Werkeinführung: Beethoven ~ Christus am Ölberge | Szymanowski ~ Stabat Mater

Donnerstag, 13. März 2008

Am 11. April 2008 wird mein Chor, die Berliner Singakademie, sein drittes Abonnementkonzert in dieser Saison aufführen. Auf dem Programm stehen Ludwig van Beethovens „Christus am Ölberge“ und Karol Szymanowskis „Stabat Mater“. Das Ganze kommt ab 20:00 Uhr im Großen Saal des Konzerthauses Berlin (am Gendarmenmakrt) auf die Bühne. Unterstützung bekommen wir vom Konzerthausorchester und renommierten Solisten. Freunde, die Karten über mich bestellen möchten, bekommen 15% Rabatt auf die oberen drei Preiskategorien. Meldet euch einfach bei mir oder bestellt online! Aber nun zur Werkeinführung.

Werkeinführung

Als es im 19. Jahrhundert durch die Initiative Mendelssohns zur „Bach-Renaissance“ kam, gerieten die religiösen Oratorien des 18. Jahrhunderts langsam in Vergessenheit, und kaum jemand weiß heute noch, dass auch Ludwig van Beethoven, der uns in erster Linie durch seine Instrumentalwerke vertraut ist, ein solches Stück für Chor und Orchester komponiert hat. Obwohl die hohe Opuszahl einen späteren Entstehungszeitraum vermuten lässt, entstand Christus am Ölberge in der Zeit der Zweiten Sinfonie. Beide Stücke wurden am 5. April 1803 zusammen mit weiteren Werken im Theater an der Wien uraufgeführt.

Als während der Fastenzeit Opernaufführungen verboten waren, ließ Emanuel Schikaneder, der berühmte Direktor des genannten Wiener Theaters, publikumswirksame Konzerte aufführen. Beethovens Oratorium schien mit seinen vor der Passion Christi angesetzten Inhalten ein passender Ersatz. Gleichzeitig betrat Beethoven neues kompositorisches Terrain und konnte sich seinem Publikum erstmals mit einem Vokalwerk präsentieren. Trotz der Länge des Konzertabends, dem langwierige und anstrengende Proben vorausgegangen waren, wurde Christus am Ölberge von der Hörerschaft gut aufgenommen und zu einem der wenigen Erfolge, die dem Komponisten während seiner Lebzeit vergönnt waren. Die Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ) lobte das Oratorium als sensationellen Erfolg.

In seiner dunklen Tonart verweist die kontemplative Es-Moll-Einleitung bereits auf Fidelio, die einzige Oper Beethovens, die ebenfalls im Theater an der Wien uraufgeführt wurde. Musikalische Anklänge verweisen auch auf das Kompositionsstudium bei Antonio Salieri, erinnern an Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart oder Haydn. Das Textbuch stammt von Franz Xaver Huber, einem Wiener Schriftsteller, der sich als Librettist bereits einen Namen gemacht hatte. Beethoven war davon nicht vollständig überzeugt: In einem Brief schrieb er 1824, er wolle lieber Homer, Klopstock oder Schiller vertonen, die er wegen ihrer dramatischeren Sprache dem reflexiven Ton Hubers vorzog. Dennoch veränderte er 1811 zur Drucklegung keine Silbe des von innerer Reflexion und Geistlichkeit getragenen Textes.

Thematisch ebenfalls in Richtung der Passion weist Karol Szymanowskis Stabat Mater, eine Kantate aus sechs Sätzen, die Aushängeschild des individuellen und facettenreichen Stils des polnischen Komponisten ist und diesen über Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Viele heterogene Einflüsse verschmelzen hier zu einem Tableau, so greift Szymanowski auf den Gregorianischen Choral oder die Parallelorgana der Pariser Notre-Dame-Epoche zurück, orientiert sich an der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, aber auch den impressionistischen Klängen seiner Zeitgenossen Stravinsky und Ravel oder den rhythmischen Novitäten eines Alexander Skrjabin.

Besonders war Szymanowski aber um die Rolle der polnischen Musikkultur bemüht und suchte zeitlebens nach einem Nationalstil, während das Land erst 1918 überhaupt die Staatssouveränität erlangte. Bereits als Student schloss er sich der Berliner Gruppe „Junges Polen“ an, die sich als Konzertveranstalter und Herausgeber polnischer Kompositionen hervortat. Da er wegen einer Knieverletzung vom Kriegsdienst befreit war, lebte er während des Ersten Weltkrieges zurückgezogen auf dem ukrainischen Familiensitz, um sich fernab des Tumults seinen Kompositionen zu widmen.

Als das Grundstück aber während der russischen Revolution zerstört wurde, bekam auch er das menschliche Leid hautnah zu spüren, ein Leid, das auch aus seinem Stabat Mater bedrückend hervorschreit, in leisen Passagen unsicherer Angst oder gewaltigem Aufbrausen von Zorn und Verzweiflung. Anlass zu dieser ans Innerste rührenden Komposition hatte im Januar 1925 der Tod seiner Nichte gegeben, ein Jahr später liegt die Partitur vor, und 1929 kommt es in Warschau unter Grzegorz Fitelberg, einem Mitglied des „Jungen Polen“, zur umjubelten Uraufführung. Das franziskanische Gedicht um die Mater Dolorosa – Szymanowski legte eine polnische Variante zugrunde – wird zu einem überreligiösen Symbol der Trauer und Verzweiflung.

Am 11. April 2008 wird die Berliner Singakademie beide Werke gemeinsam mit dem Konzerthausorchester sowie Yoon Cho Cho (Sopran), Bogna Bartosz (Alt), Markus Schäfer (Tenor) und Mario Hoff (Bass) um 20:00 Uhr im Konzerthaus Berlin aufführen. Karten gibt es zwischen 8 und 25 € online auf http://berliner-singakademie.de (mit Lieferung nach hause) oder an Konzertkassen (mit selbst Rausgehen). Wir würden uns über Euren Besuch freuen.

Werkeinführung: Johann Sebastian Bach ~ Weihnachtsoratorium

Freitag, 30. November 2007

Am 23.12.2007 führt mein Chor, die Berliner Singakademie, gemeinsam mit seinem Kinderchor, dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und vier wunderbaren Solisten (Geller, Markert, Petzold, Gottschick) im Großen Saal der Berliner Philharmonie das Weihnachtsoratorium (I-III, VI) von Johann Sebastian Bach auf. Wer das Konzert besuchen möchte oder noch darüber nachdenkt, kann sich hier als Apppetithäppchen meine kleine Werkeinführung durchlesen. Und wer noch ein Weihnachtsgeschenk für seine Liebsten sucht, könnte mit dem Besuch eines so traditionellen Konzertes am Tag vor Heilig Abend vielleicht genau ins Schwarze treffen. Die Karten kann man bequem online bestellen (und sollte das tun, solange noch gute Plätze vorhanden sind).


Berliner Singakademie vor dem Konzerthaus Berlin
am Gendarmenmarkt

Werkeinführung

Kein anderes Werk gehört so sehr zu Weihnachten, wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach und kein zweites Werk Bachs erlangte solche Popularität wie dieses. “WO” nennen es Insider schlicht, und es ist eines von drei Bachschen Werken, denen der Komponist den Titel “Oratorium” zugedacht hat.

Dabei handelt es sich eigentlich um einen Kantaten-Zyklus, dessen sechs Teile an den damals drei Weihnachtsfeiertagen, dem Neujahrsfest, dem Sonntag nach Neujahr und dem Epiphaniasfest aufgeführt wurden. Durch seine Bildungsreise in den Norden ist Bach schon 1705 mit ähnlich groß angelegten musikalischen Formen in Berührung gekommen. Für die Weihnachtsfeierlichkeiten der Leipziger Hauptkirchen St. Nicolai und St. Thomae zur Jahreswende 1734/35 komponierte er nun selbst eine solche Großform.

Die sechs Teile sind in sich geschlossen, was nicht nur durch den Textzusammenhang, sondern auch durch die musikalische Anlage deutlich wird. Als Jubelton spannt D-Dur den tonartlichen Bogen über das gesamte Werk. Es eröffnet im ersten Teil, kulminiert im dritten und kehrt in Teil sechs schließlich zur Grundtonart zurück. Die übrigen Kantaten sind von verwandten Tonarten geprägt. Die Subdoninante G-Dur ist charkateristisch für den pastoralen Inhalt des zweiten Teils. Im vierten erzeugt die Parallele der Mollvariante, F-Dur, eine gefällige Ruhe und A-Dur, die Dominante ist Ausdruck von Zufriedenheit im fünften Teil.

Insgesamt versprühen die sechs Kantaten mit ihren Dur-Tonarten eine anhaltende Jubelstimmung, ein Umstand, der möglicherweise auch dem weltlichen Ursprung einzelner, beinhalteter Stücke geschuldet ist. Bach komponierte nämlich nicht das gesamte Material für sein Weihnachtsoratorium neu. Ein Großteil der Arien und nicht-choralgebundenen Chöre entstammt zwei Huldigungskantaten für das sächsische Herrscherhaus, die schon 1733 entstanden sind und ihrerseits wiederum auf früheres Material zurückgreifen. Bach übernimmt die Musik, arbeitet sie leicht um und unterlegt sie mit einem neuen Text. Aus “Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten” (BWV 214) wird “Jauchzet, frohlocket”, der imposante Eingangschor des Oratoriums, bei dem noch immer zuerst die Pauken, dann die Trompeten einsetzen.

Parodie nennt man dieses Verfahren und es entsprach der gängigen Praxis des Barockzeitalters. Der romantischen Vorstellung von der Einmaligkeit des einen vollkommenen Originals entsprach es jedoch nicht und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Weihnachtsoratorium deshalb als imperfekt stigmatisiert. Generationen von Musikwissenschaftlern verwandten ihre Fähigkeiten darauf, Rechtfertigungen für seine Beliebtheit zu formulieren. Dabei geht es in der barocken Affektenlehre nicht um eine musikalische Ausformung sprachlicher Begrifflichkeit, sondern um die Vermittlung überbegrifflicher Emotionen, eben Affekte und dahingehend kann die Freude beim Anblick des Jesus-Kindleins durchaus der Freude beim Lobpreis am Herrschersohn entsprechen. Dem barocken Anspruch eines aufeinander abgestimmten Wort-Ton-Verhältnisses wird das Weihnachtsoratorium also allemal gerecht. Es als Recycling-Produkt abzuwerten oder gar zu verschmähen wäre verkehrt, zumal es durchaus innovative Neukompositionen bietet.

Sämtliche Rezitative und Choräle sind exklusiv für das Weihnachtsoratorium geschaffen worden, ebenso die Sinfonia zu Beginn des zweiten Teils mit ihren Geigen, Flöten und Schalmaien. Neu komponiert wurde auch die Sopran-Arie “Schließe, mein Herze” als Zentrum der dritten Kantate und des gesamten Zyklus, obwohl Bach zunächst auch dort über eine Parodie nachdachte. Einen fast fertigen Satz in seiner Lieblingstonart h-Moll verwarf er, bevor die endgültige Fassung entstand. Einzigartig in Bachs Gesamtwerk bleibt das Duett aus Bass-Rezitativ und der Choralweise “Jesu, du mein liebstes Leben” im Sopran, das den Rahmen für die “Echo-Arie”, das geistige Zentrum der F-Dur-Kantate bildet.

Jede der sechs Kantaten hat ihr eigenes musikalisches Zentrum und folgt einer eigenen Binnenstruktur, was die Aufführung an verschiedenen Feiertagen ermöglichte. Betont wird dabei oft die pietistische Anlage der einzelnen Teile, die mit der Folge Evangelist, frei gedichtetes Rezitativ, Arie und Choral der Vorstellung der Bibellektüre von Lesung, Betrachtung, Gebet und Amen der Gemeinde entspräche. In seiner Reinform trifft dies aber nur auf die erste Kantate wirklich zu. Das Pietistische liegt vielmehr in den theatralisch, bildreichen Choralstrophen, die Bach vom Textdichter Paul Gerhardt übernahm.

Nur einmal wurde das Weihnachtsoratorium zu Bachs Lebzeiten aufgeführt. Erst 1857 brachte die Singe-Academie zu Berlin, die auch im Besitz des Autographen war, das Werk wieder auf die Bühne. So konnte es schließlich seinen Siegeszug antreten. Heute wird das WO selten auf verschiedene Feiertage verteilt aufgeführt, eher finden sich Teilaufführungen der Kantaten I-III und IV-VI. Die Berliner Singakademie wird am 23.12.2007 in der Philharmonie Berlin die Kantaten 1-3 und 6 aufführen. Unterstützt wird sie dabei vom Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und ihrem hauseigenen Kinder- und Jugendchor, sowie den Solisten Brigitte Geller (Sopran), Anette Markert (Alt), Martin Petzold (Tenor) und Jörg Gottschick (Bass). Die Leitung übernimmt Achim Zimmermann. Sichern Sie sich rechtzeitig Ihre Karten und lassen Sie Sich und ihre Liebsten mit Bachschen Jubelchören, Arien und Rezitativen gebührend von uns auf die Weihnacht einstimmten.

Werkeinführung: Joseph Haydn ~ Die Jahreszeiten

Montag, 07. Mai 2007

„Die ‚Jahreszeiten‘ haben mir den Rest gegeben. Ich hätte sie nicht schreiben sollen“, bemerkte Haydn (1732 – 1809) einmal zu seinem zweiten Oratorium. Auf seinen zwei Englandreisen in den 1790ern hatte der Wiener Komponist das Potential großer Oratorienkompositionen kennengelernt. Händel wurde nach wie vor aufgeführt und vom Publikum verehrt und so sann Haydn über die Komposition eigener Oratorien nach. Mit John Miltons „Creation“ und James Thomsons „The Seasons“ brachte er sich englische Textvorlagen in die Heimat mit, wo ihn der Wiener Hofbibliothekar, Baron Gottfried van Swieten, drängte, das Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Van Swieten war ein Liebhaber der Oratorienkunst und organisierte regelmäßig private Aufführungen von Händel-Oratorien. Mozart schrieb aus diesem Anlass seine deutsche Fassung des „Messiah“ und Haydn ließ sich schließlich auf die Zusammenarbeit mit dem Amateurdichter ein. Van Swieten übersetzte das Versepos „Creation“ ins Deutsche und obgleich Haydn vom Libretto nicht sonderlich begeistert war, ging die Arbeit zügig vonstatten. Die ‚Schöpfung‘ wurde ein großer Erfolg und machte Haydn über Nacht zu einem Stern am Komponistenhimmel.

Schon während der ersten Aufführungen der ‚Schöpfung‘ arbeitete er an den ‚Jahreszeiten‘ und das Publikum erwartete deren Uraufführung sehnsüchtig. Doch die Entstehung sollte sich noch zwei Jahre mühsam hinziehen. Immer wieder mischte sich van Swieten in die musikalische Umsetzung ein, er verlangte üppige tonmalerische Umsetzungen der Naturschilderungen und ließ Haydn wenig kreativen Freiraum. Empört über den rechthaberischen Starrsinn des Barons kritzelte er bei der Korrektur des Klavierauszugs eine Notiz in die Noten: „Diese ganze Stelle […] ist nicht aus meiner Feder geflossen; es wurde mir aufgedrungen, diesen französischen Quark niederzuschreiben.“

In Oratorien waren es üblicherweise Helden der Antike oder des Christentums, die durch profonde Themen führten, genau wie in der ‚Schöpfung‘. In den ‚Jahreszeiten‘ sangen hingegen Bauern von irdischen Belanglosigkeiten und Haydn hatte große Probleme, sich damit anzufreunden. Dennoch gelang ihm im Frühjahr 1801 die Fertigstellung einer großartigen und zukunftsweisenden Komposition. Ideen der idyllischen Naturverbundenheit und der Flucht ins Private verweisen bereits auf die herannahende Kulturepoche des Biedermeier und Romantiker wie Weber, Schubert oder Lorzig inspirierten sich bald am volkstümlichen Ton des Haydn-Oratoriums.

Dem Jahreszeitenzyklus entsprechend ist es in die vier Teile eingeteilt. Eine stürmische G-Moll-Einleitung vollzieht den Übergang vom Winter zum Frühling, der vom Chor freudig begrüßt wird. Wohlgemut pfeift Pächter Simon (Bass) sich mit dem Thema aus der ‚Sinfonie mit dem Paukenschlag‘ bei der Arbeit ein Lied und bringt damit eines der seltenen Selbstzitate Haydns. Seine Tochter Hanne (Sopran) und Bauer Lukas (Tenor) stehen ihm zur Seite. Ähnlich wie in Vivaldis „Jahreszeiten“ erklingt auch hier ein Loblied auf den Wein im Sommer und ein Jagdlied im Herbst, und im fugaten Schlußchor gen Winter werden ernstere Töne angestimmt, wie man sie aus der Schöpfung kennt.

Haydn mag das Libretto nicht gemocht haben, seine Komposition fand ihre Bewunderer. So stand im Winter 1801 in einer Ausgabe der „Zeitung für die elegante Welt“: „Demungeachtet hat und behält das Werk unübertreffliche Schönheiten, herrlich und großartig gearbeitete Partien und Tongemälde […], wodurch es sich zu allen Zeiten auszeichnen wird.“

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Quellen: K. Schumann, D. Starke, Wikipedia

Weihnachtsoratorium bei Harmonia Mundi

Freitag, 10. November 2006

Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium; Dorothea Röschmann, Sopran; Andreas Scholl, Alt, Werner Güra, Tenor; Klaus Häger, Bass; Rias-Kammerchor, Akademie für alte Musik Berlin, René Jacobs, Dirigat; Harmonia Mundi, France

Wenn man zu Dussmann geht, um in den CDs oder Büchern zu wühlen, dann kommt man selten unter zwei Stunden wieder aus dem Geschhäft. Meist fehlen hinterher auch einige Euros im Portemonaie. Unerwartet unkompliziert verlief heute meine Suche nach einer geeigneten Aufnahme des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach und das obwohl das Angebot reichhaltig war.

Schon die Aufmachung der Sonderedition bei Harmonia Mundi machte einen ansprechenden Eindruck. Ein Buch im Hardcover, dreisprachig mit 120 Seiten Booklet und zwei Inlets für CDs. Als ich dann RIAS-Kammerchor, Akademie für alte Musik Berlin und Andreas Scholl las, wußte ich, dass ich mich in diese CD vermutlich auf’s erste Reinhören verlieben würde. Allerdings war sie nicht ausgepreist und ich hatte die Vermutung, dass sie den Spinnenweben in meinem Geldbeutel wohl spotten würde. Also hörte ich mich zuerst durch ein paar andere Aufnahmen im Bereich zwischen 17 und 35 Euro – es war grausam. Hier Sopranösen mit Oktavvibrato, dort krächzende Knabenchöre und andernorts eine Interpretation, die eher an Marschmusik, denn an ein Oratorium erinnerte.

Spaßenshalber fragte ich dann doch mal nach dem Preis der Sonderedition und siehe da: „Nur 19.95? Sind sie sicher?“ „Ja.“. Wie vermutet enttäuschte mich die Hörprobe nicht, im Gegenteil. Die alten Instrumente verleihen dem Klang einen gedeckten und warmen Charakter. Vom RIAS-Kammerchor ist man Gutes ja gewöhnt und auch die Solisten sind hervorragend besetzt. Der Evangelist wirkt nicht überfordert oder übereifrig, wie das bei Evangelisten häufig der Fall ist und auch die Sporanistin, von der ich vorher noch nichts gehört hatte, klingt glasklar, gar nicht wie eine Opern-Diva.

Einziges Manko ist vielleicht das Tempo der Sinfonia, die den zweiten Teil des Oratoriums einleitet. Diese hätte ich mir eine Spur flotter gewünscht, aber auch das Tempo, das René Jacobs wählt, tut ihr keinen Abbruch. Rund herum bin ich sehr zufrieden wieder auf die Straße zurück in die Realität getreten und das nach nur einer Stunde und mit nur 19.95 Euro weniger in der Tasche. Erfreulich.

Wer also derzeit nach einer guten Aufnahme des Weihnachtsoratoriums sucht, dem sei diese wärmstens empfohlen. Eine kleine Hörprobe und mehr Infos zur CD finden sich auf der Seite der Harmonia Mundi: http://www.harmoniamundi.com/others/album_fiche.php?album_id=812

Werkeinführung: Georg Friedrich Händel ~ Judas Maccabäus

Freitag, 15. September 2006

Konzerteinführung

Wir schreiben das Jahr 168 v. Chr. Antiochus IV. Epiphanes, König des Seleukidenreiches, besiegt im Sechsten Syrischen Krieg die ägyptischen Könige Ptolemaios VI. und Ptolemaios VIII. In Folge dessen nimmt er auch das zum Ptolemäerreich gehörende Jerusalem ein. Um die Hellenisierung der Region voranzutreiben, erläßt er ein Religionsedikt, das den Jahwe-Kult verbietet, und zwingt die Juden ihrem Glauben durch Opferungen für die heidnischen Götter öffentlich abzuschwören. Als ein Abgesandter des Antiochus nach Mondein, einer kleinen Stadt unweit von Jerusalem, kommt und die Einwohner zu opfern auffordert, stößt er auf den heftigen Widerstand des Priesters Mattathias. Dieser versteckt sich fortan mit Gleichgesinnten in den Bergen und beginnt einen Partisanen- und Freiheitskampf gegen die seleukidischen Besatzer, der beim jüdischen Volk Zustimmung findet und ihm neue Hoffnung gibt. Bald darauf wird Mattathias jedoch krank und 161 v. Chr. stirbt er schließlich.

An diesem Trauerpunkt der Geschichte beginnt eines der wohl erfolgreichsten Oratorien des im barocken London wirkenden Komponisten Georg Friedrich Händel (1685 – 1759). Keine Pauken, keine Trompeten, getragene, durch Punktierungen fast schleppende Melodien in Moll bestimmen die Ouvertüre, die bald in eine aggressive Fuge mündet und hieran schließt sich der erste Klagegesang der Israeliten an. Simon, ein Sohn des verstorbenen Priesters Mattathias, weiß jedoch das jüdische Volk aufzubauen, indem er seinen Bruder Judas, den Makkabäer (von aramäisch makkaba – der Hammer), als neuen Anführer der Befreiungsbewegung vorschlägt. Enthusiastisch und vom Volk gefeiert tritt dieser sein Amt an.

Inzwischen hat Judas seine Armeen versammelt und ist gegen die Feinde gezogen. In Jerusalem feiern die Israeliten den Erfolg ihrer Kampfhandlungen und stimmen Triumphgesänge an. Doch die Stimmung wird bald durch Nachrichten weiterer, herannahender Truppen des Seleukidenkönigs getrübt. Erneut muß Judas in den Kampf ziehen und seinen Schlachtruf begleiten bald Pauken und Trompeten. Händel setzt beide Instrumente an dieser Stelle zum ersten Mal ein – ein Effekt, der nicht überwältigender sein könnte. Doch Simon mahnt Judas, vor seinem Auszug noch den Tempel, der durch die auferlegten, heidnischen Gebräuche geschändet wurde, zu reinigen und neu zu weihen, damit Gott ihnen bei ihren Geschicken helfe. Noch heute feiern Juden an Chanukka, dem Lichtfest, jährlich diese Weihe, mit der der dritte Teil des Oratoriums beginnt.

Judas hat Erfolg gegen die Feinde und feierlich ist sein Siegeseinzug in Jerusalem, doch bittet er darum, der Gefallenen zu gedenken, zu denen auch sein Bruder Eleasar gehört. Der Botschafter, den er während der Kämpfe nach Rom entsandt hatte, kehrt ebenfalls mit erfreulichen Neuigkeiten zurück. Rom hat ein Abkommen mit Israel geschlossen, um es vor weiteren Angriffen zu bewahren. Das Oratorium endet in Hymnen und Lobgesängen.

Die Handlung des „Judas“ bietet Raum für ausgedehnte musikalische Affekte, die zum Teil sogar wortmalerisch ausgestaltet sind. Von Trauer über Hoffnung bis Begeisterung ist das Spektrum weit gestreut. Ähnlich wie der „Messiah“ ist auch „Judas Maccabaeus“ eher reflektorisch als dramatisch angelegt. Es geht um zentrale Werte wie Freiheit, Gemeinschaft, Glaube und Gesetz. Vor allem das Volk kommt in den Rollen des Chores, der Israelitin und des Israeliten zum Zuge und steht für den kollektiven Gedanken, den Händel zu erfassen suchte.

Denn wie die Israeliten in „Judas Maccabaeus“, stand auch das englische Volk unter einer direkten, nationalen Bedrohung. Im Spätsommer 1745 hatte der katholische Thronprätendent Charles Edward Stuart, unter Geschichtskundlern besser bekannt als „Bonnie Prince Charlie“, weite Teile Schottlands eingenommen und rückte mit seinen Truppen weiter auf das völlig unvorbereitete England vor, um sein Erbrecht einzufordern. Dessen Großvater, Jakob II., wurde nämlich während der „Glorius Revolution“ von 1688 aus England vertrieben und durch seine Tochter, Maria II., und den protestantischen Wilhelm von Oranien ersetzt, in deren Folge die Könige aus dem Hause Hannover auf den englischen Thron kamen. Gegen diese Bedrohung aus dem Norden sandte König Georg II. seinen Sohn Wilhelm August, den Herzog von Cumberland, und seine Truppen. Händel stand der englischen Königsfamilie durchaus nahe, hatte er doch schon die Krönungshymnen für Georg II. geschrieben. Schnell komponierte er zur Erbauung des englischen Volkes Anfang 1746 sein weniger bekanntes „Occasional Oratorio“. Als nach der Schlacht von Culloden im April 1746 deutlich wurde, dass die Gefahr gebannt war, begann er die Arbeit an „Judas Maccabaeus“, das er dem siegreichen Feldherrn Cumberland widmete.

Die Uraufführung im April 1747 war ein Riesenerfolg und half dem Komponisten auch aus der psychischen und finanziellen Krise, in der er sich seit dem Boykott englischer Adelsdamen gegen seine Oratorienaufführungen befand. Händel hatte die Türen seines Hauses nun zum ersten Mal dem Bürgertum geöffnet und es strömte nur so herbei, um seine Musik zu hören. Um sein Publikum weiter zu begeistern, übernahm er nach und nach immer mehr Sätze in den „Judas“, die in anderen Stücke Anklang gefunden hatten, ohne jedoch vom ursprünglichen Material zu streichen. So ist z.B. der berühmte Chor „See, the conqu’ring hero comes“ eigentlich dem Oratorium „Joshua“ entnommen, das erst später entstand.

Schon zu Händels Lebzeiten ist das Stück in vielen verschiedenen Varianten erklungen. Puristen beschränken sich heutzutage auf die Version der Erstaufführung, andere spielen hingegen das gesamte Material, das mehr als zweieinhalb Stunden Spielzeit umfaßt. Die Berliner Singakademie unter ihrem Direktor Achim Zimmermann wird bei ihrer Aufführung am 29. Oktober 2006 einen Mittelweg wählen, den Text aber im englischen Original belassen.

Werkeinführung: Felix Mendelssohn Bartholdy ~ Elias

Montag, 22. Mai 2006

Konzerteinführung

“Die letzte Note des Elijah ging unter in einem Unisono von nicht enden wollenden Applaussalven von tosendem Lärm. Es war, als hätte der lang gestaute Enthusiasmus sich endlich Bahn gebrochen und die Luft mit wilden Schreien der Begeisterung erfüllt”, lobte der Rezensent der London Times die Uraufführung des Oratoriums um den alttestamentarischen Propheten Elias. Am 26. August 1846 hatte der Komponist selbst, der Berliner Zelter-Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1848), die rund 400 Aufführenden in Burmingham geleitet und erzielte damit einen seiner wohl größten Erfolge.

Erst neun Tage davor waren die letzten Teile seines Manuskripts für die Übersetzung und den Druck in England eingetroffen. Die Entstehungsgeschichte des Werkes reicht allerdings deutlich weiter in die Vergangenheit zurück. Vielleicht motivierte die gelungene Uraufführung seines ersten Oratoriums “Paulus” Mendelssohn schon 1836, ein zweites, noch beeindruckenderes Musikstück dieser Gattung zu komponieren. Jedenfalls findet der Elias-Stoff erstmals ein Jahr später in einem Brief an seinen Freund Karl Klingmann Erwähnung. Im Sommer 1837 hatten beide während eines London-Aufenthaltes gemeinsam ein szenisches Konzept erarbeitet, das Klingmann durch eigene und ausgesuchte biblische Verse vervollständigen sollte. Doch berufliche Probleme zwangen den Textdichter, seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden, so dass der Komponist die Zusammenarbeit im Mai 1838 aufgab und den “Elias” vorerst verwarf.

Als Mendelssohn aber 1845 gebeten wurde, das Burmingham Music Festival zu leiten und durch eine Eigenkomposition zu bereichern, gewann das Projekt neue Attraktivität. Er wandte sich an einen alten Bekannten, den Theologen Julius Schubring, der schon die Textgrundlage für den “Paulus” geliefert hatte und nun auch für den “Elias” aktiv wurde.

Während sich Medelssohn beim “Paulus” aber grundlegend am Beispiel Händels orientiert hatte, schwebte ihm für den “Elias” eine dramatischere Anlage vor. Weniger sollte ein Erzähler rezitativisch durch die Handlung führen, als vielmehr die Figuren selbst, “lebendig redend und handelnd”, wie es Mendelssohn in einem Brief an Schubring ausdrückte.

Diese Intention zieht sich durch das gesamte Stück und tritt gleich zu Beginn deutlich hervor. Noch vor der eigentlichen Ouvertüre eröffnet hier nämlich der Fluch des Elias (hebr.: “Mein Gott ist Jahwe”) die Handlung. Den dem Baalskult verfallenen Israeliten wird eine lange Trockenzeit angekündigt. Als sich diese Prophezeihung erfüllt, glaubt sich das Volk Israel von seinem Gott verlassen. Obadjah, ein Schüler des Elias, kennt den Grund und predigt die Wiederkehr zum Glauben an Jahwe. Um die Dürre zu überdauern hat sich währenddessen der Prophet am Bache Crith versteckt. Als aber auch dieser Quell versiegt, macht er sich auf nach Zarpath, wo er bei einer Witwe Unterschlupf findet. Nachdem er ihren toten Sohn mit der Hilfe Gottes wieder zum Leben erweckt hat, erkennt sie in Jahwe den einzigen und wahren Gott. Drei Jahre der Trockenheit sind seitdem vergangen und so begibt sich Elias zu König Ahab, der durch seine Heirat mit der phönizischen Prinzessin Isebeel die Ausbreitung des Baalskultes befördert hat, um ihn dessen anzuklagen. Ein Gottesurteil soll über den wahren Glauben entscheiden und auf dem Berge Carmel rufen die Anhänger Baals ihren Gott an, zum Beweis seiner Herrschaft Feuer auf die Erde zu senden. Doch dieser bleibt stumm. Erst als der Prophet Elias seinen Herrn anruft, entzündet sich das Flammenopfer. So erkennt auch das Volk Israel in Jahwe wieder den wahren Gott und die Baalspriester werden getötet. Auf Elias Bitten hin läßt Gott es auf Erden endlich wieder regnen und mit den Jubelgesängen des Volkes endet der erste Teil des Oratoriums.

Aber König Ahab hat sich noch immer nicht vom Baalskult abgewendet. Als Elias seinem Volk den Zorn Gottes prophezeiht, hetzt die Königin die Israeliten gegen ihn auf und er muss in die Wüste fliehen. Wegen seines Scheiterns verzweifelt, wünscht sich Elias den Tod, doch die Engel sprechen ihm Mut zu. Auf dem Berge Horeb, den er auf Geheiß der Engel erklommen hat, erscheint ihm Gott voller Sanftmut und um ihn herum singt der Engelschor: “Heilig, heilig ist Gott, der Herr Zebaoth”. Elias soll nun wiederum hinabgehen, um mit den übriggebliebenen 7000 Israeliten, die sich nicht vor Baal gebeugt haben, den wahren Glauben zu predigen. Mit starkem Wort gelingt es, den König zu stürzen und am Ende seines gelungenen Lebens holt der Herr seinen Propheten Elias in einer spektakulären Himmelfahrt zu sich.

Eigentlich endet die alttestamentarische Geschichte hier und das Oratorium könnte zu Ende sein, doch auf Anraten Schubrings fügte Mendelssohn noch einige Passagen bei, die den Übergang zum neuen Testament und damit zum christlichen Glauben herstellen. Damit lässt der protestantisch erzogene Sohn einer jüdischen Familie das Werk in gewisser Weise zu einem Spiegel seiner eigenen Glaubenssituation avancieren. Das ist aber auch der Grund dafür, dass die Dramaturgie gegen Ende des zweiten Teils an Kohärenz verliert und die Arien und Chöre zumindest inhaltlich relativ austauschbar erscheinen.

Ein von den religiösen Gründen unabhängiges Argument, das den Komponisten zu dieser Ergänzung getrieben haben könnte, mag in der ausgeprägten Laienchortradition zu suchen sein, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts florierte. Zeitgenössische Chormusik wurde damals vornehmlich von bürgerlichen Gesangsvereinen wie der Singe-Academie zu Berlin aufgeführt, deren Mitglied Mendelssohn seit 1820 war. Vermutlich hätte der alttestamentarische Stoff allein im zweiten Teil des “Elias” nicht mehr genügend Material für eine exponierte Rolle des Chores geboten, weshalb weitere große Chöre angehängt wurden.

Jedenfalls macht der “Elias” insgesamt den Eindruck, als hätte sein Komponist dem Chor besondere Aufmerksamkeit und Liebe angedeihen lassen. In ausgedehnten Passagen greift er aktiv in das Geschehen ein und setzt akzentuiert die oftmals kontrastierenden Affekte. Er steht im Dialog mit der Königin, als diese das Volk gegen Elias aufhetzt und ruft bald flehend, bald befehlend in die durch lange Generalpausen bis auf’s Äußerste gespannte Stille während des Gottesurteils. Mendelssohn läßt ihn sogar, was ungewöhnlich ist, rezitativisch hervortreten.

Mit ihren Konzerten am 17. und 18. Juni 2006 in Rostock unter Leitung von Achim Zimmermann und am 25.06.2006 unter Leitung des Gastdirigenten Peter Leonard hofft die Berliner Singakademie, die sich der Musik Mendelssohns seit langem verpflichtet fühlt, dieser besonderen, vom Komponisten höchst dramatisch angelegten Rolle gerecht zu werden.

Werkeinführung: Arthur Honegger ~ Jeanne d’Arc au bûcher

Montag, 27. Februar 2006

Was sich am 6. Mai 1939 während der Frankreich-Premiere von „Jeanne d’Arc au bûcher“ (Johanna auf dem Scheiterhaufen) in Orléans abspielt, gleicht auf traurige und groteske Weise der Thematik des dramatischen Oratoriums selbst. Das reaktionäre und rassistische Publikum eines auf Krieg eingestimmten Frankreichs verschreit Ida Rubinstein, Hauptdarstellerin und Auftraggeberin des Werkes, als Jüdin, der es nicht zustehe, die Rolle der reinsten, französischen Nationalheldin und Christin Johanna von Orléans zu spielen.

Nur ein Jahr zuvor, bei seiner konzertanten Uraufführung in Basel am 12. Mai 1938 unter Paul Sacher, riß „Jeanne d’Arc au bûcher“ Publikum und Presse zu Begeisterungsstürmen hin. Das Oratorium ist nicht das einzige Auftragswerk der russischen Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, das große Berühmtheit erlangt hat; zu nennen sind Highlights wie „Le Martyre de Saint Sébastian“ (Annunzio/Debussy) oder der „Boléro“ (Ravel). Sie und Arthur Honegger lernten sich über Jean Cocteau und die Group de Six kennen. Als sie im Frühjahr 1934 mit der Idee zu „Jeanne d’Arc“ zu ihm kam, war es nicht ihr erstes, gemeinsames Projekt. Als Textdichter hatte man Paul Claudel, den jüngeren Bruder der Bildhauerin Camille Claudel, vorgesehen. Dieser wagte sich als strenger Katholik zunächst nicht an die Thematik heran. Eine Vision, die er auf einer Bahnfahrt nach Brüssel hatte, gab ihm jedoch ein, es dennoch zu tun und so hatte er innerhalb weniger Wochen das Libretto komplett skizziert. Honegger konnte sich noch im selben Jahr an die kompositorische Arbeit machen.

Dabei hatte der Dichter genaue Vorstellungen von der musikalischen Umsetzung seines Textes; seine klaren Vorgaben waren eine Herausforderung für den Komponisten. Ausgehend vom Tag ihrer Hinrichtung erzählt „Jeanne d’Arc au bûcher“ die Geschichte der Märtyrerin Johanna, die als Sechzehnjährige ihre Heimat in Lothringen verließ, um das belagerte Frankreich von den Engländern zu befreien, dem Dauphin, Karl, zur Krone zu verhelfen und schließlich aus politischem Machtinteresse als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Dabei bedient sich das Oratorium Elementen des Mysterienspiels, der Oper und des antiken Dramas, vor allem aber einer Technik der Kinematographie. Dem Zuhörer erschließt sich die in einen Prolog und elf Szenen gegliederte Handlung durch ineinander verschränkte und sich überlagernde, teils historische, teils fiktive Rückblenden erst im Nachhinein.

Die Stimmen des Himmels rufen Johanna zu sich. Bruder Dominik liest ihr aus dem Buch ihres Lebens vor, da dringen die bestialischen Stimmen der Erde zu ihr, die Johanna anklagen und verwünschen. Einem Tiergericht soll sie übergeben werden, das in der Tradition des „Roman de Fauvel“ (Gervais du Bus, ~ 1310) über ihr Schicksal entscheiden soll. Zum Vorsitzenden ernennt sich Porcus, das Schwein (frz. Cochon), selbst; eine deutliche Anspielung auf den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, der in der Historie tatsächlich den Vorsitz im Prozess gegen Johanna innehatte. Die Schafe fungieren als Beisitzer und der Esel soll Schreiber sein. Von diesem Tiergericht wird Johanna verurteilt und findet sich am Pfahl auf den Scheiten wieder. Auf die Frage, wie sie dorthin gekommen sei, berichtet ihr Bruder Dominik vom Kartenspiel der Könige von Frankreich und England und des Herzogs von Burgund, die symbolisch für Torheit, Hoffahrt und Habgier stehen. Johanna selbst ist der Einsatz der Partie und dem Sieger, England, wird sie ausgeliefert. Ihre Schutzheiligen Katharina und Margarethe erbitten göttlichen Beistand und in der Geborgenheit ihrer Schutzheiligen erinnert sich Johanna an die Krönung des Dauphin. Unter Jubel und Tanzmusik zieht er in Reims, der Krönungsstadt, ein. Mühlenwind und Mutter Weinfaß begrüßen sich freudig, denn durch die Krönung ist die Wiedervereinigung des weizenbringenden Nordens mit dem weinreichen Süden Frankreichs zustande gekommen. Doch als Johanna sich über den auf sie zurückzuführenden Erfolg freut, werden wieder die sie anklagenden Stimmen auf der Erde vernehmbar. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, ihre Unschuld zu der Zeit als ihr das Schwert, mit dem sie Frankreich befreite, übergeben wurde und sie mit den anderen Kindern das Trimazô-Lied sang. Dieses Lied versucht sie nun noch einmal zu singen, doch die Realität, in die sie zurückgeworfen wird, erstickt ihre Stimme. Johanna steht auf dem Scheiterhaufen, Bruder Dominik hat sie am Ende ihres Buches verlassen und ihre Schutzheiligen sprechen ihr Trost zu, bevor sie flammend in der Herrlichkeit des Himmels aufgeht.

Diese Szenen sind verknüpft durch die Verarbeitung einiger charakteristischer, wiederkehrender Motive, wie z.B. das Rufen des Höllenhundes am Beginn des Stückes, die Glockenakkorde, die die Stimmen ihrer Schutzheiligen begleiten oder das Trimazô-Lied, welches kindliche Geborgenheit symbolisiert. Zahl- und facettenreiche musikalische Quellen finden Verwendung und werden durch Diminutionen, Augmentationen, Umkehrungen, Sequenzierungen und andere thematische Spielereien szenenübergreifend miteinander verquickt. Elemente folkloristischer Musik, wie das Trimazô-Lied oder das alte, französische Volkslied „Voulez-vous manger de cesses?“ stehen neben Chorälen wie dem Antiphon „Aspiciens a longe“ oder dem Conductus der „Esel Sequenz“, das transponierte B-A-C-H Motiv neben Parodien auf die zeitgenössische Jazzmusik, wie der Arie des Porcus oder Parodien auf die Barockmusik selbst.

Auch die Klangvielfalt der chorischen und instrumentalen Besetzung ist groß. Chor, Kinderchor und Solisten singen, sprechen, schreien, summen, murmeln oder psalmodieren in Chorälen, Chören und rhythmischen Fugati. Die Hauptrolle verlangt nach einer Sprechpartie, denn Ida Rubinstein war Schauspielerin und nicht Sängerin. Auch Bruder Dominik und einige Nebenrollen werden von Sprechern dargestellt, so dass es insgesamt viele Passagen mit gesprochenem Wort gibt. Dennoch gibt es nur drei Stellen, an denen der musikalische Fluss unterbrochen wird. Das Orchester ist mit dreifachem Holz besetzt und anstelle der Hörner musizieren drei Alt-Saxophone. Celesta und zwei Klaviere reihen sich ein, die in Szene VI, der Kartenspielszene, durch auf die Seiten gelegte Metallbügel den spitzen Klang eines Cembalos mimen. Das wohl interessanteste Instrument ist aber das Ondes Martenot, ein monophones, elektronisches Tasteninstrument mit sieben Oktaven, das nach dem Prinzip des Schwebungssummers arbeitet, dessen Klang durch elektronische Filter variiert werden kann. Zum Einsatz kommt es schon zu Beginn beim Rufen des Höllenhundes. Honegger war einer der ersten, der diesem Instrument Platz im Orchester einräumte.

Durch den Zweiten Weltkrieg erlangte „Jeanne d’Arc au bûcher“ in den vierziger Jahren eine brisante Aktualität. 1941 wählte das Ensemble „Chantier Orchestral“ das Oratorium für eine Tournee durch mehr als 40 Städte des unbesetzten Frankreichs aus. Nach der Befreiung fügten Claudel und Honegger den bis dahin gefertigten elf Szenen noch einen Prolog bei, der Jeanne als Retterin und Befreierin Frankreichs preist. Seine szenische Erstaufführung hatte das Werk 1942 im Stadttheater Zürich in der deutschen Fassung von Hans Reinhard. Auf eben diese Fassung wird auch die Berliner Singakademie bei ihrer konzertanten Aufführung der „Jeanne d’Arc au bûcher“ am 28. April 2006 zurückgreifen.