Essay: Formlos bloß lose Form

Freitag, 10. März 2006

Wenn ich an Gedichten von Hobbyautoren die mangelnde Form kritisierte, hielten diese oft entgegen, Gedichte müßten nicht immer reimen. Das ist korrekt, doch wie sollte ich klarmachen, dass es meine Kritik trotzdem nicht entkräftete? Was ist eigentlich poetische Form, wodurch und wie ergibt sie sich in einem Gedicht? Der Antwort auf diese Fragen rückte ich näher, als ich mich mit dem Werk des Komponisten Claude Debussy befaßte, dem man seinerzeit ebenfalls vorwarf, seine Stücke seien formlos. Ausgehend von einem Zitat Adornos schreibe ich in diesem Essay über die Formbarkeit poetischer Sprache.

Formlos bloß lose Form
Ein kurzer Versuch über sprachliche Form und Formbarkeit von poetischen Texten

Noch vor 70 Jahren warfen Gelehrte dem französischen Komponisten Claude Debussy (1862 – 1918) vor, seine Musik sei formlos. Sie folgt nicht den klassischen Mustern von Fuge, Sonate oder Tanz und war damit schwer fassbar. Dass sie dennoch funktioniert und alles andere als formlos ist, haben Studien inzwischen aufgedeckt. Sie organisiert sich auf einer anderen Ebene und durch andere Elemente, als ihre klassischen Vorläufer, ist aber deswegen nicht weniger formvollendet.

Auch ein Gedicht, welches nicht in Sonett-, Oden- oder sonstigen Strophen verfasst ist, ist nicht automatisch formlos und dennoch verbinden viele Dichter auch im Zeitalter der prosaischen Lyrik den Begriff der Form fast ausschließlich mit den Möglichkeiten metrischer Gestaltung. Wie arm erscheint dieser Blickwinkel doch in Anbetracht der hohen Komplexität des Zeichensystems Sprache! Die daraus folgende Konsequenz ist eine Unsensibilität gegenüber anderen Möglichkeiten formeller Gestaltung und natürlich deren Vernachlässigung während des Schaffensprozesses.

Metrikbefürworter verlassen sich darauf, dass allein die Anwesenheit von Versen und Strophen ihrem Gedicht Struktur und Linie gäben und schärfen den Blick nicht für die darüber hinausgehenden Elemente sprachlicher Ordnung. Metrikgegner üben sich hingegen oftmals überzeugt in genereller Ignoranz gegenüber allem, was eine Idee von Form vermitteln könnte. Der eine Standpunkt erscheint so blauäugig, wie der andere. Dabei ist der hohe Grad an sprachlicher Formalisierung, den wir in den Sonetten Dantes (1265 – 1321) ebenso finden, wie in den Konstellationen Gomringers (*1925), neben der relativen Kürze, wohl eines der anerkanntesten Charakteristika des Gedichtes.

Form ist “der Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert”, schreibt Theodor W. Adorno (1903 – 1969) in seinem Aufsatz “Form in der neuen Musik”. Sie beziehe sich “auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht.”

Form ist also etwas, das sinnlich wahrgenommen wird, ein wesentlicher Aspekt eines jeden ästhetischen Geschöpfs, so auch des Gedichts. Wenn wir der strukturalistischen Sprachwissenschaft (Linguistik) glauben dürfen, ist sie der Sprache ureigen. Denn jedes sprachliche Zeichen, z.B. ein Laut, ein Buchstabe, eine Silbe, ein Wort oder dergleichen, verweist gleichsam auf das durch dieses Zeichen Bezeichnete, seinen Inhalt. Form (z.B. /Baum/) und Inhalt (z.B. /stämmige Grünpflanze/) sind also untrennbar miteinander verbunden.

Die bloße Tatsache, dass Sprache ohne Form also nicht möglich ist, scheint allein aber nicht auszureichen, um sie als Quell ästhetischer Komposition formell vernehmbar zu machen. Denn ein sprachlicher Text erscheint schnell unordentlich und chaotisch, wo er keine Linie verfolgt. Die Frage ist also nicht nur, welches die Elemente der Sprache sind, die einem Text Form geben, sondern auch, wie diese sinnvoll organisiert werden könnten, um einen Eindruck formeller Ordnung zu vermitteln, der über bloße metrische Strukturen hinausgeht, bzw. derer ungeachtet funktioniert.

Was genau als ordentlich/geordnet empfunden wird, ist relativ schwierig zu verallgemeinern. Sicher ist aber, dass ein gewisser Grad der Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit damit einhergeht und dass Wiederholung und Variation starken Einfluss darauf haben. Ein Text, der sich z.B. aus willkürlich zusammengesetzten Gedankensplittern ergibt, vielleicht nur unvollständige Sätze bringt, abgehackt und unflexibel klingt und dazu noch kreuz und quer auf dem Blatt angeordnet ist, wird schwerlich als ordentlich empfunden werden, selbst wenn der offensichtlichen Unordnung ein System zugrunde liegen sollte. Demgegenüber fällt einem die formelle Ordnung eines kohärenten und gegliederten Textes vielleicht erst einmal gar nicht auf, weil man sie als Selbstverständlichkeit empfindet.

Grundlegend unterscheide ich vier Ebenen, auf denen sprachliche Formalisierung möglich ist. Diese Ebenen greifen natürlich ineinander, sind kombinierbar und daraus ergeben sich ganz herrliche Möglichkeiten.

Eine Ebene, die mit dem Begriff “Metrik” bereits angesprochen wurde, ist die Ebene der Lautlichkeit, phonetische Ebene genannt. Alles was an Sprache klingt, also z.B. Gleichklangsgebilde, wie Reime, Assonanzen oder Alliterationen, Akzente, aber auch Pausen, Betonungen, Konsonant- und Vokalfarben, alles, was akustisch wahrnehmbar ist, gehört in diesen Bereich. Ein metrischer Text ist im Bereich der Lautlichkeit sehr streng geordnet, weil die Abfolgen von betonten und unbetonten Silben, von Pausen und z.T. auch von Reimen sehr vorhersehbar sind. Aber auch ein prosaischer Text muss auf lautlicher Ebene nicht unweigerlich unordentlich sein. Auch hier können sich Tendenzen der Periodisierung herausstellen, z.B. Abschnitte von gleicher Silbenzahl zwischen Pausen oder Gebilde von symmetrischer Betonungsfolge, doch sind diese bei weitem nicht so regelmäßig, wie in einem metrischen Text (s. dazu “Zwei ungleiche Paare”).

Eine weitere, relativ naheliegende Ebene der Strukturalisierung, ist die syntaktische Ebene. Dazu gehört alles, was mit dem grammatischen Bau der Sprache zusammenhängt, also z.B. Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, Verbindungselemente, grammatische Phrasen und Figuren, wie Chiasmen, aber auch Beugung von Nomen in den verschiedenen Fällen (Deklination), Steigerung von Adjektiven (Komparation) oder in den verschiedenen Personen gebeugte Verben (Konjugation). Die großen Redner der Antike setzten die Gliederung auf syntaktischer Ebene sehr bewusst ein und formten oft Sätze, denen eine grammatische Periodik zugrunde lag. Syntaktische Elemente verschiedener Art können dabei zu symmetrischen oder sonstig regelmäßigen Gebilden geformt werden.

Intrigen und Zwietracht, Gezanke und Streit – wer wird dieses Feuer jemals löschen, wer wird es sein?

Dieser Satz teilt sich in vier Perioden, zwei Aufzählungen und zwei Fragen. Die Aufzählungen bestehen jeweils aus zwei Elementen, die durch ein ‘Und’ verbunden sind und folgen beide dem Schema a + b. Die zwei Fragen beginnen jeweils mit einem Interrogativpronomen und enden mit einem Infinitiv. In der zweiten Frage ist das Akkusativobjekt durch ein unspezifisches ‘Es’ ersetzt. Ansonsten haben auch diese beiden Teile dieselbe grammatische Form. Zusätzlich werden bei diesem Beispiel auch lautliche Schemata wieder aufgenommen.

Eine dritte Ebene ist seit den Versuchen der konkreten Poesie zunehmend ins Blickfeld formaler Sprachbetrachtungen gerückt, die graphische. So hat jeder geschriebene Text ein Aussehen, das sich aus den einzelnen Zeichen für die Buchstaben und der Anordnung dieser Zeichen auf dem Blatt oder dem zu beschreibenden Medium ergibt. Die für das Gedicht typische Optik ist die Anordnung des Textes in kürzere Zeilen und Absätze, so dass um das Geschriebene herum viel unbeschriebener Raum ist. Diese Anordnung entwickelte sich ursprünglich aufgrund der lautlichen Strukturen von Gedichten. So machte man Zeilenumbrüche nach Kadenzen (Pausen, die am Versende entstehen) und Absätze nach Strophen, um dem stummen Leser das Erfassen dieser lautlichen Strukturen zu erleichtern. In prosaischen Texten, wie Romanen oder Essays, werden Absätze hingegen nach Sinneinheiten gemacht, während Zeilen meist nicht umgebrochen werden.

Verschiedene andere Aspekte sprachlicher Formalisierung waren früher also dafür verantwortlich, dass ein Text diese oder jene Optik erhielt. Heutzutage ist die Optik selbst jedoch zu einem Aspekt sprachlicher Formalisierung und also künstlerischen Ausdrucks geworden. So finden sich Gedichte, die den Gegenstand abbilden, den sie thematisieren, oder auch mit der Anordnung der Worte selbst spielen, in dem sie Kaskaden oder andere Linien nachbilden und Worte kreuzen, spiegeln oder ähnliches.

Der am schwersten zu fassende Bereich sprachlicher Formalisierung dürfte aber wohl die semantische Ebene, die Ebene der Bedeutung von Wörtern, Phrasen und Sätzen sein. Diese ist deshalb so schwierig zu beschreiben, weil es zwischen unterschiedlichen Menschen, selbst wenn sie die gleiche Sprache sprechen) zu ganz unterschiedlichen Ansichten dessen kommen kann, was ein Wort oder ein ähnliches Element bedeutet. Jeder Mensch hat ein anderes Empfinden für die durch Sprache transportierten Inhalte und die sich daraus ergebenen Beziehungen zwischen diesen Elementen. Gleichwohl ist es aber diese Ebene, an der sich die Geister scheiden, die die größte Sensibilität und Spracherfahrung erfordert, eben weil sie so schwer zu verallgemeinern ist.

Auf der semantischen Ebene sind es Fragen der Beziehungen zwischen Wörtern, Phrasen und Sätzen, die über Ordnung oder Unordnung entscheiden. So kann es zu Brüchen kommen, wenn man Wörter unterschiedlicher Stilebenen kombiniert. In dem Satz: “Das Diner war beschissen”, passt entweder das ‘Diner’ oder das ‘beschissen’ nicht. Denn das eine ist ein gestelztes Fremdwort und das andere entstammt der Fäkalsprache. Brüche können sich aber auch ergeben, wo Wörter verschiedener Bedeutungskategorien aufeinanderprallen. Die Wörter Fisch, Frosch und Flusskrebs bezeichnen bspw. relativ kleine, im Wasser lebende Geschöpfe. Das Wort Elephant würde nicht dazu passen. Ebenso kann ein Satz wie “Gelbes Sonnenlicht durchströmte warm die Axt”, zu Verwunderung führen, weil die Axt als etwas Kaltes, Hartes und Scharfes empfunden wird, also eine völlig andere Atmosphäre schafft, als das warme Licht.

Auch zwischen größeren semantischen Einheiten sollten diese Relationen bedacht werden. So erscheint es zum Beispiel nicht sinnvoll, einen anderen Menschen zu beschreiben und nachdem man bei den Haarspitzen begonnen hat, bei den Fingernägeln weiter zu machen, dann zu den Lippen und den Ohrläppchen zu kommen, um danach etwas über die Fersen und die Oberschenkel zu sagen. Viel besser gegliedert ist solch eine Beschreibung, wenn sie bspw. von unten nach oben oder von links nach rechts geschieht oder wenn bei den großen Gliedern des Körpers begonnen wird, um dann mit den kleinen Gliedern des Gesichtes fortzufahren oder dergleichen mehr.

Wenn wir Dinge thematisieren, sei es in einem Roman, einem Essay oder einem Gedicht, dann ist es sinnvoll, die Einzelaspekte geordnet vorzutragen, z.B. nach ihrer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, nach ihrer Farbe, ihrem Klang oder ihrer Wichtigkeit und nicht in den Gedanken hin und her zu springen und dadurch Unruhe und Verwirrung zu stiften Dies erlaubt es dem Zuhörer oder Leser, der Sache besser zu folgen und diese zu erinnern. Außerdem ist es möglich, auf semantischer Ebene hervorragende Redefiguren zu erzeugen, in dem man z.B. mit Vergleichen arbeitet, homonyme Worte (z.B. Ball und Ball) umdeutet oder bewusst Gegensätzlichkeiten gegenüberstellt. Auch dadurch können sich wieder sprachliche Muster ergeben, die letztlich eine Idee von Form vermitteln.

Sprache ist ein komplexes System aus Zeichen, kleinen Elementen, die zu größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Wie wir diese Elemente zusammenfügen und nach welchen Kriterien wir sie (an-)ordnen hängt ganz davon ab, in welcher Sprechsituation wir uns befinden, bzw. was wir mit unserem Sprechen bezwecken. Der Künstler ist dabei nur sich selbst verpflichtet. Seine Kreativität wird einzig durch sein Können begrenzt.

Aug. 2005

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005

Essay: Der gemeine Theoretiker

Montag, 19. April 2004

Viele Dichter glauben an eine große Kluft zwischen der Theorie der Dichtkunst auf der einen und der dichterischen Praxis auf der anderen Seite. Ich bin Dichter und Wissenschaftler zugleich und halte die Phobie einiger Kollegen für übertrieben. Diesen Essay (ein Debüt) schrieb ich zur Verteidigung gegen Beschimpfungen in einem Gedichteforum. Es ist ein Plädoyer für die Theorie (des Dichtens).

Der gemeine Theoretiker
Ein kurzer Versuch über das moderne Feindbild des Theoretikers und seiner Theorien

Das Feindbild, welches heute gegen den gemeinen Theoretiker zum Schaden der Verbreitung bildenden Gedankenguts von der weniger gebildeten Masse erschaffen wurde, speist sich aus dem modernen Irrglauben, selbiger wäre ein von Natur aus bösartiger und von verleugneten Selbstzweifeln behafteter Charakter, der in gemeiner Absicht sein unsinniges Leben dadurch mit Sinn zu füllen sucht, dass er kryptische Worte fremdartiger Herkunft erspinnt, welche angeblich Phänomene der praktischen Fachebene bezeichnen, die real eigentlich überhaupt nicht existieren, bzw. die für die praktische Fachebene real eigentlich völlig unwichtig und uninteressant sind, wie z.B. Wörter wie “Metrik”.

In seiner üblen Bösartigkeit verbündet er sich mit Gleichgesinnten, um sich mit ihnen in dieser kryptischen und unsinnigen Sprache zu unterhalten und das allein aus dem Grund, weil er weiß, dass Leute, die diese Sprache nicht verstehen, sich in ihrer vermeintlichen Unbildung mies, minderwertig und ausgeschlossen fühlen.

Darüber freut sich der gemeine Theoretiker und um den Hohn und Spott über die vermeidlich ungebildete Menschenklasse komplett zu machen, veröffentlicht er nicht nur wissenschaftliche Traktate, sondern auch Einführungen in und Leitfäden für sein Wissensgebiet, welche die kryptische Sprache und die Bedeutung ihrer Wörter erklären, obwohl er genau weiß, dass das sowieso keiner außer Gleichgesinnten lesen will. Um sich selbst besser, schlauer und vor allem elitärer zu fühlen, klopft sich die Gruppe der gemeinen Theoretiker für ihre Schriften gegenseitig auf die Schultern und verweist in weiteren Schriften immer wieder aufeinander.

Dies Verhaltensmuster hat sich der gemeine Theoretiker von den ollen Griechen und Römern abgeguckt, also nicht einmal selbst erdacht, sondern von gemeinen Urvätern der modernen Theorie geklaut. Diese haben schon zu ihren Zeiten zahlreiche Traktate geschrieben, in denen sie fiese Wörter wie bspw. “Choliambus” benutzten, was griechisch für eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben steht, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde.

Dass es diese Folge in Wirklichkeit gar nicht gibt, beweist schon der Fakt, dass sie in den Versen gerade der Dichter auftaucht, die höchst selbst die Theorien über solche Silbenmuster erfunden haben. Natürlich benutzen sie und ihre Nachfolger diese Muster in ihren Versen ausschließlich, um den vermeidlich ungebildeten Leser zu ärgern und nicht etwa aus ästhetischen oder effektiv sprachpraktischen Gründen, wie sie selbst immer behaupten. Denn dass ihre Dichtungen weder schön, noch besonders kommunikativ sind, beweist ja allein der Fakt, dass Dichter wie Hipponax oder Glaukon und ihre Nachfolger heutzutage eh nicht mehr gelesen werden.

Der gemeine Theoretiker erfindet in der Theorie streng-gesetzliche und vor allem normative Regeln, deren genaues Befolgen in der Praxis er bis aufs Messer verteidigt. In seiner arroganten Art will er jedem seine offensichtlich allgemeingültige und richtige Meinung aufzwängen, während er die Meinung Andersdenkender rein gar nicht gelten lässt, da sie seine eigene ja nicht widerlegen können. Ihn seine Standpunkte durch vernünftige und argumentative Kritik überdenken zu machen, ist bei seinem Starrsinn natürlich völlig hoffnungslos. Immer wieder finden sich bspw. gemeine Physiker, die wie aufgeschreckte Hühner im Kreis umherspringen, wenn man ihnen am experimentellen Beispiel erklärt, dass eine Feder keineswegs genauso schnell zu Boden fällt, wie ein Amboss und dass der luftleere Raum, auf den sie beharren, in der Realität ja gar nicht existiert.

Bei soviel Sturköpfigkeit bleibt dem engagierten Theorie-Kritiker natürlich nur noch die Möglichkeit, seinem Frust über das eigene, durch das bösartige Verhalten des gemeinen Theoretikers hervorgerufene Minderwertigkeitsgefühl durch wahllos dahingeworfene Beschimpfungen und unüberlegte Anklagen gegen selbigen Ausdruck zu verleihen. Denn der Theoretiker ist kein Mensch mehr, weshalb auch das ab und zu bei ihm durchkommende menschliche Verhalten (z.B. durch Ernüchterung hervorgerufene Frustration) keinesfalls entschuldigt werden darf.

So stellt es sich vermutlich für einen Menschen dar, der sich plötzlich mit Wissen über ein ihm noch nicht so vertrautes Fachgebiet konfrontiert sieht. Dieses Wissen erscheint ihm unendlich und unerreichbar zu gleich, deshalb erschreckt es ihn und er fürchtet den Theoretiker, der damit so souverän umgehen kann und natürlich auch seine Theorien.

Mal im Ernst…

Tatsächlich ist der gemeine Theoretiker ein wissbegieriger Mensch, ein Philosoph, der das Wissen liebt, dessen Denken und Handeln von dem unbeirrbaren Trieb, Erkenntnisse über das Wie? und das Warum? der Welt und ihrer Bewohner zu erlangen, geleitet wird.

Der gemeine Theoretiker ist zudem meist ein sehr begeisterungsfähiger Mensch, dessen Drang, sein Wissen, welches auf Erfahrungen mit und Hinterfragung von Phänomenen der Praxis beruht, in Schriften und Reden mitzuteilen und zu vermitteln, von dem sehnlichen Wunsch geprägt ist, die Allgemeinheit der Rezipienten für die Ästhetik und die Effizienz praktischer Phänomene stärker zu sensibilisieren, damit sie, wie er, in den tiefen und vollen Genuss eben dieser Phänomene kommen können.

Um Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt und ihrer Phänomene zu erhalten, hat der gemeine Theoretiker diverse Methoden gefunden. Er entwickelt z.B. Modelle, welche die Realität der Welt in idealisierter Weise abbilden und für den Nachweis bestimmter Gesetzmäßigkeiten besonders geeignet sind. Der Physiker sagt also: “Nehmen wir mal an, dieser fluffige Körper befindet sich in einem luftleeren Raum, dann fällt er mit genau derselben Geschwindigkeit zu Boden, wie dieser massive hier.” Natürlich befindet sich der Körper nicht in einem luftleeren Raum, aber die Erkenntnisse die man aus dieser hypothetischen Annahme (die inzwischen übrigens durch zahlreiche Experimente bewiesen ist) über die Beschaffenheit von Welt gewinnt, sind enorm.

Der Theoretiker, der sich erst einmal eine auf Erfahrung und Untersuchung von Praxis und Theorie basierende (Er-)Kenntnis erworben hat, will diese mit Gleichgesinnten teilen. Er benutzt Fachausdrücke, deren Bedeutung auf die Gesamtheit seines Modells perfekt abgestimmt sind. So muss er sich nicht jedes Mal des langen Satzes: “Eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde”, bedienen, um jemand anderem klar zu machen, dass er in einer Dichtung einen Choliambus entdeckt hat. Fachworte sind also sehr viel präziser (Choliambus schließt nämlich auch noch bestimme auffällige Zäsuren mit ein), knapper und effizienter und damit auch verständlich für einen, der mit diesen Fachtermini umgehen kann.

Natürlich sind Theoretiker nicht immer einer Meinung, denn sonst wäre schnell alles ausdiskutiert und die Menschheit wäre bereits vollkommen sicher, dass sie um jegliches Geheimnis der Welt genau Bescheid wüsste. Dem ist nicht so. Deshalb muss jede Theorie auch immer wieder von Neuem kritisch in Frage gestellt werden und die verschiedenen Theoretiker müssen gemeinsam versuchen, einen Konsens über die wahrscheinliche Beschaffenheit von Welt zu finden.

Von Wissenschaft und Theorie ist übrigens niemand ausgeschlossen, der nicht ernsthaft an solchen Fragen interessiert wäre. Sich Fachwissen und korrekte Fachtermini anzugewöhnen, um mitdiskutieren zu können, das sind grundsätzliche Dinge, die die kritische Hinterfragung einer These überhaupt erst ermöglichen. Es ist nicht unmöglich dies zu erlernen. Anhand des fachlichen Austauschs kann sich der Theoretiker weiterbilden und neue Perspektiven kennenlernen. Da er möglichst viel von einem Aspekt verstehen will, wird sich der gemeine Theoretiker nicht scheuen, jegliche Verständnisfrage zu stellen. Und da er auch verstanden werden will, wird er sich sicherlich nicht verweigern, jedem Fragenden, der ein Fachwort oder einen konkreten Inhalt nicht versteht, diese/n so zu erklären, dass auch ein Unkundiger es/ihn verstehen kann. Denn Fragen beweisen Wissensdurst.

Wer aber zu scheu oder zu eitel ist, seiner Unwissenheit durch Fragen Ausdruck zu verleihen, dem kann kein Theoretiker in Bildungsfragen weiterhelfen.

Mar. 2004