Die rhetorische Periode

Donnerstag, 27. März 2008

Die rhetorische Periode ist ein Ordnungsprinzip formaler Sprache, das meine Sicht auf den freien Vers verändert und geschärft hat. Die Ästhetik der Ausgewogenheit von Wiederholung und Variation, aber auch die Freiheit und Flexibilität individueller Musterbildung erzielen eine spezifische Wirkung und üben einen besonderen poetischen Reiz aus.

Die rhetorische Periode

Ich habe früher oft Texte kritisiert, die sich nur durch optische Zeilenumbrüche als Gedichte zu erkennen gaben, sonst aber formal der Prosa entsprachen. Die Kritisierten wandten ein, dass es sich doch um freie Verse handle, aber ich hatte daran stets meine Zweifel. Mit dem Begriff „Vers“ verband ich einen Grad an Formalisierung, der über Prosa hinausgeht; „frei“ bedeutete für mich nur, dass die sprachliche Formalisierung nicht nach dem einheitsstiftenden metrischen Prinzip funktioniert, sondern nach einem fein ausgewogenen Spiel von Wiederholung und Variation, von Dynamik und Pause, Spannung und Entspannung, Regelaufbau und Regelbruch, etc. pp.

In Manfred Fuhrmanns „Antiker Rhetorik“ (im übrigen eine insgesamt sehr empfehlenswerte Lektüre) stieß ich schon vor einigen Jahren auf das formale Prinzip der rhetorischen Periode, das ich für einen wichtigen Aspekt zum Verständnis des freien Verses halte. Das trifft natürlich auch auf den metrischen Vers zu, denn kein zeitliches Ereignis in ihm ist einheitlicher, als die wiederholte Abfolge von Hebung und Senkung. In der rhetorischen Periode haben wir es aber mit syntaktischen Einheiten zu tun, die sich als Kola oder Kommata in einer sehr sorgsam gegliederten Binnenstruktur präsentieren. Zu solchen Kola oder Kommata finden sich Worte, Phrasen und Sätze. Jeder Linguistikstudent wird die hierarchischen Stemma kennen, die sich aus einer Satzanalyse ergeben. Bei einer rhetorischen Periode liegt eine wie auch immer geartete Form von Symmetrie innerhalb dieses Stemmas vor.

Ein Beispiel des Fachbereichs Linguistik der Uni Potsdam:

  1. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Willst du uns mit deiner Tollheit noch lange verhöhnen? Merkst du nicht, dass deine Dreistigkeit vermessen ist?
  2. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?

Inhaltlich haben beide Texte gleichen Gehalt. Formal unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander, wodurch sie eine völlig andere Wirkung entfalten. Sehr deutlich zeigt der zweite Text ein Ordnungsprinzip, das auf der Parallelisierung der syntaktischen Einheiten beruht, ergo der rhetorischen Periode entspricht. Jeder der drei Sätze im zweiten Text ist grammatisch gleich oder sehr ähnlich gebaut. Es handelt sich um drei Fragesätze, die zuerst eine adverbiale Angabe, dann das finite Verb, dann das Subjekt, dann das Akkusativobjekt und zu letzt ein infinites Verb anführen.

adverbiale Angabe finites Verb Subjekt Akkusativobjekt infinites Verb
Wie lange noch willst du unsere Geduld mißbrauchen?
Bis wann soll deine Tollheit uns verhöhnen?
Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich vermessen?

Das Prinzip der Wiederholung ist hier also die Parallelisierung der Phrasen. Variation findet sich im ersten Satz durch die eingeschobene Anrede „Catilina“, in nachfolgenden durch das eingeschobene Partikel „noch“, im letzten durch die Rückbezüglichkeit des Objektes „sich“ und in vielen weiteren, kleinen Details. Doch die Parallelisierung ist nur eine Möglichkeit der syntaktischen Ordnung, weitere könnten die Reihung (a1, a2, a3), der Chiasmus (a1 b1 a2 b2), der Krebs und Spiegelung (a1 b1 b2 a2), die Mehrung (a ab abc), die Identität (a, a, a) und dergleichen mehr sein. Die Einheiten können Phrasen, wie Wortgruppen sein, können einzelnde Wörter betreffen (z.B. in der Aufzählung), können Wortarten betreffen oder ganze Sätze.

Die rhetorische Periode präsentiert sich also formal geschlossen, in ihrer Ordnung aber in sich sehr variabel und flexibel. Pausen entstehen an Nahtstellen, aber die Länge der Pausen ist unterschiedlich, ebenso schwankt die Betonungsstärke der betonungstragenden Elemente. Sie ist reizvoll locker gebunden, wirkt aber weder willkürlich, noch wie ein stechschrittiger Marsch. Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der grammatischen Sachkenntnis (die kann man sich zur Not anlesen, wenn man sie nicht intuitiv mitbringt), sondern in der Sensibilität für Maß und Gewichtung von Einheiten und daraus resultierenden Klangphänomenen, wie Pausen und Betonungen. Die Ästhetik zerbricht hier, wie überall, an einem zu hohen Maß an Wiederholung (daraus folgt Langeweile), ebenso wie an einem zu hohen Maß an Variation (daraus folgt Unordnung).

Von der rhetorischen Periode zum freien Vers

Man kann dieses freie Ordnungsprinzip der rhetorischen Periode über syntaktische Aspekte hinaus weiterspinnen und z.B. auch den Bereich der Phonetik, Semantik und Morphologie mit einbeziehen. Sogar Annäherungen an metrische Prinzipien durch Musterbildung in Silbenzahlen und -längen/Betonungen ist denkbar. Als Beispiel dient der erste Absatz von Friederike Mayröckers „Ode an einen Ort“:

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
Glocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
geschnäbelt ins graue Licht
ätzend den Trauerhimmel
mit Botschaft von Dir zu mir:

Obwohl dieses Gedicht nicht metrisch ist, zeigt schon die erste Zeile ein deutlich höheres Maß an formaler Gebundenheit als jede Prosa. „Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk“ – Hier wird vorallem viel mit dem Reim gearbeitet, die syntaktische Figur schließt sich im Zweiten Teil der Zeile dieser Reimschematik an. Man beachte Zunächst die Häufung an /t/ /ä/ /äu/ und /ü/. Dann folgt die Sequenz „Träume – Hütte – Thron – Türme – Gebälk. Dies ist syntaktisch gesehen eine Reihung, Aufzählung, lautlich ist sie am /o/ von Thron gespiegelt: ä-ü-o-ü-ä. Semantisch wird der Traum zur Spiegelachse, denn die vier folgenden Begriffe sind Lokalitäten (Orte), ebenso wie die „Heimstätte“ am Anfang der Zeile. Es finden sich weitere Klangparallelen zwischen /ei/ und /äu/ und zwischen /äu/ und /ü/. Auch das /h/ wird exponiert. Das harte Gebälk am Schluß sprengt diese Klangkaskade schroff auf, nicht nur durch seinen stimmhaften, gutturalen Anfang /g/, sondern auch und vorallem sein gutturales und stimmloses Ende /k/ (harte Kadenz). Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel dür den freien Vers zu tun, nicht metrisch, nicht prosaisch, sondern ein Ding in der Mitte.

Eine solche formale Strukturierung von Sprache macht den grafischen Zeilenumbruch als Kennzeichnung poetischer Sprache meines Erachtens überflüssig, da die Sprache selbst schon ausreichend poetisch ist, um nicht als Prosa verkannt zu werden (was nicht heißt, dass der Zeilenumbruch keine berechtigte Funktion hätte). Aber hier zeigt sich, warum auch die im Fließtext gedruckten „Petites poèmes en prose“ von Baudelaire auch ohne optische Gliederung durch Zeilenumbrüche immer noch als verses libres zu erkennen sind.

Ich habe mich selbst nie an den vers libre gewagt, weil ich ihn in der Tat für ein Wagnis, ein höchst anspruchsvolles Unterfangen halte. Aber ich habe sehr schöne freie Verse gelesen und mich in Prosatexten schrittweise in der freien formalen Musterbildung probiert. Der freie Vers ist und bleibt ein äußerst interessantes sprachliches Phänomen; die rhetorische Periode hat mir geholfen, mich dafür zu sensibilisieren.

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Quellen:

  • Manfred Fuhrmann, „Die antike Rhetorik“, Artemis & Winkler, 19954, S. 139f
  • Mayröcker zitiert aus: Karl Otto Conrady, „Das grosse deutsche Gedichtbuch“, Athenäum Verlag, 1977

Ideen zur markedness theory

Dienstag, 26. Juni 2007

Ich habe einmal für das Enjambement als Stilmittel argumentiert, dass es seine Wirkung nicht entfalten kann, wenn es in einem Text voller Zeilensprünge auftaucht. Das Enjambement ist ein Stilmittel, das, wenn sparsam und präzise angewandt, sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es beschleunigt einen Vers, indem es ihn überspannt wie ein Gummiband, das ungehalten nach vorne schnellt, sobald man es losläßt. Gibt es aber nur „überspannte“ Verse, so verliert die Figur ihre besondere Wirkung, ähnlich wie etwas Wichtiges, das man sich mit einem Stift markiert hat, nicht mehr hervorsticht, wenn der gesamte Text markiert ist.

An diesem Punkt kommt die markedness theory*1 ins Spiel, die ursprünglich mal von einem Phonologen entwickelt wurde, inzwischen aber auf die gesamte linguistische Forschung angewandt und ausgeweitet wird. Es geht um den Unterschied zwischen dem „Normalen“ und dem Besonderen, dem Speziellen, dem Markierten. Es ist z.B. so, dass der Plural eines Worte mehr Bedeutungen haben und in einem weiteren begrifflichen Kontext gebraucht werden kann, als der Singular eines Wortes, der oft auf einen sehr speziellen Referenten verweist und also markiert ist.

Markedness ist aber kontextabhängig. Normalerweise tanzt nur die Prima Ballerina auf den Zehenspitzen und die übrigen auf dem vollen Fuß, daher ist die Primaballerina als etwas Besonderes markiert. Tanzen aber in einer besonderen Choreographie alle Ballerinas auf den Zehenspitzen, wird jene besonders, die auf dem vollen Fuß tanzt. Markiert ist immer das Besondere, auch wenn die Art der Besonderheit vom Kontext abhängig ist.

In einem Text, in dem jedes Versende mit einem Zeilenende zusammenfällt, ist jener Vers besonders, der über das Ende der Zeile hinausschießt – unser Enjambement ist also markiert. Schießt aber jeder Vers über das Zeilenende hinaus, so verliert die Figur ihre markedness und sticht also nicht mehr in ihrer Wirkung hervor. Die Wirkung verpufft.

Im Kontext der Alltagssprache ist jedes Gedicht schon dadurch markiert, dass es sich einer poetischen also markierten Sprache bedient. Im Kontext des Gedichtes ist das Poetische aber „Normalzustand“ und plötzlich kann eine bewußt saloppe oder derbe Sprache zum Markierten werden. Das Bewußtsein (und ich meine damit internalisiertes Empfinden) für die markedness einer Sprachfigur, kann damit zum Kriterium für das artistische Maß ihrer Anwendung im poetischen Kontext werden.
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1. Ich weiß leider keine adäquate Übersetzung für den englischen Terminus. Markedness heißt auf deutsch „Deutlichkeit“, was aber den essentiellen Aspekt des „Markiert-Seins“ total unter den Tisch fallen läßt und also verundeutlicht.

Kein Enjambement ohne Kadenz

Mittwoch, 04. Oktober 2006

Unter verwirrten Studenten der Literatur- und Sprachwissenschaften kommt sie immer wieder auf, die Frage, was nun eigentlich ein „Enjambement“ [ɜŋʒɑmbɜməŋ] ist. Das schwierig zu sprechende Wort bezeichnet ein poetisches Stilmittel, kommt aus dem Franzözischen und wird im Deutschen meist mit dem etwas schwammigen Begriff „Zeilensprung“ wiedergegeben.

Das Ganze sprachliche Phänomen des „Zeilensprungs“ ist verknüpft mit der Eigenschaft metrischer Verse mit einer „Kadenz“ aufzuhören. Schon wieder so ein schwieriges Wort. „Kadenz“ das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „fallen“. Auch in der Musik wird der Begriff „Kadenz“ verwandt, dort bedeutet er „Schlußformel“, meist fällt die Melodie dort auf den Grundton der Tonleiter, die Tonika, die innerhalb der Skale einen Ruhepunkt darstellt.

Am Ende eines Verses fällt gleichsam die Stimme und es folgt eine natürliche Sprechpause. Stimmabsenkungen und natürliche Sprechpausen ergeben sich an syntaktischen (die Satzgrammatik betreffenden) Phrasengrenzen, also zum Beispiel am Satzende, vor einem angehängten Nebensatz, vor und nach einem Einschub, zwischen zwei Gliedern einer Aufzählung und so fort. Überall dort, wo man ein Komma oder einen Punkt machen oder eine Konjunktion einfügen könnte, befindet sich eine Phrasengrenze. Dazu ein Beispiel aus Goethes „Willkommen und Abschied“:

Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde.
Es war getan, fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde
und in den Bergen hing die Nacht.

Jeder Vers endet hier mit einer Kadenz, auf der zufälligerweise auch ein Reim liegt. Dass wir an dieser Stelle auch einen Zeilenumbruch machen, dient lediglich der optischen Gliederung, damit das Auge auch sieht, was das Ohr vernimmt. Versende, Kadenz und Reim wären auch da, würden wir die Strophe einfach hintereinanderweg aufschreiben.

Seit dem Mittelalter gilt es in der abendländischen Dichtung als besonders kunstvoll und schön, wenn auf die Kadenz, wie im obigen Beispiel, auch ein Reim fällt, denn das verstärkt die Schlußwirkung der Kadenz. Das Ohr hört dann genau, an welcher Stelle der Vers zu ende ist und ist auf die nächste Kadenz schon vorbereitet.

Jetzt habe ich viel von der Kadenz gesprochen, aber was macht denn nun eigentlich das Enjambement? Das Enjambement nutzt die im Hörer aufgebaute Erwartungshaltung bezüglich der Kadenzen aus und entwickelt seinen Reiz, indem es selbige schamlos enttäuscht.

Ein Enjambement liegt überall dort vor, wo anstelle einer erwarteten Kadenz keine Phrasengrenze liegt, sondern die Phrase über das erwartete Ende des Verses hinaus in den nächsten Vers übergreift. Da wir heute üblicherweise jedem Vers seine eigene Zeile geben, erklärt sich also auch der deutsche Begriff „Zeilensprung“; die Phrase springt in die nächste Zeile über. Am Ende der Zeile befindet sich vielleicht ein Reim, jedoch keine Sprechpause, denn die Phrase ist ja noch nicht zu ende. Bis in die nächste Zeile hinein, bleibt die Spannungskurve intonatorisch erhalten. Dass sich die Spannung nicht an erwarteter Stelle entläd, steigert sie zusätzlich. Erst im nächsten Vers entläd sie sich mit voller Wucht an der nächstgelegenen Phrasengrenze. Dadurch erfährt der Versanfang des Folgeverses eine enorme Stärkung und der aufmerksame Dichter zieht an diese Stelle bewußt die Aufmerksamkeit seiner Leser. Ein Beispiel aus eigener Feder:

Mit fester Hand führ ich die Klinge,
die in dein klagend Herz sich senkt
und in die tiefe Wunde dringe
ich – Dämon, toll und schmuckbehängt.

Erwartetes Versende und Phrasengrenze sind am Ende von Vers drei in den vierten Vers hinein phasenverschoben, so dass das „ich“ am Anfang des vierten Verses eine artifizell gestärkte Betonung erfährt. Das Ich im Text muß ganz schön dominant sein, denkt sich der Leser vielleicht. Neben dem Reiz, der sich für’s Ohr ergibt, kann das Enjambement also auch einen inhaltlichen Zweck im Großen und Ganzen des Sprachwerks erfüllen.

In der modernen Dichtung haben wir es immer seltener mit metrischen Versen zu tun und Reime finden sich auch nur noch in bestimmten, poetischen Ausprägungen, wie dem Rap. Enjambements kann es aber auch bei freien Versen geben, denn auch da kommt es an Phrasengrenzen zu natürlichen Sprechpausen, wie mein gerade erdachtes Exempel zeigt.

Gefangen im Traume,
träumend Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich
und schlafe,
entschwunden dem Schlaf.

Hier sind die Zeilen an den Phrasengrenzen umgebrochen, so dass wir am Ende jeder Zeile tatsächlich eine Kadenz vorfinden. Brechen wir die Zeilen an anderer Stelle, so müßten sich logischerweise Enjambements ergeben.

Gefangen
im Traume träumend
Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich und
schlafe,
entschwunden dem Schlaf.

Auf dem Papier finden wir sie auch, nämlich in Zeile 1, 2 und 5, gleich mehrere also. Und dennoch, die Wirkung vor dem inneren Ohr ist eine völlig andere. Wir hören hier nichts mehr von der überspringenden Intonationskurve, es ergibt sich kein Spannungsbogen und eine Entladung auf eine Stelle, die dann unsere Aufmerksamkeit als Leser und Hörer auf sich zieht, scheint es auch nicht zu geben. Allenfalls in Zeile 6 bekommt man davon noch schwach etwas mit. Tatsächlich kommt es einem vor, als höre man vor lauter Enjambements das Enjambement nicht mehr.

Da ist etwas Wahres dran. Ich hatte ja weiter oben schon angesprochen, dass das Enjambement mit unserer Erwartungshaltung bricht. Wir erwarten eine Kadenz, die nicht kommt. Wenn es in einem Gedicht überwiegend Zeilenumbrüche gibt oder jede Phrase unterschiedlich lang ist, so dass man gar nicht mehr voraussagen kann, wann die nächste Phrasengrenze, sprich Kadenz, kommen müßte, baut sich dahingehend auch keine Erwartungshaltung auf und das Enjambement kann nicht mit ihr brechen. Es ist zwar auf dem Papier vorhanden, aber seine poetische Wirkung verpufft – ohne Kadenz kein Enjambement.

Wer also die Wirkung eines Enjambements innerhalb von freien Versen erzielen möchte, der muß sich erheblich mehr Gedanken darüber machen, wie das sprachliche Umfeld dieser Figur zu gestalten wäre, damit sie überhaupt wirkungsvoll ist. Und dies ist nur einer der Gründe dafür, dass der freie Vers, entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben, eine Königsdisziplin der Dichtkunst ist.

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005