüt’s!

Der Zar mit seinem Sohne herrschenden Geschlechts
entrann der Kampfeszone im Eifer des Gefechts.
Er nahm des Jungen Rappen. Der hatte große Kraft,
Geschirr und Augenklappen; hat beide knapp nur fort geschafft.

Das Römerheer zog weiter den Pass entlang und nahm
rund 15.000 Streiter gefangen, wie es kam.
Und hinter Belasitsa erstürmte es zum Schluss
die Festung von Strumitsa im Tal beim Struma-Fluss.

Der Kaiser schickte weise den ersten General
nach Süden auf die Reise ins weite Axius-Tal.
Dort sollte er, um endlich Bulgarien zu zerstörn,
die letzten Truppen gänzlich zerschlagen, dann nach hause kehrn.

Dies tat er, doch bezahlte er leiblichen Tribut.
Der Kaiser aber aalte sich bald in seiner Wut.
Er tobte wie ein Drache, er schäumte wie ein Tier
und schwor den Mördern Rache, wie man sie nie gesehen hier.

Den Preis für den begangnen Mord am General
den zahlten die gefangnen Bulgaren hundert Mal.
Er ließ sie alle blenden, die 15.000 Mann,
und schickte sie auf Händen und Füßen kriechend heimwärts dann.

Von hundert Mann je einem ließ er ein Augenlicht,
um auf dem Weg die Seinen zu führen dicht an dicht
nach Prilep heim zum Zaren, der tief erschrocken war,
als seine treun Bulgaren er allesamt geblendet sah.

Der Zar, ungleich dem Kaiser, besaß ein weiches Herz;
es brach – er stöhnte heiser, dann fiel er niederwärts.
Er starb und kam zu Tode beim Anblick solcher Pein.
Die grausame Methode erschütterte ihm Mark und Bein.

Hier endet, lieber Leser, mein Lied der großen Schlacht
von Kleidion, als Cäsar des Römer-Reiches Macht
gestärkt hat. Herrn und Damen verstehen nun zumeist,
warum man ihn mit Namen seit dem Bulgarenschlächter heißt.

Januar 2006

Zur Entstehung

Im letzten Jahr rief die Stadt Uslar anlässlich ihres 1000jährigen Bestehens zu einem Literaturpreis mit dem Thema „Historie um 1006“ auf. Aufgabe war es, ein reales historisches Ereignis literarisch umzusetzen und zwar in Prosa oder, haltet euch fest, „epischer Lyrik“. Also habe ich diesen Widerspruch für mich mal als metrische Epik interpretiert, weil das in Bezug auf die Zeit um 1006 wohl das naheliegenste ist. Und wie will man auch historische Fakten lyrisch umsetzen?

Ich graste also mal die Wikipedia nach zeitlich passenden Ereignissen ab, deren literarische Umsetzung ich mir vorstellen könnte. Neben einem Großbrand in Hab-ich-vergessen und zahlreichen Papst-Toden, fand ich auch diese entscheidene Schlacht, die das Ende der byzantinisch-bulgarischen Kriege mehr oder weniger besiegelte, indem sie das 1. Bulgarische Reich enden ließ. Ich Recherchierte also in den angesagten Nachschlagewerken der Byzantinistik, um möglichst viel über diese Schlacht, die Rüstungen, Waffen, Strategien, Denkweisen, etc. zu erfahren.

Formal entschied ich mich für die Nîbelungenstrophe und auch die Sprache versuchte ich an diesen Stil anzupassen. Die erste Strophe ist sehr eng an das Original gelehnt: „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit | von helden lobebaeren, von grozer arebeit, | von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, | von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen.“ Personen, Plätze, grobe Ereignisse sowie das Selbstverständnis des Erzählers (Byzantiner bezeichneten sich als Römer) sind der historischen Überlieferung entnommen. Der Rest ist frei erfunden.

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Der schöne Weiher

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev12.mp3]
Der schöne Weiher

   Es hat sich Narziß in die Tiefen gestürzt,
dort hält er sein Abbild umschlungen;
   ergeben dem Sehnen. Dies hat nun verkürzt
das Leben des bildschönen Jungen.

   Der Weiher, selbst Spiegel des Jünglings, beginnt
von Trauer gepackt seine Klage.
   In salzigen Tränen zerfließt er geschwind
und weinet so mehrere Tage.

   Die Nymphen, vom Schluchzen des Weihers gelockt,
versammeln sich rasch bei dem Guten
   und finden, ans Ufer des Wassers gehockt,
verwandelt die plätschernden Fluten.

   Sie kommen zu trösten, ihn süß zu erfreu’n;
schon lösen sie hastig die Strähnen,
   die goldenen Zöpfe, ganz ohne zu scheu’n
und rufen mit wallenden Mähnen:

   „Was weinest du Weiher, was seufzest du Naß?
In Tränen bist du gar verwandelt.“
   „Ich weine, sprach dieser, den Umständen, daß
er fort ist, der einst hier gewandelt.“

   „Daß du um ihn trauerst, das wundert uns nicht.
Er war wunderschön, dein Narcissus!“
   Der sinnende Weiher sprach ruhig und schlicht:
„War er denn so schön, mein Narcissus?“

   „Ach, Weiher, wer wüßte dies besser als du?
Zu dir kam er täglich bestaunen
   sein Spiegelbild. Uns aber ließ er in Ruh‘
und gönnt‘ uns den lüsternen Faunen.

   Wir lockten auf Höhen, im grünenden Wald
ihn singend und spielten die Leier.
   Es trugen die zartesten Füßchen als bald
den Knaben zu dir, guter Weiher.“

   Die Worte bedenkend schwieg lange der See,
gedachte dem treuen Begleiter.
   Es tat die Erinnerung schrecklich ihm weh…
Er seufzte, doch dann sprach er weiter:

   „Ich liebte Narcissus und weine für wahr;
wenn er sich am Ufer darniedergeleit,
   dann war mir sein Dunkel der Augen so klar,
ein Spiegel der eigenen Schönheit.“

XII | Apr. 2004

Zur Entstehung

Ich bin kein Geschichtenerzähler, Lyriker ja, aber das mit dem Geschichten erzählen kriege ich nicht hin. Episches entwickelt sich immer mehr oder weniger als Verlauf, auch wenn dieser nicht chronologisch dargestellt wird, so ist er linear und kann in chronologische Reihenfolge gebracht werden. Lyrik ist eine Entwicklung des Moments, ein Affekt, der sich quasi ballongartig von einem Punkt aus aufbläht und nicht von einem Punkt A zu einem Punkt B kommt. Das Lyrische liegt mir.

Dennoch wollte ich schon lange eine Ballade schreiben, eine kleine Erzählung im gebundenen Vers, in der Figuren auftreten und miteinander agieren. Was macht man, wenn einem selbst keine Geschichte einfällt. Ganz klar, man klaut sich eine. Diese hier habe ich von Oscar Wilde geklaut und kennengelernt habe ich sie als Intro des Coelho Romans „Der Alchimist“. Lange habe ich im Netz nach dem Original gesucht und unter dem Titel „The Pupil“ wurde ich fündig. Die Herrliche Doppeldeutigkeit dieses Titels ist im Deutschen schwer nachzumachen. „The Pupil“ ist einerseits die Pupille, in der sich der Betrachter spiegelt, Narziss‘ Pupille. Andererseits ist „The Pupil“ auch der Schüler, Narziss sein Lehrer.


Caravaggio ~ Narziss

Die Spiegelmetapher ist an sich nicht nur eine der klassischsten, sondern auch eine meiner liebsten1. Aber das allein war nicht der Grund für den Reiz dieser Arbeit. Hier konnte ich mich zum ersten mal an der Gestaltung von Charakteren und einem Erzählverlauf üben. Die Nymphen haben es mir dabei besonders angetan. Mädchenhaft und leich naiv, aber auch irgendwie hererfrischend, schwirren sie in der Märchenlandschaft umher und tun, was sie am besten können, verführerisch sein. Ihr Spiel mit den Faunen ist ein kindliches, das aber in ihrem Bestreben danach, die Aufmerksamkeit des Weihers zu erhaschen, deutlich ausgelagert erscheint. Im Großen und Ganzen war die Geschichte perfekt, um in Reime gebunden zu werden, was sie vielleicht nicht besser macht, aber anders.

Beim Metrum habe ich mich übrigens an Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ orientiert. Diese dreizeitigen Verse im Wechsel vier- und dreihebig fließen für eine märchenhafte Erzählung gerade richtig dahin.

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1. In dieser Hausarbeit spreche ich sehr ausführlich über die Spiegelmetapher und ihre Bedeutung. Die Arbeit ist, im Vergleich zu diesem Gedicht, relativ frisch.