[Magisterarbeit] Musica mensurabilis

Mittwoch, 11. Juli 2012

Ich hatte schon lange versprochen, nach der offiziellen Bewertung meine Magisterarbeit in meinem Blog online zu stellen und das möchte ich hiermit tun. Der vollständige Titel der Arbeit lautet „Music mensurabilis. Rhythmische Kodierung in der Musiknotation des Mittelalters“. Sie wurde am 25. April 2012 an der Freien Universität Berlin zur Erlangung des Magister-Grades im Fach Musikwissenschaft eingereicht, mit 1,3 bewertet und über einen Zeitraum von 5 Monaten mit LaTeX erstellt. Ich hatte die LaTeX-Formatvorlage „Vorlage_MA_LaTeX_garamond“ der Uni Regensburg aus dem Netz runtergeladen. Allerdings wirft die Seite momentan einen 404, weshalb ich sie erst einmal nicht hier verlinke. Es folgt eine kurze Einleitung und Zusammenfassung des Inhaltes sowie die Gliederung der Arbeit, Links auf die Digitalisate der drei betrachteten Handschriften sowie der Download-Link für die Arbeit selbst. Ich freue mich über eure Kritik und eure Fragen. (mehr …)

Rhythmus in der westeuropäischen Musik

Mittwoch, 04. Januar 2012

Ein signifikanter Teilbereich meiner Magisterarbeit wird sich mit der Frage, „Was ist Rhythmus?“, befassen. Ich habe dazu u.a. im Buch „Music, language and the brain“ (Oxford Univ. Press 2008) des amerikanischen Neurowissenschaftlers Aniruddh D. Patel gelesen, woraus ich hier nun einige Erkenntnisse zusammenfassen möchte. Ich halte die Ansätze der Musikkognition deshalb für interessant, weil die Struktur unseres Gehirns, unsere Wahrnehmung und damit auch unser Umgang mit Zeichensystemen (z.B. für die Aufzeichnung von musikalischem Rhythmus) in engem Zusammenhang stehen. Ich hoffe, dadurch Rückschlüsse darauf ziehen zu können, wie das „Ding ‚Rhythmus‘ in der Wirklichkeit“ beschaffen ist, auf welches ein musikalischen Zeichen verweist. Wenn ich mir anschaue, was Rhythmus eigentlich ist, d.h. sehe wieviele verschiedene Seins-Zustände er haben kann, dann verstehe ich vielleicht besser, wie dieser oder jener rhythmische Code funktioniert, was seine Nutzer sich dabei gedacht haben, ihn so oder so zu verwenden oder wie die Verwenung dieses Codes ihre Wahrnehmung und ihren Umgang mit musikalischem Rhythmus beeinflußt und verändert hat. (mehr …)

Deutsche Metrik – so funktioniert’s

Samstag, 10. Mai 2008

Immer wieder wollen User von mir wissen, wie man das Metrum von Gedichten bestimmt oder wie man selbst metrische Verse schreiben kann. Das ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst einmal begriffen hat, was es mit der Metrik überhaupt auf sich hat. Metrisch ist eine (deutsch-)sprachliche1 Äußerung nämlich dann, wenn sie eine regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben aufweist. Und wer den Rhythmus nicht sowieso schon im Blut hat, der kann sich leicht über die Theorie eine Brücke bauen. Wie das funktioniert, möchte ich in diesem Post erklären. Sieben praktische Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene sollen dabei helfen. (mehr …)

Suchanfrage vom 14.04.08

Montag, 14. April 2008

Bei Blicken in meine Blogstatistik sorgen die Suchanfragen, mit denen Leute auf meine Seite gefunden haben, immer für die meiste Erheiterung. Ab und an sind da aber auch interessante Fragen formuliert, zu denen ich mich einfach äußern muß. Wo, wenn nicht hier?

Die anonyme Suchanfrage des heutigen Tages lautet:

Wie ist das Metrum vom Erlkönig?

Das Metrum der Goethe-Ballade ist nicht homogen, weshalb es etwas schwierig zu bestimmen ist und zumindest nicht durch einen einzigen Musterbegriff gefaßt werden kann. Dazu die ersten beiden Verse:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.

(Betonte Silben sind unterstrichen.)

Hier wird deutlich, dass die Zahl der zwischen den Hebungen befindlichen Senkungen zwischen 1 und 2 variiert. Die Analyse der Folgeverse zeigt, dass diese Variation nicht regelmäßig ist, sondern spontan auftritt. Ich würde das Metrum daher als ein heterogenes, überwiegend iambisches mit daktylischen Einschüben bezeichnen. Diese analytisch-trockene Erkenntnis macht aber erst dort Sinn, wo sie in Bezug zu der Wirkung gesetzt wird, die ein solches Metrum erzielt. Geradezu bildhaft ahmt es nämlich den holprigen, aufgeregten Galopp des Pferdes nach, auf dem Vater und Sohn durch die Nacht preschen!

  • weitere Suchanfragen findest du hier »

Dróttkvætt [Strophenform]

Samstag, 11. November 2006

Das Dróttkvætt (sprich: Drotzkwett) ist eine Strophenform, und zwar die strengste, die die altnordische Skaldendichtung zu bieten hat. Sie war in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und ist sehr komplex. Da ich es für spannend und interessant halte, diverse poetische Formprinzipien kennenzulernen, habe ich hier mal die Grundlagen zum Dróttkvætt zusammengefaßt.

Das Dróttkvætt („Hofton“) ist die strengste Strophenform der altnordischen Skaldendichtung und gleichsam ihr Hauptversmaß. 5/6 aller erhaltenen Texte sind im Hofton überliefert.

Metrische Struktur

Eine Strophe („vísa“) besteht aus je 2 Halbstrophen („helmingr“) mit je vier sechsgliedrigen1 Halbzeilen („vísuorð“). Im Anvers müssen sich zwei Stäbe („suθlar“) auf betonten Silben befinden, im Abvers ein Stab („höfuðstaðr“) auf der ersten Silbe, wobei Konstonanten mit sich selbst staben und Vokale miteinander2.

In jedem Halbvers befindet sich zusätzlich ein Binnenreim („hending“), wobei hier der Gleichklang von Lauten innerhalb von Reimworten gemeint ist. Jede vorletzte, betonte Silbe nimmt am Binnenreim teil. Der Reimpartner muß auf einer betonten Silbe weiter vorn sein. In jedem ungeraden Halbvers sind die Binnenreime Halbreime („skoθhending“), d.h. nur Konsonantenklänge stimmen überein. In geraden Halbversen sind die Binnenreime jedoch Vollreime („adalhending“), d.h. Vokale und Konsonanten lauten gleich.

Darüber hinaus sind im Hofton sogenannte Kenningar unabdingbar. Das sind zwei- oder mehrsilbige, bildliche Umschreibungen, die sich im Idealfall nur mit einer speziellen Kenntnis der altnordischen Mytholgie entschlüsseln lassen. Einige Kenningar sind auch aus dem Kontext heraus zu entschlüsseln. Typischerweise ist jede Halbstrophe von einem Kenning bestimmt, das auch mehrere Teile oder Glieder haben kann.

Da der Dichter durch diese Formstrenge relativ eingeschränkt ist, besteht seine einzige Ausweichmöglichkeit in der Wortstellung, was darauf hinausläuft, dass die Syntax nicht immer leicht zu durchschauen ist.

Beispiel

Das Beispiel ist ein Totenpreis für den dänischen Wikingerführer Sibbe, der in jüngerem Futhark (Runen) auf den Stein von Karlevi geritzt ist. Fett sind die Stäbe, unterstrichen die Binnenreime und kursiv die Kenningar, wobei zusammenhängende Teil-Kenningar durch * gekennzeichnet sind.

Folginn liggr hinn’s fylgðu
(flestr vissi þat) mestar
dáðir dolga þrar
draugr
í þeimsi haugi.
Mun-at reið-Viðurr* ráða
rógostarkr í Danmǫrku
*Endils jǫrmungrundar
ørgrandari landi.

In diesem Hügel verborgen liegt der Krieger („Baum der Thrud der Kämpfe“), dem (die meisten wissen das) die größten Taten folgten. Nicht wird ein kampfstarker, untadeliger See-Krieger („Wagen-Odin des weiten Grundes des Endill“) über Land in Dänemark herrschen.

Überlieferung

Viele Skaldenstrophen sind als Zitate in Sagas oder in der Snorra-Edda, dem Skaldenlehrbuch Snorri Sturlusons (1079 – 1241), überliefert. Im Gegensatz zu Edda-Liedern sind die Skaldenstrophen häufig mit Verfassernamen angeführt.

Frühe Formen finden sich bei Bragi enn gamli Boddason (9 Jh.), dem ersten namentlich bekannten Skaldendichter und Egill Skallagrímsson, der um 900 bis nach 990 gelebt hat.

Literatur

  • Andersson, Th. / Marold, E. (2000), „Karlevi“, 2RGA 16, 275-280.
  • Jónsson, Finnur (1912 – 1915), Den Norsk-Islandske Skjaldendigtning, Bde. A I-II, B I-II, København und Kristiana

Weblinks

Wer mehr Infos zum Dróttkvætt (Dróttkvaett, Drottkvaett) oder Verbesserungsvorschläge zu diesem Artikel hat, sei dazu ermuntert, sein Wissen hier beizutragen.
__________
1. Die Sechsgliedrigkeit entspricht weitestgehend einer Sechssilbigkeit mit drei Hebungen, ist aber doch nicht ganz dasselbe.
2. Die Konsonantenkombinationen sk, sp, st bilden eine Ausnahme. Sie staben nur mit sich selbst, nicht aber mit s, während Kombis wie kr oder kl durchaus mit k staben. Als Vokal wird auch j behandelt.

Wieviele Strophen hat ein Sonett?

Sonntag, 19. März 2006

In vielen Literaturen kann man über das Sonett lesen, es bestünde aus vier Strophen, von denen die ersten beiden Quartette und die letzten beiden Terzette wären (Varianten inbegriffen). Andererseits taucht das Sonett als Besonderheit unter den sogenannten Strophenformen auf, woraus man schließen könnte, es bestünde lediglich aus einer einzigen Strophe, die verschiedenartig untergliedert ist oder sein kann. Wieviele Strophen hat nun aber das Sonett wirklich?

Um der Antwort auf diese Frage näher zu rücken, ist es sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, was eine Strophe eigentlich per definitionem ausmacht und dann zu untersuchen, ob das, was im Sonett den Anschein macht, Strophe zu sein, dem entspricht.

“Die aus mehreren Versen bestehende, sich mehrfach wiederholende metrische Einheit eines Gedichts heißt Strophe. […] Von Strophen im strengeren Sinne spricht man, wenn diese sich durch strukturelle Übereinstimmungen in Metrum, Rhythmus und / oder Reim wiederholen”, heißt es auf einer Seite der Uni Essen. Es ist also zunächst einmal zu bemerken, dass Strophigkeit an die lautlichen Aspekte der Sprache gebunden ist und nicht etwa an die graphischen. Eine Leerzeile/ein Absatz ist also kein Indiz dafür, dass man es mit einer Strophe zu tun hat. Die strukturellen Übereinstimmungen, von denen die Rede ist, müssen hörbar sein. Eine Strophe ist also eine Einheit aus mehreren Versen, die in Metrum und Reim mit einer anderen, solchen Einheit strukturell übereinstimmt.

Daraus ergibt sich eine gewisse Logik für die Definition einer Strophe, die ich anhand verschiedener Strukturmodelle erläutern möchte. Dabei ist jeder Vers ein Element aus einem bestimmten Metrum kombiniert mit einem bestimmten Endreim. Jede Kombination wird schematisch durch einen eigenen Kleinbuchstaben wiedergegeben. Gleiche Kombinationen erhalten gleiche Kleinbuchstaben.

abababab – Ich höre eine Folge von 1 x 4 x 2 Elementen. Zwei Elemente (ab) bilden eine Einheit zu zwei Elementen (ab), die sich je viermal wiederholen. Ich höre genau eine Einheit der Struktur 4 x 2, eine Strophe.

abababab cdcdcdcd – Ich höre eine Folge von 2 x 4 x 2 Elementen. Vier Elemente (abcd) bilden zwei Einheiten zu je zwei Elementen (ab und cd), die sich je viermal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 4 x 2, zwei Strophen.

abab cdcd – Ich höre eine Folge von 2 x 2 x 2 Elementen. Vier Elemente (bbcd) bilden zwei Einheiten zu je zwei Elementen (ab und cd), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 2 x 2, zwei Strophen.

abab cdcd efef ghgh – Ich höre eine Folge von 4 x 2 x 2 Elementen. Acht Elemente (abcdefgh) bilden je vier Einheiten zu je zwei Elementen (ab, cd, ef und gh), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre vier Einheiten der Struktur 2 x 2, vier Strophen.

abcabc – Ich höre eine Folge von 1 x 2 x 3 Elementen. Drei Elemente (abc) bilden eine Einheit zu drei Elementen (abc), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre genau eine Einheit der Struktur 2 x 3, eine Strophe.

abcabc defdef – Ich höre eine Folge von 2 x 2 x 3 Elementen. Sechs Elemente (abcdef) bilden zwei Einheiten zu je drei Elementen (abc und def), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 2 x 3, zwei Strophen.

Auch wenn es mir um diese Stunde (0h13′) schwerfällt, diese Logik in allgemein verständliche Worte zu fassen, denke ich, dass der Punkt, auf den es hinausläuft, klar geworden ist. Zwischen ab und ab besteht eine Identität und sie bilden maximal eine Einheit. Zwischen abab und cdcd besteht eine strukturelle Übereinstimmung und sie bilden daher maximal zwei Einheiten.

Eine Aussage über die Strophigkeit eines Abschnitts im Gedicht kann letztlich immer nur in Bezug auf die Gesamtheit des Textes gemacht werden. Folgt nach dem Abschnitt abab ein Abschnitt cdcd und endet der Text damit, liegen zwei Strophen der Struktur 2 x 2 vor. Folgt nach cdcd aber noch e, so liegt insgesamt nur eine Einheit mit drei Abschnitten (2×2) + (2×2) + (1×1) vor. Da die Struktur 1×1 nicht mit der Struktur 2×2 übereinstimmt, handelt es sich nicht um drei Strophen, sondern lediglich um eine einzige.

Das klassische Sonett weist für gewöhnlich vierzehn Verse gleichen Metrums auf (in der Regel sind es vierzehn fünfhebige Iamben), die sich lediglich durch die Endreime voneinander unterscheiden. Die Struktur der einzelnen Elemente (Metrum-Reim-Kombi) entspricht also der Struktur der Endreime. Ein schematisches Modell eines typischen Sonetts läßt sich demnach auf die Struktur der Endreime reduzieren. Das könnte bspw. so aussehen: abab abab cde cde.

Ich höre eine Folge aus 1 x 4 x 2 und 1 x 2 x 3 Reimen. Fünf Reime (abcde) bilden eine Einheit aus zwei Abschnitten (ab und cde), von denen der erste zwei Reime aufweist, die sich je viermal wiederholen und der zweite drei Reime, die sich je zweimal wiederholen. Die Struktur beider Abschnitte stimmt nicht überein (4×2 ungleich 2×3). Ich höre eine Einheit aus (4×2) + (2×3) Reimen. Das Sonett hat also nicht vier, nicht zwei, sondern lediglich eine einzige Strophe, die in verschiedene Abschnitte untergliedert sein kann.

Update vom 16.10.07: Für das Verständnis der Strophe ist der Begriff der Periode interessant. Eine Periode ist eine regelmäßig wiederkehrende, strukturelle Größe. Gibt es einen Text mit acht gleichlangen Zeilen, in dem jeder ungerade Endreim auf -ehen und jeder gerade Enreim auf -agen endet, so haben wir einen Text aus vier ab-Perioden. Kommt nun weiterer Teil mit wieder acht ebenso gleichlangen Zeilen dazu, in dem jeder ungerade Endreim auf -iegen und jeder gerade Endreim auf -osen endet, so haben wie einen Text aus vier ab- plus vier cd-Perioden, deren Struktur (Verslänge und Kreuzreimschema) identisch ist. Diese zwei strukturidentischen, aber nicht reimidentischen Perioden wären Strophen. Würden die Reimworte in den zweiten acht Zeilen nicht wechseln, so hätten wir nur eine Strophe aus acht ab-Perioden.

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005