Zur Autobiographie im Mittelalter

Donnerstag, 14. Juli 2011

In einer Woche wird meine letzte Abschlußklausur im Fach Ältere deutsche Sprache und Literatur (d.h. Altgermanistik/Mediaevistik) stattfinden. Eines der von mir eingereichten Themen ist die Autobiographie im Mittelalter. Ich habe mich früher schon mit der Autobiographie der frühen Neuzeit befaßt und hier im Blog bereits zu Johannes Butzbach und Helene Kottanner geschrieben. Nun versuche ich in Vorbereitung auf die Klausur einen zusammenfassenden Text zu schreiben, der Beispiele für Selbstzeugnisse (2. Teil) und den Stand der Forschung zur Autobiographie im Mittelalter (1. Teil) zusammenfaßt. Am Ende befindet sich eine kurze Bibliographie, die die von mir hierfür konsultierten Fachtexte aufführt. (mehr …)

Historisches Archiv Köln

Montag, 09. März 2009

Ich war letzte Woche auf dem 13. Symposion des Mediävistenverbandes in Bamberg, das unter dem Leitthema „Farbiges Mittelalter“ stand, als die Nachricht vom Einsturz des Stadtarchivs bei uns eintraf. Die Stimmung glich ein wenig der nach den Angriffen auf das World Trade Centers. Bestürzung und Fassungslosigkeit beherrschte die Szenerie. Seitdem habe ich die Nachrichten zum Thema ein wenig verfolgt und wie immer hinkt die öffentliche Berichterstattung den Rundmails und Insiderinformationen hinterher. Lange war aber unklar, wie die Bergungsarbeiten vonstatten gehen, in welchem Zustand die geborgenen Archivalien sind und inwiefern fachkundige Hilfe vor Ort benötigt wird. Heute morgen habe ich ein Rundschreiben des Vereins der Archivare erhalten, in dem diese Punkte beleuchtet werden.

Es hat sich bereits ein Krisenstab aus Vertertern der Stadt, des Historischen Archivs, der Berufsfeuerwehr Köln, des Landesarchivs NRW, den Archivämtern von LVR und LWL sowie der ARGE der Stadtarchive im Städetag, des VdA und von Restauratoren gebildet, der die Bergung und Sicherstellung der Archivalien plant und koordiniert. Rechtzeitig vor dem Einsätzen der Regenfälle konnte der Trümmerberg mit einer Plane abgedeckt werden. Der Aufbau eines Dachs verzögerte sich, da die Standfestigkeit des gegenüberliegenden Gymnasiums unklar war. Inzwischen ist wohl ein Drittel des Trümmerbergs überdacht und der Bau soll in den nächsten Tagen abgeschlossen werden.

Feuerwehrleute tragen die Archivalien mit den Händen fachgerecht von der Unglücksstelle ab, wobei es sich zunächst um Stücke handelt, die bei der Bergung der Vermißten und der Räumung der Stellen, die für den Dachtbau geräumt werden mußten, gefunden wurden. Von Archivaren, Restauratoren, Museumsangestellten und anderen fachkundigen Kräften werden diese Stücke vor Ort einer ersten Sichtung unterzogen und verpackt. Sie sind in unterschiedlichem Zustand, einige Akten und Archivkartons sind beinahe unmittelbar wieder benutzungsfähig, andere Archivalien sind arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Nasses Material wird aussortiert und die mit LKW abtransportierten Schuttreste werden in einer gesonderten Halle durchgesehen und aussortiert. Abgesehen von den Rettungskräften der Feuerwehr, des THW (u.a.) sind 40-50 fachkundige Personen im Dreischichtbetrieb 24/7 im Einsatz, um das Archivgut zu sichten und für die Einlagerung vorzubereiten, bzw. zur Einfrierung zu verpacken.

Derzeit wird eine größere Halle gesucht, in der langfristig die Arbeitsbedingungen und die Sortierarbeiten besser vonstatten gehen können. Auch Magazinflächen werden benötigt. Angebote sollen an das LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum, z. Hd. Herrn Dr. Arie Nabrings, rafo@lvr.de, gerichtet werden. In erster Linie ruft der VdA aber in seinem Rundschreiben zur Mithilfe von fachkundigen Kolleginnen und Kollegen auf, sowohl Archivare als auch Restauratoren werden gebraucht. Hilfsangebote sollen über die Dienststellen der Helfer koordiniert werden, wobei Name, Vorname, Dienststelle, Ort, Telefonnummer, Email-Anschrift und Dauer des Einsatzes in einer Exeltabelle erfaßt und an rwwa@koeln.ihk.de (Archivare) oder bert.jacek@fh-koeln.de (Restauratoren) gesandt werden.

Die personelle Hilfe ist zunächst das Wichtigste, doch auch finanzielle Unterstützung in Form von Spenden und materielle Hilfe werden gerne angenommen. Eine Zusammenstellung über Hilfsmöglichkeiten bietet Archivalia unter http://archiv.twoday.net.

Aussprache des Mittelhochdeutschen

Montag, 19. Januar 2009

Als Mediaevistin bin ich ja oft mit der Frage, „Und was kann man damit später mal machen?“, konfrontiert. Eine absolut naheliegende und logische Antwort darauf ist, dass man damit schon jetzt sehr gut besserwisserische Kommentare bezüglich der Aussprache mittelhochdeutscher Liedtexte abgeben kann. Und wer jetzt glaubt, in solche Verlegenheit komme man sowieso nie, der wird sich spätestens dann wundern, wenn er (wie ich derzeit mal wieder) in Chorproben sitzend die Carmina Burana von Carl Orff einstudiert. Diese enthält nämlich neben überwiegend mittellateinischen auch einige mhd. Texte, zu deren Aussprache dann immer viele Experten ihre Meinung kundtun. Diesen will ich mich hiermit anschließen.

Vorbetrachtungen

Das Phonemsystem des Mittelhochdeutschen (einer Sprachstufe in der Zeit von ca. 1050-1350) ist Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion und resultiert aus der sogenannten 2. Lautverschiebung. Im Zuge dieser 2. LV hat sich das Hochdeutsche (im Unterschied zum Niederdeutschen) aus dem westgermanischen Sprachverband abgespalten, was sich an einigen Lautwandelerscheinungen nachvollziehen läßt.

Um die im Folgenden aufgeführten Aussprachekonventionen richtig beurteilen zu können, ist es zunächst wichtig, sich über drei Dinge klar zu werden: 1. Es gab in der Zeit zwischen 1050 und 1350 keine regional übergreifende, mittelhochdeutsche Einheitssprache, sondern eine Sammlung an Dialekten. 2. Alle Mutmaßungen hinsichtlich deren Aussprache basieren auf wenigen Quellen, die diese dialektalen Mundarten mithilfe eines fremden (nämlich des lateinischen) Alphabets exemplarisch fixieren. 3. Diese graphische Fixation folgt in der Rechtschreibung keiner Normierung und variiert nicht nur von Text zu Text, sondern oftmals sogar von Vers zu Vers. Dadurch dass man aber „schrieb wie man sprach“ lassen sich teilweise Rückschlüsse auf das Phonemsystem ziehen. Vieles bleibt dennoch strittig. Thordis Hennings1 schreibt dazu:

Bei der Bezeichnung „Mittelhochdeutsch“ [handelt es sich] an und für sich um einen Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Schreibdialekte in sich vereint. Aber bis zum Zenit der höfischen Dichtung um die Wende vom 12./13. Jh. entwickelte sich so etwas wie eine überregionale höfische Dichtersprache, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dialektale Besonderheiten stark zurückgedrängt werden. Diese mhd. klassische „Einheitssprache“ beruht vor allem auf allemannischer und ostfränkischer Grundlage.

Hennings Aussage muß relativiert werden. Der Eindruck von Einheit entsteht in der Retrospektive evtl. nur aufgrund der Überlieferungslage höfischer Dichtung und den daraus erwachsenen Interessenschwerpunkten der historischen Sprachwissenschaft. Er muß sich bei eingehender Betrachtung ripuarischer und thüringischer Quellen der geistlichen oder bürgerlichen Literatur nicht zwangsläufig bestätigen. Für unsere Carmina Burana ist dies nur von marginaler Bedeutung. Denn die Handschrift des Codex Buranus wurde im bairischen Sprachraum, also in unmittelbarer dialektaler Nähe zum Alemannischen und Ostfränkischen niedergeschrieben und enthält Texte, die u.a. Walther von der Vogelweide zugeschrieben werden, der ebenfalls in diesem Sprachraum tätig war.

Es kann demnach nicht vollkommen verkehrt sein, sich mit der Aussprache der mittelhochdeutschen Liedtexte der Carmina Burana an den von Sprachhistorikern aufgestellten Konventionen für das „klassische“ Mittelhochdeutsch zu orientieren. Hierbei gilt, dass sich im gesamten oberdeutschen Sprachraum (alemannisch, bairisch, ostfränkisch und südrheinfränkisch) die 2. Lautverschiebung vollständig vollzogen hat. Man sagt dort auch heute noch ich und Apfel und nicht wie im niederdeutschen Berlin ick und Appel.

Zur regionalen Verteilung der hochdeutschen Mundarten s. Karte südlich der Benrather Linie. (Quelle: Uni Wien)

Aussprache des Mittelhochdeutschen

Die meisten mittelhochdeutschen Textausgaben sind (wenn auch mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Akribie) in ihren Schreibweisen normalisiert, so dass sich die phonetische Ausführung von Silben und Worten aus der graphischen Umsetzung „ablesen“ läßt. Ich erkläre die Aussprache deshalb zunächst an den üblichen Graphemen, später dann an den Texten der Carmina selbst.

  • /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /ä/, /ö/, /ü/: Kurze Vokale sind beim Sprechen deutlich von langen zu unterscheiden. Durch die Existenz kurzer, offener Tonsilben unterscheiden sich das Mhd. geradezu charakteristisch vom Neuhochdeutschen. Es heißt im Mhd. tac [tack], nemen [nemmen], vil [fill], loben [lobben] und tugent [tuggent]. Ebenso verhält es sich mit den kurzen Umlauten.
  • /â/, /ê/, /î/, /ô/, /û/, /æ/, /œ/, /iu/ (iu = langes ü): Im Unterschied dazu gibt es einige lange Vokale, die in den meisten Ausgabe durch Zirkumflex ^ gekennzeichnet sind. Fehlt diese Kennzeichnung (wie oftmals in unserer Notenausgabe der Carmina Burana) muß man auswendig wissen, welche Worten lange Vokale enthalten. (Tipp: Die kurzen Vokale überwiegen.) Es heißt im Mhd. dâhte [daachte], gelêret [gelehret], mîn [mien], [soo] und ûf [uhf]. Die langen Umlaute werden als Ligaturen geschrieben und sind daran zu erkennen, wobei die Kombination /iu/ für das lange /ü/ steht. Es heißt im Mhd. swære [ßwääre], hœren [höören] und triuwe [trüüwe].
  • /ei/, /ou/, /öi/, /ie/, /uo/, /üe/: Die Diphtonge sind deutlich zweitonig zu sprechen, verschmelzen aber zu einer Silbe. Dabei liegt die Betonung auf dem ersten Vokal und fällt nach hinten ab, ähnlich wie es im heutigen Bairisch gesprochen wird. Es heißt im Mhd. ein [éyn], schouwe [schóuwe], vröide [fröide], dienest [díenest], buoch [búoch] und süeze [süeße].
  • /h/, /lh/, /rh/, /ht/, /hs/: Das Graph /h/ ist im Anlaut und zwischen Vokalen ein zum Nhd. identischer Hauchlaut (wie in Herr und sehen). In den Kombinationen /lh/, /rh/, /ht/ und /hs/ versteht es sich jedoch als gutturaler Reibelaut. Damit ist evtl. immer der velare Ach-Laut [x] gemeint. In Verbindung mit vorderen Vokalen (e, i, ü) und Sonanten (l, r) könnte es aber schon zu einer Palatalisierung als Ich-Laut [ç] gekommen sein. Der durchgehend velare Gebrauch ist heute nur in der Schweiz, jedoch nicht im bairischen Sprachraum üblich. Ob er es damals war, ist unklar.
  • /z/: Das Graph /z/ wird im Anlaut und nach einem Konsonanten als Frikativ [tz] gesprochen, z.B. in zuo [tzuo] oder herze [hertze]. In den übrigen Fällen steht es für ein stimmloses /s/, dass dem nhd. /ß/ oder /ss/ entspricht, wie in daz [daß] oder wazzer [wasser].
  • /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/, /sw-/: Das Graph /s/ wird in den Kombinationen /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/ und /sw-/ nicht palatalisiert, es gibt also anders als im Nhd. hier keinen Zischlaut. Es heißt im Mhd. spil [ßpill] und swære [ßwääre].
  • /w/: Bezüglich der Aussprache des Graphs /w/ (=/uu/, /vv/) gibt es zwei Meinungen. Die eine Schule möchte es als dentalen Reibelaut wie nhd. Wasser hören, die andere als Halbvokal [ɥ] wie im engl. water. Ich persönlich schließe mich wegen der Weiterentwicklung des /w/ im Nhd. dieser zweiten These an, da mhd. frouwe im Nhd. nicht zu Fraw, sondern zu Frau geworden ist.

 

Mhd. Texte der Carmina Burana

Man erkennt, dass unsere Notenausgabe2 der Carmina Burana keine wissenschaftlich normalisierten Texte enthält. Der Gebrauch des Graphs /h/ in Endpositionen wechselt mit /ch/, einige lange Vokale sind durch Zirkumflex gekennzeichnet, auf anderen fehlen die Längenzeichen, Elisionen (bes. Vokalhiats und stumme e’s) sind nicht gekennzeichnet und in der 2. Strophe von „Chume, chum, geselle min“ ist noch ein Abkürzungszeichen (die Tilde über dem n) übernommen, das in ein Dentalsuffix aufgelöst werden muß.

Ich habe die langen und kurzen Vokale der wichtigen Wörter mit dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Niemeyer3 abgeglichen, um hier eine Sicherheit hinsichtlich ihrer Aussprache zu bekommen. Das /eu/ in freudenriche ist der normalisierten Form von vröide/vröude angepaßt und wird auch so gesprochen. Ich speche alle /w/ als Semivokale, alle /ch/ hinter vorderen Vokalen als Ich-Laut – das kann man aber halten, wie man will. Um sich die mp3s anzuhören, reicht es, in der Flashanimation auf den Play-Button zu klicken.

7. Floret silva

Floret silva undique,
nah mime gesellen ist mir wê.
Gruonet der walt allenthalben.
wâ ist min geselle alse lange?
der ist geritten hinnen.
owî, wer sol mich minnen.

[nach (x) miem (i lang, e stumm) gesellen ist mirr (i kurz) weh
gru-onet (Diphtong, aber o unbetont) der walt allenthalben
wa ist mien (i lang) geselle allse lange
der ist geritten hinnen
owie, wer soll mich minnen]

[audio:floret-silva-undique.mp3]

8. Chramer, gip die varwe mir

Chramer, gip die varwe mir,
die min wengel roete,
da mit ich die jungen man
an ir dank der minnenliebe noete.

Seht mich an, jungen man!
lat mich iu gevallen.

Minnet, tugentliche man,
minnecliche frouwen!
minne tuot iu hoch gemuot
unde lat iuch in hohen eren schouwen.

Wol dir, werlt, daz du bist
also freudenriche!
ich will dir sin undertan
durch din liebe immer sicherliche.

[Kramer (a lang) gipp di-e (diphtong) farwe mirr
di-e mien wengel röte (ö lang)
da mit ich di-e jungen mann
ann irr dank der minnenli-ebe (kurz) nöte (ö lang)]
      \\ (oder „aan irr dank“, wenn „gegen ihren Willen“)

[Seht mich an, jungen mann
latt mich ü (ü lang) gefallen]

[minnet tuggentliche (u kurz) mann
minnecliche frouwen
minne tu-ot ü (lang) hoch gemu-ot
und (e stumm) latt üch (ü lang) in hohen (o lang) ehren (e lang) scho-uwen]

[woll (o kurz) dirr wärlt daß du bist
allso fröidenrieche (-rieche i lang)
ich will dirr sien undertann
durch dien li-ebe immer sicherliche]

[audio:chramer-gip-die-varwe-mir.mp3]

Swaz hie gat umbe

Swaz hie gat umbe,
daz sint allez megede,
die wellent an man
alle disen sumer gan!

[ßwaß hi-e gaat (a lang) umbe
daß sint alleß megede (e kurz)
di-e wellent aan (a lang) mann
alle disen (i kurz) summer (u kurz) gaan (a lang)]

[audio:swaz-hie-gat-umbe.mp3]

Chume, chum geselle min

Chume, chum, geselle min,
ih enbite harte din.

Suzer rosenvarwer mund,
chum uñ mache mich gesunt

[Kumme, kumm (u kurz) geselle mien (i lang)
ich enbiete (i lang) harte dien (i lang)]
Sußer (u lang) rosenfarwer (o lang) munt (u kurz, t scharf)
kumm und (mit nd) mache mich gesunt]

[audio:chume-chum-geselle-min.mp3]

10. Were diu werlt alle min

Were diu werlt alle min
von deme mere unze an den Rin,
des wolt ih mih darben
daz diu chünegin von Engellant
lege an minen armen.

[werre dü wärlt alle mien (i lang)
von demm (e stumm), meer-unß (elang, hiat) an denn Rien (i lang)
des wollt ich mich darben
daß dü (ü lang) künneginn (ü kurz) von Engellant (ng nasal)
legge (e kurz) an mienen (i lang) armen]

[audio:were-diu-werlt-alle-min.mp3]

Eselsbrücke

Als kleine Eselsbrücke bezüglich der /i/-Längen kann man sich merken, dass alle mhd. /i/ lang gesprochen werden, wenn ihre nhd. Entsprechungen zu einem /ei/ geworden sind. Also mhd. mîn wird nhd. mein, deshalb ist das /i/ im mhd. Wort ein langes /i/, ebenso mhd. vröidenrîche → nhd. freudenreich. Das /i/ ist hingegen kurz, wenn im nhd. Wort noch immer ein /i/ (kurz o. lang) steht.
__________

  1. Thordis Hennings: Einführung in das Mitelhochdeutsche. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, NewYork, 2003
  2. Carl Orff: Carmina Burana. Cantiones Profanae. cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis, Klavierauszug von Henning Brauel [ed.], Schott 1996, ED 2877
  3. Beate Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Christa Hepfer u. Wolfgang Bachofer (Co.-Red.), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 20014

Scheibenwelt – Aberglaube Mittelalter

Freitag, 19. Oktober 2007

Wenn ich von meinen mediävistischen Studien berichte, gibt es immer wieder Leute, die behaupten, im Mittelalter wären die Menschen abergläubisch gewesen und hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Während ersteres, wie ich inzwischen beweisen kann, nicht nur auf die Menschen im Mittelalter zutrifft, ist letzteres zeitgenössischer Aberglaube, der mit der historischen Realität nichts zu tun hat.

Bereits im ersten Semester meines Studiums kam mir ein Text aus dem 14. Jahrhundert unter, das Naturkundebuch Konrads von Megenburg, in dem sich inmitten einer Schilderung der biblischen Sintflutgeschichte die Federzeichnung eines Schiffes befand, auf dem zwei Augen einen Punkt an Land zu fixieren versuchen. Während das Auge hoch oben am Mast den Punkt ungehindert sehen kann, wird deutlich, dass das Auge auf Relinghöhe durch das Schiff und das Meer hindurchgucken müßte, um es dem Auge im Mast gleichzutun. Die Skizze, die ich hier einstellen werde, sobald ich den Kampf mit meinem Scanner gewonnen habe, zeigt mir deutlich, dass also spätestens im 14. Jahrhundert ein Verständnis für die Kugelform der Erde vorhanden war. Aber auch sonst ist mir während meines gesamten Studiums kein einziger mittelalterlicher Text untergekommen, in dem irgendwer behauptet hätte, die Erde sei eine Scheibe, im Gegenteil. Ich habe mich deshalb immer wieder gefragt, wie meine Zeitgenossen nur auf einen solchen Unsinn kommen können und meine Aufgabe als Mediävist nicht zuletzt auch in der Ausräumung falscher Annahmen gesehen.

Vor zwei Tagen bin ich dann zufällig über einen schon etwas älteren SpOn-Artikel gestolpert, der sich mit der Problematik der mittelalterlichen Scheibenwelt mal etwas näher befaßt und siehe da, Romanist Reinhard Krügers hat sich mit eben derselben quälenden Frage durch ca. 1800 Jahre Wissenschaftsgeschichte gewühlt. Dabei hat er herausgefunden, dass es in der gesamten Zeit tatsächlich drei mittelalterlich (bzw. spätantike) Gelehrte gab, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe, während alle übrigen sie für Dummschwätzer und die Erde für eine Kugel hielten. Die Rede ist von Kosmas Indikopleustes, Laktantius und Severianus von Gabala, die aber weder gelesen, noch beachtet wurden, denn seit dem antiken Philisophen Parmenides galt die Kugelform der Erde als bewiesen und wurde auch nicht angezweifelt. Also schlummerten unsere drei Gelehrten ihren Dornröschenschlaf, bis einer von ihnen in der Renaissance um 1540 von einem gewissen Nikolaus Kopernikus erweckt wurde.

Der Astronom hatte nämlich eine bis dahin unerhörte Theorie, deren Neuartigkeit nicht in der Annahme einer sphärischen Erde bestand, sondern in der Annahme eines Heliozentrums, um das die Planeten in Kreisbahnen ziehen. Die Kapitel über die Form der Erde hatte Kopernikus aus dem Standardwerk des mittelalterlichen Astronomieunterrichts, der Sphaera mundi des Johannes Sacrobosco, abgeschrieben, ohne freilich seine Quelle zu benennen. Da er aber Angst vor dem Spott eben jener Gelehrten hatte, die die Erde im Mittelpunkt glaubten, zitierte er auch den polemischen Laktantius, diesmal allerdings namentlich. Er argumentierte gegen seine Kritiker, dass wer sein heliozentrisches Weltbild bezweifle, ebenso dumm sei wie jener Laktantius. Und bereits 20 Jahre nach Erscheinen der Revolutionibus Orbium Coelestium des Kopernikus behauptete der Mediziner Johannes Dryander, die vormodernen Alten hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. In der Zeit der Aufklärung galt diese Lüge dann schon als Tatsache und wird bis heute von vielen Zeitgenossen als solche proklamiert. So viel also zum Aberglauben im Mittelalter: Eigentlich fehlt jetzt nur noch jemand, der kommt und behauptet, im Mittelalter hätte man Hexen verfolgt und verbrannt