Seminararbeit: Monteverdis „Marienvesper“ 1610

Samstag, 08. Januar 2011

Diese Seminararbeit faßt im großen und ganzen die wesentlich umfangreicheren Ausführungen Jeffrey Kurtzmanns zu Claudio Monteverdis „Marienvesper“ zusammen (s. Literaturangaben). Sie betrachtet mögliche Entstehungsumstände der Vesper anhand des Drucks von 1610 sowie anhand der aus Briefen rekonstruierten Lebenssituation des Komponisten. Sie geht auf die allgemeine Vespernstruktur ein und fragt nach den konstitutionellen Bestandteilen der „Marienvesper“. Betrachtet wird auch die Musik in Hinblick auf Unterschiede zwischen Kompositionen mit und ohne Psalmton sowie der Aspekt der historischen Aufführungspraxis. (mehr …)

Seminararbeit: Ehre und Identität in Hartmanns „Erec“ und Chrétiens „Erec et Enide“

Mittwoch, 22. September 2010

Ehre ist die zentrale Komponente adliger Identität in den Erec-Romanen von Hartmann von Aue und Chrétien de Troyes. An ihr richtet sich die höfische Gesellschaft in den Romanen aus, reguliert ihr Verhalten, strebt nach Frieden, Freundschaft und Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund der Theorien zur Gewaltreglementierung feudaler Gesellschaften von Peter Czerwinski, werden diese Aspekte an konkreten Textpassagen der Erec-Romane herausgestellt und nachgewiesen. Die volle Version der Seminararbeit kann im PDF heruntergeladen werden. Im Artikel gibt es Gliederung und Einleitung. (mehr …)

Seminararbeit: Das Odeporicon als Spiegel einer neuen Zeit

Mittwoch, 17. Oktober 2007

Das Odeporicon als Spiegel einer neuen Zeit. Zur literarhistorischen Einbettung und zum Gebrauch der Spiegelmetapher in der frühneuzeitlichen Autobiographie Johannes Butzbachs, Freie Universität Berlin, Okt. 2007
[Abschlußarbeit zum Hauptseminar “Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit” der Älteren deutschen Literatur und Sprache, geleitet von Frau Dr. Britta-Juliane Kruse]

Videmus nunc per speculum in aenigmate,
tunc autem facie ad faciem.1
(Paulus)

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit bildet die schriftliche Ergänzung meines Referates „Mehrfachcodierung des ‚Odeporicon‘ – Spiegelmetapher und Spiegelliteratur“ [pdf], das ich im Sommersemester 2007 im Rahmen des mediävistischen Hauptseminars „Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit“ hielt. Sie beschäftigt sich mit der Frage nach dem Gebrauch der Spiegelmetapher in der Autobiographie Johannes Butzbachs von 1506 und versucht, diese in einen literarhistorischen Kontext einzuordnen.

Da der Spiegel in der Literatur des Mittelalters bald zur „zentrale[n] Metapher eines von Analogiestrukturen geprägten Weltbildes“2 avanciert, erscheint es sinnvoll, sich zunächst die Bedeutung des Spiegels und seines metaphorischen Gebrauchs im Mittelalter zu vergegenwärtigen. Die Bedeutung/Interpretation sprachlicher Zeichen fällt in den Bereich der linguistischen Semiotik. Da aber die Optik, wie Umberto Eco in seiner Abhandlung „Über Spiegel und andere Phänomene“ feststellt3, mehr über Spiegel zu wissen scheint, als die Semiotik über Zeichen, beginnt diese Arbeit zunächst kurz mit dem Spiegel im Eigentlichen, bevor sie sich im Anschluß seiner tropologischen und ontogenetischen Bedeutung widmet.

Anhand semiotischer Betrachtungen werde ich versuchen, das philosophische Gedankenkonstrukt, welches den Spiegel als „Schwellenphänomen“ umgibt, darzustellen. Mit Beispielen, wie Heinrich von Morungens „Narzißlied“ und dem Speculum-Begriff als Buchtitel im 13. – 15. Jahrhundert, verweise ich auf eine perspektivische Veränderung in der Selbstwahrnehmung des spätmittelalterlichen Menschen, die mit der (vor allem auch metaphorischen) Benutzung des Spiegels als Instrument der Reflexion einherzugehen scheint. Wie und warum für diese Veränderung auch die Butzbachsche Autobiographie ein Spiegel ist, versuche ich im letzten Teil dieser Arbeit zu verdeutlichen.

2. Der Spiegel im Eigentlichen

Im Gegensatz zum „Spiegel im Uneigentlichen“ meint „Spiegel im Eigentlichen“ das physische Ding an sich, den Spiegel als optisches Gerät, dessen mikroskopisch glatte Oberfläche Lichtstrahlung aller Farben so zurückbeugt, daß dabei ein Bild entsteht. Die Physik spricht hierbei von gerichteter Reflexion. Wäre die Oberfläche des Spiegels im Verhältnis zur Wellenlänge des Lichtes rauh (selbst wenn dies mit bloßem Auge nicht zu erkennen wäre), so würde sie Lichtstrahlen diffus, also in verschiedene Richtungen reflektieren, so daß kein Bild entstehen könnte. Das Abbild eines Objektes, das im Spiegel sichtbar wird, heißt Spiegelbild und ist virtueller Natur. Aufrecht und spiegelsymmetrisch bildet es das Objekt in getreuem Größenverhältnis und nahezu ohne chromatische Aberrationen, also farbecht, ab.

Da Licht, das in einem bestimmten Winkel auf eine dunkle Wasseroberfläche trifft, total reflektiert wird, dürften dem Menschen wohl Oberflächen natürlicher Gewässer oder von in dunklen Schalen und ähnlichen Gefäßen befindlichem Wasser als Spiegel gedient haben. Die rückseitige Verdunklung der Reflexionsfläche verhindert dabei, daß das Bild der gerichteten Reflexion von Störungen durch diffuse Reflexion überlagert wird.

Bereits aus der Jungsteinzeit sind Spiegel aus Obsidian, einem dunklen, glasartigen Vulkangestein, bekannt, bei denen eine Seite glatt poliert war. In der Bronzezeit entstanden erste Metallspiegel, deren Fertigung besonders die Etrusker meisterhaft beherrschten. Auch hier wurde eine Seite mit Hilfe von Wasser und feiner Asche poliert. Erste Glasspiegel sollen schon die Römer hergestellt haben, die diese Technik aber, wie der Geschichtsschreiber Plinius berichtet, wohl von den Phöniziern übernommen haben.4

Hochwertigere Glasspiegel gibt es seit der Wiederentdeckung des Herstellungsverfahrens im 12. Jahrhundert.5 In die noch glühende Glasblase wurden rückseitig Metalllegierungen eingebracht. Seit der Frühen Neuzeit nutzte man ein 3:1 Zinn-Quecksilbergemisch, sogenanntes Zinnamalgam, das zur Bezeichnung Quecksilberspiegel führte. Spiegel waren aber bereits im Mittelalter als Luxusgegenstände begehrt. Kunst und Literatur bedienten sich der allegorischen und symbolischen Natur des Spiegels, die Optik verwandte ihn für wissenschaftlich-philosophische Untersuchungen.

Mir ist geschehen als einem kindelîne,
das sîn schoenez bilde in einem glase gesach.
(Heinrich von Morungen)

3. Der Spiegel im Uneigentlichen
3.1 Vonder Physik zur Metapher

Der Spiegel, dieses optische Gerät, wird zu einer Art Urmetapher. Zentral im Mittelalter übt sie bis heute eine weitreichende Faszination auf Kunst und Geisteswissenschaften aus. Welch spezieller Natur die Relation von Spiegel und Metapher ist, möchte ich anhand der Ausführungen zweier theoretischer Texte herausstellen. In seiner Dissertation „Dichten im Uneigentlichen“ führt der Mediävist Christoph Leuchter in die Problematik der Metapherntheorie des Mittelalters ein und stellt anschaulich deren Zusammenhang mit den modernen Zeichentheorien zur Sprache her. Die Verbindung zwischen den sprachlichen Zeichen, ihrer Deutung und dem Spiegel erhellt der Semiotiker Umberto Eco in seinem Aufsatz „Über Spiegel und andere Phänomene“.

Für Aristoteles ist Metapher noch ein Überbegriff für sämtliche unter dem Terminus Tropus zusammengefaßte rhetorische Stilfiguren, also auch Metonymien und Synekdochen. Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes in ein anderes gemäß der Analogie, die sich in der Ähnlichkeit beider Größen manifestiert. Der Abend verhält sich zum Tag, wie das Alter zum Leben, deshalb kann man metaphorisch auch vom Lebensabend sprechen. Durch die zugrunde liegende Ähnlichkeit der Begriffe, Abend und Alter, ist die Metapher nicht willkürlich. Dennoch wirkt sie fremdartig, da es auch zu einer Übertragung des Wortfeldes, einer sogenannten „Kategorieüberschreitung“ kommt. Leben und Abend sind zwei Begriffe, die semantisch eigentlich nicht zusammengehen. Sie können in diesem Zusammenhang nicht meinen, was sie bedeuten. Sie sind nur übertragen zu verstehen, deshalb sprechen Linguisten im Falle metaphorisch-bildlicher Sprache auch von einem Sprechen im Uneigentlichen. Durch ihre Fremdartigkeit fordert die Metapher zur Interpretation, zur Deutung heraus, gleichzeitig ist sie nur im Rahmen eines Weltbildes verständlich, da die in den Wortfeldern kodierten Analogien abhängig von einer sozio-kulturellen Übereinkunft sind.

In seiner „Doctrina christiana“ erkennt Augustinus den Zeichencharakter der Metapher, wenn er strikt zwischen den res, den Bedeutungsfeldern der Worte, und den signa oder verba, den Worten selbst, unterscheidet. Die Zeichen selbst seien mit allen Sinnesorganen des Menschen wahrnehmbar. Hugo von St. Victor spricht deshalb in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts von einer Lesbarkeit der wahrnehmbaren Welt. Durch die Lektüre würde sich dem Menschen die Weisheit des unsichtbaren Gottes offenbaren.

Nihil vacuum neque sine signo apud Deum.6 Das Bedürfnis, die Welt als einen großen symbolischen Zusammenhang zu begreifen, in dem die Beschaffenheit der Dinge, durch Ähnlichkeit miteinander in Beziehung zu stehen, eine natürliche Qualität darstellt, erlebt im Europa des 14. Jahrhundert seine Blüte. Der Mensch des Mittelalters erkennt plötzlich, daß alle natürlichen Dinge eine tiefere Bedeutung und damit eine Verweisfunktion besitzen. Damit wird der Metapher eine doppelte Zeichenfunktion zuteil: Einem signum kann einerseits die wörtliche Bedeutung, andererseits die übertragene zugewiesen werden. Diese Ambiguität der Metapher läßt unter den Dialektikern den Ruf nach einer klaren und exakten also bildarmen Sprache laut werden. Die Rhetorik erkennt aber die Kreativität der Metapher, durch die eine neue Wirklichkeit und neue Erkenntnis generiert werden. Schon der Universalienstreit der Scholastiker hatte gezeigt, daß die Theoretiker des Mittelalters an der Ergründung der Sprache interessiert waren und durchaus unterschiedliche Positionen in Bezug auf ihre Natur bezogen.

Die Fähigkeit zur Semiose, dem Prozess, durch den laut Pierce ein Zeichen, sein Objekt und seine Interpretation in ein Wechselspiel miteinander treten, hält Umberto Eco für ein dem Menschen ureigenes Phänomen. Er schließt aber nicht aus, daß der Mensch gerade aufgrund einer uralten Spiegelerfahrung solch ein semiosisches Tier ist.7 Die Wahrnehmung des Menschen und seine Semiose stehen in enger Relation und beeinflussen einander wechselseitig, ebenso wie es die Sprache (als System von Zeichen) und das Denken tun. „Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehung ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.8

In seinen Untersuchungen über das sogenannte „Spiegelstadium“ des Menschen, eine Phase zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat, in der der junge Mensch seinem Selbst zum ersten Mal im Spiegel begegnet, legt der französische Psychoanalytiker und Strukturalist Jacques Lacan aber nahe, daß Spiegelerfahrung und (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen Hand in Hand gehen. Dadurch, daß sich der Mensch beim Blick in den Spiegel erstmals als ganzheitliches Subjekt in der Welt wahrnimmt, integriert er sein Selbst in das symbolische (oder semiosische) System. So beeinflußt die Wahrnehmung sein zukünftiges Denken; es kommt zur Reflexion. (Spannend ist an dieser Stelle auch das Polysem Reflexion, das sich einerseits auf die Beugung von Lichtstrahlen in einem Spiegel, andererseits auf das Nachsinnen des Menschen bezieht.) Die Spiegelerfahrung ist demnach ein Moment der Ontogenese des Subjektes, also der Entwicklung zum Individuum. Der Spiegel nimmt dabei die Rolle eines Mittlers zwischen zwei Wahrnehmungswelten ein oder, wie Eco es ausdrückt: „Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert.“9

Damit wird aber der Spiegel selbst zu einer Metapher für den Zeichencharakter der Sprache und die Symbolhaftigkeit der Welt im Allgemeinen, die für den spätmittelalterlichen Betrachter so offenbar und wahrhaftig gewesen zu sein scheint. Paulus spricht von einem Spiegel in einem dunklen Wort, durch den wir nun sehen. Dies macht die Faszination des Spiegels aus und ist vermutlich auch der Grund dafür, daß er zu „eine[r] der vieldeutigsten Chiffren des Mittelalters10“ wird. Ihm werden Attribute von superbia und vanitas bis sapientia und veritas zugeordnet. „Die Literatur“, so der eben zitierte Leuchter weiter, „nutzt die abbildende, Erkenntnis vermittelnde, aber auch täuschende Wirkung des speculum, ‚bereichert um die Zerbrechlichkeit des Glases.‘11

3.2 Die Entdeckung der Individualität

Inwieweit der Gebrauch des Spiegels als Metapher auch das Denken einer neuen Zeit ankündigt, spricht Gert Kaiser in seinem Aufsatz „Narzissmotiv und Spiegelraub“ an. Darin betrachtet er u.a. das sogenannte Narzißlied, das dem Minnesänger Heinrich von Morungen (fl. 1200) zugeschrieben12 wird. Der Held der Ovidschen „Metamorphosen“ taucht darin eigentlich gar nicht auf, vielmehr kommt der Name Narzißlied aufgrund einer Analogie der im Lied verwandten Bilder und Metaphern mit der Tragik des selbstverliebten Jünglings zustande.

In der ersten Strophe setzt sich das Sänger-Ich explizit mit einem Kind gleich, das sein Spiegelbild in einem Glas erblickt und selbiges beim Versuch, danach zu greifen, zerbricht, woraufhin sich seine Freude in Leid verkehrt. In Analogie dazu glaubte der Sänger, beim Anblick seiner geliebten Minnedame immer froh zu sein, eine Annahme, die sich nun jedoch als falsch herausstellt. Denn in der zweiten Strophe führt die personifizierte Minne „in troumes wîs“ die geliebte Dame an das Bett des schlafenden Sängers. Träumend betrachtet er sich die Schönheit der vor allen Frauen Ausgezeichneten, entdeckt aber in einer Verletzung ihres roten Mundes etwas, das die Perfektion zu trüben scheint. Daraufhin bekommt es der Sänger, wie Strophe drei berichtet, mit der Angst zu tun und erhebt erneut Klage. Die Not, die ihn beim Anblick seiner vrouwe bestürzt, wird wiederum zum Anlaß, eine Analogie im Spiegelmotiv zu suchen: Der Anblick der Dame ist für den Sänger, was für das Kind der Anblick seines Spiegelbildes im Brunnen ist, das es bis zum Tode lieben muß. Strophe vier bricht vom symbolischen Stil der vorangegangenen Strophen los und bringt als Schluß einen stereotypen Frauenpreis.

Sowohl Gert Kaiser als auch Christoph Leuchter kommen in ihren Betrachtungen des Morungschen Narzißliedes zu dem Schluß, daß der Sinn des Narzißmotives auch für den mittelalterlichen Menschen die Selbstbegegnung war. Im Falle Morungens verweist die Logik der Analogie darauf, daß das Bild der Dame eine Reflexion des Sängers selbst ist. Denn die Minnedame ist nicht real, sondern ein Geschöpf des Minnesängers, der mit seinem Sang das Idealbild seiner vrouwe überhaupt erst formt und sie dadurch in die Existenz bringt. Daß diese Logik dem Minnesänger nicht fremd war, beweist auch Walther (von der Vogelweide), wenn es bei ihm heißt: „Stirbe ab ich, sô ist si tôt.“ (73,16) „Im Bild der geliebten vrouwe begegnet der Dichter seinem Werk und diese Begegnung ist wie ein Schauen in den Spiegel“, schreibt Kaiser13.

Das Narzißlied deckt, verwoben in uneigentliche Sprache, eigentlich einen Widerspruch im Minnekonzept auf. Geliebt und angebetet wird etwas Irreales, Fiktives, Künstliches. Im Traum ist die Dame dem Sänger nah, doch ihre Perfektion beginnt zu zerbrechen, wie das Spiegelbild, nach dem das Kind griff. Das Erreichen der Dame würde den Tod des Sanges bedeuten. Deshalb muß am fiktiven Konzept der Dame, am Paradoxon des Minnegedankens festgehalten werden; die letzte Strophe stellt dies mit ihrem stereotypen Preis zu Schau. Christoph Leuchter sieht darin eine Bestätigung des poetischen Prinzips. „Morungens Gleichnis“, so schließt er, „fußt […] auf der typischen Unerfahrenheit eines Kindes in der Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild. Diese Eigenschaft hat es mit Narziß gemein, der nicht nur schön ist, sondern vor allem die Natur des speculum nicht kennt.“

In der symbolischen Darstellung des Narißliedes blitzt für Gert Kaiser aber auch die Idee der Selbsterfahrung durch das Erleben von Leid auf. Leid und die daraus resultierende Selbsterfahrung seien wichtige Augenblicke in der Geschichte der Entdeckung des Individuums. Das Narzißmotiv wirft für ihn also die Problematik des Individuums auf, die Einsichten in die eigene, individuelle Verletzlichkeit: „[…] Das sind offensichtlich keine Eigenschaften, die [zur Zeit Morungens] besessen werden“, schreibt er. Auch wenn die Chiffrierung des Liedes dem Stand der historischen Verhältnisse entspricht, so entspricht die logische Konsequenz daraus noch nicht dem Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der mittelalterliche Mensch mußte sich erst noch als Individuum entdecken, wenn man nach den Erkenntnissen Lacans argumentiert, heißt das, er mußte erst noch seine Spiegelerfahrung machen.

Interessant ist vor diesem Hintergrund eine bisher unveröffentlichte Arbeit von Gunhild Roth zur Spiegelliteratur. Spiegelliteratur ist keine literaturwissenschaftliche Textgattung, eher handelt es sich um eine heterogene Gruppe moral-didaktischer, geistlicher und weltlicher Texte, deren Funktion es ist, dem Leser einen Spiegel vorzuhalten. Ein Großteil dieser Texte trägt den Speculum-Begriff auch im Titel, z.B. Speculum humanae salvationis oder Spygel der Leyen. Dabei bezeichnet das Genitivattribut entweder den Adressaten oder das Thema des Textes. Die Spiegelmetapher wird hierbei im Sinne von Vorbild, Beispiel oder Muster gebraucht; die Gedanken an superbia und vanitas des Spiegels treten hingegen vollkommen zurück. Charakteristisch für die Texte sind die lehrhaften Inhalte (oft sogar in Gesprächsform), wobei klerikale und laikale Bildung integriert werden, und die abwechselnde Darstellung von Abbild und Idealbild. Enzyklopädien oder juristische Musterschriften können dabei ebenso zum Spiegel werden wie Heiligenbiographien oder Anweisungen junger Fürsten.

Augustinus von Hippo (354 – 430) verbindet, ähnlich wie später Alcuin von York und andere Theoretiker, das Erreichen von Seeligkeit mit dem Studium der Heiligen Schrift, die er immer wieder als Spiegel beschreibt, in dem sich der Mensch betrachten kann, um zu sehen wie er ist und wie er sein soll, um zu bereuen und sich zu bessern. Als erster verwendet er den Spiegel-Begriff auch als Titel einer seiner Schriften, genannt „Speculum quis ignorat„. Später bekräftigt er seine Idee mit „Speculum de Scriptura Sacra„, einer Kompilation ausgesuchter Passagen aus dem Alten und Neuen Testament. Davon ausgehend entwickelt sich Speculum im Mittelalter zu einem der häufigsten Buchtitel neben Liber oder Summa. Während vor dem 13. Jahrhundert nur vereinzelt Spiegeltitel auftauchen, nimmt deren Zahl im 14. und 15. Jahrhundert stetig zu. Im 16. Jahrhundert kommt es dann zu einer regelrechten Inflation, die die Spiegelliteratur bald unüberschaubar macht.

Der Heilige Augustinus war es also, der den Spiegeltitel in Verbindung mit dem Buch populär machte. Die Bibel, das Buch der Bücher, ist bei ihm ein Beispiel für glaubenskonformes, moralisch sittliches Leben. Diesem allgemeinen Anspruch an das Schrifttum scheint auch die Spiegelliteratur nachzueifern. Mystiker wie Hildegard von Bingen oder exzentrische Künstler wie Eustache Deschamps nutzen die Spiegelmetapher. Der Devotio Moderna, einer spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung, die sich auf Augustinus beruft, scheint die Schrift Quelle der Erkenntnis zu sein, was nahelegt, daß die Verbreitung des Buches in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich mit den technischen Neuerungen im Bereich der Papierherstellung und des Buchdrucks, sondern auch mit einem verstärkten (bürgerlichen) Interesse am Schrifttum zusammenhängt.

Als Buchtitel hat die Spiegelmetapher seit dem Mittelalter in allen mitteleuropäischen Sprachen ihre durchgehende Kontinuität bis heute hin bewahrt (an dieser Stelle sei das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erwähnt). Zur Kategorisierung der Spiegelliteratur gibt es aufgrund der Heterogenität und Fülle des Materials bisher keinen literaturwissenschaftlichen Konsens. Je nach dem, welcher Zeitraum und welche Regionen betrachtet oder welche Ansprüche zugrunde gelegt werden, fallen die Strukturierungsansätze anders aus. Auch ist bisher noch nicht genau geklärt, wie es zu einer solchen Inflation der Spiegelliteratur kommen konnte. Auffällig ist aber, daß sie mit dem Aufkommen und Ausleben humanistischer Ideen, einer Hinwendung zum Schrifttum und einer damit in Zusammenhang stehenden Individualisierungsbestrebung der Menschen einhergeht.

Omnia enim hic conscripta sunt,
speculum nostra sunt.14
(Augustinus)

4. Das „Odeporicon“, ein Spiegel?
4.1 Die Autobiographie im Mittelalter

Zeuge dieser Individualisierungsbestrebungen der Frühen Neuzeit ist das Aufkommen einer neuen Textgattung. Gemeint ist nicht die Spiegelliteratur (die ja bisher nicht als eigene Gattung betrachtet wird), sondern die Autobiographie. Texte mit biographischen und autobiographischen Inhalten gibt es eigentlich schon seit der Antike: Briefe, Reiseberichte, Chroniken und ähnliche Quellen enthalten sogenannte Selbstzeugnisse. Aber die explizite Beschreibung des eigenen Lebens unter selbstreflektorischen Gesichtspunkten zum Zwecke der Selbstdarstellung ist etwas, das sowohl der Antike als auch dem Mittelalter fremd war. Dies hängt nicht zuletzt auch an einer veränderten Selbstwahrnehmung der Menschen.

Die Vorstellung von der Individualität des Einzelnen war im Mittelalter nicht besonders ausgeprägt. Eher identifizierte man sich als zugehörig zu einer Gruppe, sei es durch den Stand, die Familie oder das Glaubensbekenntnis. Die Identifikation mit der Gruppe fand ihren Ausdruck vor allem auch in einer standesgemäßen Kleidung, davon berichtet eine Novelle des italienischen Schriftstellers und Staatsbeamten Giovanni Sercambi (1348 – 1424) mit dem Titel „De simplicitate di Ganfo pilicciaio“ (Von der Einfalt des Kürschners Ganfo)15. Geschildert wird darin der Besuch Ganfos in einem Kurbad und dessen Angst, sich mit den hunderten nackten Menschen im Bade zu verwechseln, sofern er sich unbekleidet zu ihnen gesellt. Ganfo beschließt daraufhin, sich mit einem Strohkreuz auf der Schulter zu kennzeichnen. Als aber das Strohkreuz im Wasser davon schwimmt und er es auf der Schulter eines fremden Florentiners entdeckt, glaubt er, der Florentiner zu sein, dem er erklärt: „Du bist ich und ich bin du.“ Der Florentiner, verwundert über Ganfos Aussage, schimpft ihn: „Hau ab, du Leiche!“ Der völlig verstörte Kürschner aber fährt eiligst nach hause und verkündet auf die Frage seiner Frau, warum er denn so schnell heimgekehrt ist: „Liebste Theodora, ich bin tot.“

Die humoristische Geschichte bezeugt aber nicht nur die Zusammengehörigkeit von Identität und Kleidung, sondern vor allem, daß die Frage der Identität unter Künstlern des italienischen Trecentos bereits so reflektiert wurde, daß es möglich war, sich darüber lustig zu machen. Schon bei Schriftstellern wie Dante Alighieri (1265 – 1321) und Francesco Petrarca (1304 – 1374), der als einer der Begründer des Humanismus gilt, finden sich autobiographische Einflüsse in den Schriften. Ebenso scheinen sich französische Literaten des 14. Jahrhunderts zunehmend zu emanzipieren. Guillaume de Machaut (1300 – 1377) kompiliert als einer der ersten sein komplettes Œuvre, sein Schüler Eustache Deschamps (1345 – 1404) erklärt seine Dichtung von der Musik unabhängig. Diese künstlerische Emanzipation ist auch Spiegel eines zunehmenden Selbstinteresses und Herausstellens der Leistungen des Einzelnen.

Autobiographische Schriften, die aber nicht wirklich Autobiographien genannt werden können, gab es in Einzelfällen aber schon zuvor, wofür Augustinus‘ „Confessiones“ oder Petrus Abaelardus‘ (1079 – 1142) „Historia calamitatum mearum“ ein Beispiel liefern. Dennoch war das Schreiben über sich selbst keine Selbstverständlichkeit und mußte sich, so es denn dazu kam, rechtfertigen, um nicht dem Vorwurf der selbstdarstellerischen Eitelkeit ausgesetzt zu sein. Eine solche Rechtfertigung findet sich noch 1506 im Vorwort der Autobiographie Johannes Butzbachs, mit dem Titel „Odeporicon“, auf die ich nun näher eingehen möchte.

4. 2 Das Odeporicon: Vorbild und Beispiel

Zugleich gibst du mich [durch die Niederschrift des „Odeporicon“] auch der Lächerlichkeit vor reifen und ernsthaften Menschen preis, die mich für kindisch oder für einen Prahler halten werden, der zu viel wagt und eitlem Ruhm nachjagt, wenn er trotz seiner Unfähigkeit die eigene Lebensgeschichte wie die eines epiphanes – eines berühmten Mannes – oder eines hagios – eines Heiligen – aufschreiben will […]16, schreibt Johannes Butzbach, seit 1500 Benediktiner-Mönch im Kloster Maria-Laach in der Eifel, seinem Halbbruder Philipp Trunk im Vorwort seiner Autobiographie. Das Buch besteht aus drei Teilen, die den Lebensweg Butzbachs als fahrender Schüler, im böhmischen Ausland und schließlich seinen Eintritt ins Kloster in lateinischer Sprache erzählen; dort endet die Geschichte, das Klosterleben selbst wird nicht mehr geschildert. Der frühneuzeitliche Text gilt als hervorragend und einzigartig, da er einer kontinuierlichen, chronologischen Erzählung des Lebensweges gewidmet ist und damit tatsächlich eine der frühesten Autobiographien darstellt. Auch sind die Darstellungen darin nicht nur in Bezug auf die Biographie Butzbachs interessant, sondern können auch zu historischen und sozialwissenschaftlichen Studien herangezogen werden, da Butzbach sich nicht nur auf die Anreihung von faktischen Begebenheiten beschränkt, sondern auch über damit einhergehende Empfindungen bei sich selbst und anderen spricht.

Er nennt seine Autobiographie „Odeporicon“, was ein Begriff ist, den er aus dem Griechischen übernimmt. Hodoiporein bedeutet Reisen, von hodos, was so viel heißt wie Weg, Straße oder Reise und poreuomai, ich reise. Die lateinische Entsprechung des Begriffs wäre itinerarium, die deutsche Reisebericht, weshalb in den Übersetzungen des „Odeporicon“ heute unter dem Titel der Zusatz „Wanderbüchlein“ steht. In der metaphorischen Anlage des Titels wird der Hang zur uneigentlichen Sprache bereits deutlich. Das Leben wird als ein Weg beschrieben, sogar durch die Bezeichnung Butzbachs als „Vielgereister“ mit der Odyssee verglichen, der Eintritt ins Kloster ist die Landung im sicheren Hafen, das Ende der Reise und der Suche nach dem richtigen Weg.

Die Erzählung mit dem Klostereintritt abzubrechen ist konsequent, wenn man bedenkt, daß die 1. der Regula Benedictini der stabilitas loci gilt. Die Seßhaftigkeit, so muß es jeder Benediktiner sehen, ist das Ideal der monastischen Lebensweise, somit kann eine Irrfahrt kaum der richtige Lebensweg sein; der Eintritt ins Kloster ist ein Ankommen und wird von Butzbach als entscheidende Lebenswende empfunden und dargestellt. Dennoch ist das „Odeporicon“ keine Schilderung im Sinne einer Confessio des Augustinus‘. Butzbach gesteht zwar die ein oder andere Jugendsünde, aber nicht als bereuende Beichte, nicht verwoben ins Gebet, sondern mit Humor und zum Zwecke der Unterhaltsamkeit der Lektüre. Hierin wird ein gewisser Stolz für die individuellen Eindrücke und Erlebnisse deutlich, die in ihrer einzigartigen Gesamtheit erst zum vorbildlichen Leben als Mönch geführt haben. Distanzloses Selbstbewußtsein spricht aus dem Wanderbüchlein.

Butzbachs Leben und Bildungsweg sind aber in der Tat auch eine eigentliche Reise: Als fahrender Schüler reist er quer durch Deutschland und kommt sogar bis Böhmen, wo er mehrere Jahre lebt und erst durch Flucht ins Heimatland zurückgelangt. Der doppeldeutige Titel verweist aber auch sehr gezielt auf die oben beschriebene metaphorische Bedeutung und scheint Teil eines Rechtfertigungsversuchs zu sein: Denn wie kommt ein einfacher Mönch, der weder Epiphanes, noch Hagios ist, dazu, sein Leben niederzuschreiben? Im Vorwort, ebenso wie der Rest des Buches adressiert an seinen Halbbruder Philipp, erklärt Butzbach seine Unternehmung. Auf Bitten Philipps selbst geschehe die Niederschrift, aus didaktischen Gründen, damit der Bruder die Sprache der Kirchenväter leichter lerne, auf Latein verfaßt und zum Troste des Bruders. „Nun will ich Dir einen Spiegel vor Augen halten, damit Dir Dein Unglück neben dem meinigen erträglicher wird17„, heißt es im Schlußsatz des Vorwortes und gegen Ende des Buches: „Du hast einen Spiegel all meiner Leiden und meiner Armut vor Dir, den ich für Dich gemacht habe; wenn du dich immer wieder vor diesen begibst, so kannst du auch in Deinem Leid Trost daraus schöpfen.18

Ähnlich wie die Spiegelliteratur der Frühen Neuzeit nutzt Butzbach die Spiegelmetapher in Anlehnung an Augustinus und beschreibt damit seine Autobiographie. Dem jungen Philipp soll sie einen Spiegel vor Augen halten, in dem dieser sowohl sich selbst erkennt (aufgrund eines ähnlichen Bildungsweges), wie er ist, als auch sieht, wie er sein soll. Butzbach, das wird im dritten Teil des Buches überdeutlich, zielt nämlich mit seiner Autobiographie vor allem auch darauf ab, den Halbbruder als Benediktiner-Mönch nach Maria-Laach ins Kloster zu holen; Philipp soll seinem Halbbruder in den Orden nachfolgen. Er beschreibt das Kloster und seine Bibliothek in den höchsten Tönen, vergleicht es gar mit einem Paradies auf Erden und nennt die Brüder eine Heilige Gemeinschaft. So weiß er auch über den Prior, Jakob von Vreden, der seit der Klosterreformation im Amt war, folgendes zu berichten: „Er ist sozusagen ein Spiegel der Mönchsdisziplin für alle, weil er Tag und Nacht als leuchtendes Vorbild in allen guten Taten erscheint.19

Immer wieder holt Butzbach dem jungen Leser durch Zitate oder direkte Beschreibungen Vorbilder vor Augen (diesem Zweck dient auch der Gebrauch der Spiegelmetapher), versucht zur Lektüre zu motivieren, belehrt und spricht vom Nutzen des Studiums. Dies tut er nicht nur, weil sich das Studium ihm selbst durch seinen Lebensweg als richtiger Weg offenbart hat, sondern auch in seiner Funktion als Novizenmeister des Klosters Laach, eine Stellung, die Butzbach seit 1503 innehatte. Das Amt hatte die Ausbildung der Novizen zur Aufgabe, also derjenigen, die mit dem Wunsch, das Gelübte abzulegen, zunächst auf Probe in das Kloster eintraten. Diese jungen Männer lehrte der Novizenmeister die Lateinische Sprache, die Schriften der Kirchenväter, die Regula Benedictini und die klösterliche Ordnung im Allgemeinen. Er unterstützte sie auch bei ihren theologischen Studien auf ihrem ganz persönlichen Bildungsweg.

Butzbachs Biographie ist damit, ähnlich wie ein Großteil der Specula seiner Zeit, vor allem eine moral-didaktische Schrift, versteckt dies aber (vermutlich aus didaktischen Gründen20) hinter einer belustigenden, mit persönlichen Anekdoten ausgeschmückten Schilderung seines individuellen Bildungsweges. Dadurch baut Butzbach eine persönliche Bindung zu seinem Adressaten auf, dessen individuelle Lebensumstände er kennt und an denen er mit seinen Motivationsversuchen auf einer Vertrauensbasis gezielt ansetzen kann. Dies macht den Text aber nicht nur für Philipp Trunk interessant, sondern auch für Butzbachs Schüler, die Novizen Laachs, die das „Odeporicon“ zu Übungszwecken in Teilen lasen und abschrieben.

Diesen Schülern offenbart sich im Text ein einfühlsamer und erfahrener Lehrer, der die Bildung hochhält und gewillt ist, sich um jeden Einzelnen individuell zu kümmern. Das Buch ist ein Novizenspiegel, der die jungen Männer und werdenden Mönche auf ihrem Bildungsweg begleiten soll. Es zeigt, daß der Lehrer Butzbach einst ein Schüler war, wie sie, daß er mit Problemen kämpfen und Ängste bewältigen mußte, wie sie, daß er es geschafft hat, auf den richtigen Weg zu kommen und daß demzufolge auch sie das schaffen können und sollen.

5. Zusammenfassung

Johannes Butzbachs autobiographische Schrift „Odeporicon“ faßt in sich verschiedene Charakteristika der Spiegelliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts zusammen. Es ist didaktischer Natur, vereint in sich laikale und klerikale Bildung und verwendet sogar die Spiegelmetapher im Sinne von Beispiel, Vorbild, Muster, wenn auch nicht im Titel. Das „Odeporicon“ ist selbst ein Spiegel, es zeigt ein Abbild der Welt, wie sie war (was es für Historiker heute noch interessant macht) und wie sie sein sollte. In diesem Sinne wird es auch der Vorstellung des Heiligen Augustinus von der Schrift als Spiegel von Realität und Ideal gerecht. Die Butzbachsche Autobiographie ist damit individueller Lebensrückblick; das geschilderte Leben Beispiel und Vorbild zugleich, etwas dem ein jeder nacheifern kann, ohne dabei Unmögliches vollbringen zu müssen, weil ihn aus dem Spiegel ein gewöhnlicher Mensch anblickt.

Das „Odeporicon“ ist zugleich Spiegel eines neuen Zeitgeistes, in dem der Mensch sich als Individuum erkannt und erfahren hat und dieser Individualität mit Stolz und Selbstbewußtsein begegnet. Es scheint fast, als hätten die Ausbreitung des Schrifttums und die humanistisch-reformatorischen Bemühungen um Bildung zu einer neuen Spiegelerfahrung des Menschen geführt, einer neuen Begegnung mit dem Selbst. Eventuell, um auf Ecos Spiegel-Zeichen-Dilemma zurückzukommen, sind aber gerade diese auch eher Resultat einer Spiegelerfahrung.

Okt. 2007

6. Bibliographie

An dieser Stelle folgt eine Auflistung der in dieser Arbeit angeführten, zitierten und zu Recherchezwecken verwandten Literatur.

  • P. Dinzelbacher: Sachwörterbuch der Mediävistik, Stuttgart, Kröner, 1992; Stichworte: Metapher/Metaphorik S. 529f., Spiegel/Spiegelliteratur S. 769f.
  • J. Huizinga: Niedergang des Symbolismus, in: Herbst des Mittelalters, ders., Stuttgart, Kröner, 197511, Kapitel XV, S. 285ff.
  • Ch. Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a.M. [u.a.], Lang, 2003
  • U. Eco: Über Spiegel und andere Phänomene, dtv, München, 19933
  • G. Kaiser: Narzissmotiv und Spiegelraub, in: Neidhart, Horst Brunner [Hrsg.], Darmstadt, wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986
  • Gunhild Roth: „Speculum-/Spiegelliteratur. Zu Gattungsfrage, Textsorten und Einzelwerken. Versuch eines Überblicks“, Münster (noch unveröffentlicht)
  • Joahnnes Butzbach: Odeporicon. Wanderbüchlein, Aus dem Lateinischen übertragen und mit einem Nachwort von Andreas Beriger, Zürich, Manesse Verlag, 1993
  • Bradley, Sister Ritamary, C.H.M.: Backgrounds of the Title Speculum in Mediaeval Literature, Speculum 29 (1954), p. 100-115
  • http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel (Version 14.10.07)
  • http://leifi.physik.uni-muenchen.de/web_ph07_g8/geschichte/02spiegel/pm.htm (Version 14.10.07)

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  1. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“, 1 Kor. 13,12
  2. Dinzelbacher 1992, S. 769
  3. Eco 19933, S. 29
  4. http://leifi.physik.uni-muenchen.de/web_ph07_g8/geschichte/02spiegel/pm.htm
  5. Dinzelbacher 1992, S. 769
  6. „Nichts ist bei Gott leer oder zeichenlos.“, Irenaeus: Adversus haeresis libri, V, lib. IV cap. 213
  7. Eco 1993³, S. 27
  8. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik § 50
  9. Eco 1993³, S. 27
  10. Leuchter 2003, S. 97
  11. ebd.
  12. Auf das Dilemma der Zuschreibung des Narzißliedes und dessen Überlieferung geht ausführlich Christoph Leucher im Kapitel 3.5 „Das ‚Narzißlied'“ seiner Dissertation „Dichten im Uneigentlichen“ 2003 ein.
  13. Kaiser 1986, S. 323
  14. „Alles, was nämlich hier aufgeschrieben steht, ist uns ein Spiegel“, Augustinus: Ennaratio in Psalmum XXX Sermo III (Pl, XXXVI, 248
  15. Giovanni Sercambi: Novelle. A cura di Giovanni Schiropi, vol. 1, Bari 1972 (Scrittori d’Italia, N.250)
  16. Butzbach/Beriger 1993, S. 6
  17. ebd., S. 9
  18. ebd., S. 278
  19. ebd., S. 268
  20. „Denn Erstens, das mit Heiterem geschmückt ist, gefällt uns mehr, […], weil es angenehmer ist, beim Studium Abwechslung zu haben“, schreibt Butzbach als Erklärung in seinem Vorwort, Butzbach/Beriger, 1993, S. 8

Seminararbeit: Text, Intention und Analogie

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Text, Intention und Analogie. Ein Aufsatz über Umberto Ecos Theorien zu Interpretation und Überinterpretation, Humboldt Universität Berlin, Sept. 2003
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Textverstehen. Einführung in die literarische Hermeneutik” der Neueren deutschen Literatur, geleitet von Herrn Dr. Carlos Spoerhase]

1. Ecos Interpretationstheorie – Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“

Hermeneutik, Semiologie und Literaturwissenschaft, diese drei Disziplinen beschäftigen sich mit der Suche nach der Natur des Verstehens. Die Hermeneutik sucht nach allgemeinen Strukturen des Verstehens, die Semiologie sucht nach dem Verstehen von Zeichensystemen, die Literaturwissenschaft sucht nach dem Verstehen literarischer Werke. So entwickelten sich im letzten Jahrhundert zahlreiche Methodiken des Verstehens, wobei dem Verstehen von Schriftsprache besondere Aufmerksamkeit zuzukommen scheint.

Auch der durch seinen Roman „Der Name der Rose“ als Autor bekannt gewordene Semiologe Umberto Eco hat sich in zahlreichen seiner theoretischen Schriften mit der Frage nach dem Verstehen von Zeichensystemen befasst. Besonderes Gewicht legt er dabei auf die Methodik der Interpretation literarischer Werke.

Im Gemenge der verschiedenen theoretischen Ansichten und Definitionen vertritt Eco eine moderate Zwischenposition, mit der er sich zwischen den extremen Positionen der Autorintentionalisten und denen der Rezeptionstheoretiker ansiedelt. Während die Autorintentionalisten nach der einen wahren Interpretation, die das Ergebnis der Suche nach den Absichten des Autors darstellt, suchen, stehen die Rezeptionstheoretiker für die uneingeschränkte interpretative Freiheit des Rezipienten und die Unendlichkeit der Interpretation ein.

Nach Ecos Ansicht ist die Absicht eines Autors in seinem Text jedoch nicht mehr zuverlässig nachweisbar. Eine solche Suche erscheint Eco nahezu aussichtslos und ferner wenig produktiv. Außerdem kann ein Text mehr bedeuten, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat. Aus diesem Grund findet ein aufmerksamer Interpret mehr Bedeutungen in ihm, als der Autor bewusst in sein Werk hineinlegte. Doch Eco will den Schritt zur Unendlichkeit der Interpretation nicht gehen. Seine Interpretation soll, als Suche nach seiner Bedeutung, dem Werk treu bleiben. Wären die Bedeutungen eines Werkes unendlich und jeder Rezipient könnte verstehen, was ihm beliebt, so wäre, wie Eco meint, das Nachdenken über Literatur und jegliche Interpretation als Versuch der Erklärung überflüssig.

Eco selbst bezeichnet seine Interpretationstheorie als Oszillation zwischen Werktreue und Initiative des Interpreten oder auch als Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“1. Für ihn gibt es nur einen Ort, an dem die Suche nach der Bedeutung eines Textes eine produktive Lösung finden kann, nämlich den Text selbst. Der Text ist das einzige, was dem Rezipienten vorliegt, nur er kann und soll Kriterium seiner Lesarten sein. Eco definiert also seine Interpretation nicht als Suche nach der intentio auctoris (Absichten des Autors), auch nicht als Oktroyieren der intentio lectoris (Absichten des Rezipienten), sondern als Suche nach der intentio operis, nach den Absichten des Werks selbst.

In dieser Theorie versucht Eco seine zunächst gegensätzlich anmutenden Ziele, zum einen das Plädoyer für die Offenheit eines grundsätzlich mehrdeutigen Kunstwerks, zum anderen die Begrenzung der rezeptionellen Freiheit des Interpreten, zu vereinen. Um zu verstehen, wie das funktionieren soll, ist es wichtig, die Beziehung zwischen Werk und Rezipient zu klären.

Dazu erklärt Eco: „[…] dem Funktionieren von Kunst [liegt] die Beziehung zum Interpreten zugrunde […].“2 Diese Beziehung sei der Natur, dass das Werk seinen Rezipienten, der über einen bestimmten Verständnishorizont verfüge, als Interpreten einplane. So schaffe sich das Werk seinen „Ideal-Reader“3 selbst; es stelle gewisse Forderungen an den Leser, der das Werk zu verstehen suche. Die Initiative seitens des Lesers bestehe nun darin, einige Vermutungen über die intentio operis aufzustellen, die dann im Verlaufe der Lektüre vom Text bestätigt oder widerlegt würden. Darin bestehe die Dialektik: Der Leser öffne das Werk durch seine beliebigen Hypothesen, das Werk aber schütze sich selbst, indem es die Unendlichkeit dieser Hypothesen begrenze.

Dies legt die Annahme nahe, dass es gute und schlechte Interpretationen gibt. Um diese zu unterscheiden beruft sich Eco auf sein sogenanntes „Popper-Prinzip“, wonach zwar nicht gesagt werden könne, welche die richtige Interpretation sei, Fehlinterpretationen aber identifiziert werden könnten. Dabei wird die vom Interpreten aufgestellte Hypothese an der Kohärenz des Gesamttextes gemessen. Trifft eine Hypothese auf einen Teil des Textes zu und wird auch von anderen Textstellen nicht entkräftet, ist sie plausibel. Wird diese Hypothese jedoch durch irgendeine Textstelle ad absurdum geführt, muss sie als Fehlinterpretation verworfen werden. Als Interpretation kann also nur gelten, was funktioniert und eine Erklärung des Textes als kohärentes Ganzes leistet. Diesen Punkt will ich jedoch später noch einmal genauer aufgreifen.

Ecos Interpretation ist also eindeutig eine extrem textualistische Lesart. Es gibt darunter zwei verschiedene Typen: Zum einen gibt es die semantische Interpretation, die eine neue Erklärung der semantischen, linearen Textwelt sucht. Zum anderen gibt es die kritische Interpretation, die zu erklären versucht, durch welche Struktur ein Text zu seinen potentiell unendlichen Lesarten anregt, wobei ästhetisch anspruchvollere Texte beide Interpretationstypen vorsehen. Jedoch muss der Rezipient bei der Interpretation die vom Text vorgegebene, mögliche Welt respektieren. Wo das nicht passiert oder wo die Suche nach der intentio operis nur eine untergeordnete Rolle spielt, möchte Eco nicht länger von Interpretation, sondern von Gebrauch sprechen.

Beim Textgebrauch werden dem Werk außertextliche Möglichkeiten aufgezwungen. Um ihn für seine Interessen (die intentio lectoris) einzunehmen, zwängt der Rezipient einen Text in ein von ihm vorgefertigtes Muster. Darunter fällt z.B. die mittelalterliche Allegorese antiker Texte, die in Odysseus beispielsweise eine Jesusfigur erkennt. (Diesen ansonsten lächerlichen Interpretationen ist jedoch anzurechnen, dass sie die antiken Texte vor dem entgültigen Verlust gerettet haben.) Einige seiner Kollegen sind mit Ecos Unterscheidung nicht einverstanden, doch auch auf diesen Punkt will ich später genauer eingehen.

2. Die intentio operis – Interpretation im Sinne des Textualismus

In seinen semiologischen Schriften lässt Umberto Eco die intentio operis zum zentralen Terminus seiner Interpretationstheorie avancieren. Dass dieser Begriff in enger Verbindung zu Ecos Textualismus steht und ihm deshalb besonders wichtig zu sein scheint, habe ich bereits weiter oben erwähnt. Diese Verbindung will ich an dieser Stelle genauer erläutern und weiterhin auf die Probleme eingehen, die der Begriff intentio operis mit sich bringt.

Die Suche nach der intentio operis ist für Eco die zentrale Aufgabe der Interpretation. Die Absichten des Autors, sowie die des Lesers werden dabei in den Hintergrund gerückt, wenn nicht sogar vernachlässigt. Der Leser stellt dabei Vermutungen über die intentio operis an, die Indizien des Textes stärken oder schwächen diese Vermutungen und nach dem Ausschlussprinzip entsteht die Interpretation, die sich am Textganzen beweisen muss. So stimuliert und reguliert das Werk selbst die Freiheit des Interpreten. „Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes […].“4

In dieser Formulierung sieht Eco seine Ziele verwirklicht. Dem Kritiker Hans-Harald Müller fällt dabei jedoch eine Unstimmigkeit auf. Wenn die Interpretation eine Konjektur über die intentio operis ist, die sich aber gleichzeitig an der intentio operis falsifiziert, dann muss demzufolge die intentio operis bereits bekannt sein, bevor entschieden wird, ob die Vermutung, die wir erst noch über sie anstellen, richtig oder falsch ist. Das klingt Müller doch allzu sehr nach einem klassischen hermeneutischen Zirkel und genau das wirft er Eco vor. Die intentio operis scheitert als falsifizierende Instanz an ihrer Zirkularität.5

Auch Eco selbst scheint dieses Problem zumindest bemerkt zu haben: „Der Text ist […] ein Objekt, das die Interpretation bei dem zirkulären Versuch, sich aufgrund dessen zu bestätigen, was sie konstituiert, selber schafft.“6 Ich hingegen sehe das etwas anders und finde mich an anderen Stellen von Eco selbst bestätigt. Vielfach betont er in seinen Schriften, dass sich die Hypothesen des Interpreten über die intentio operis nicht an der intentio operis selbst bewähren müssen, sondern am Text als kohärentes Ganzes.

Meiner Meinung nach gibt es einen Unterschied zwischen der Absicht eines Werkes und seiner Kohärenz. Natürlich folgt seine Kohärenz einer bestimmten Absicht, diese ist jedoch nicht unweigerlich nach der ersten Lektüre bekannt. Ganz im Gegensatz zur Textkohärenz, die nach einmaliger Lektüre logisch nachvollzogen werden kann. Denn jede Geschichte folgt in ihrer Handlung (und Bedeutung) einer logischen Stimmigkeit innerhalb der Welt, die sie sich selbst geschaffen hat. Da der Mensch fähig ist, diesen logischen Zusammenhang zu erkennen, kann er in Filmen beispielsweise Regiefehler entdecken und nur aus diesem Grund kann er Vermutungen über die Bedeutung einer bestimmten Handlung anstellen.

Die Interpretation als Suche nach der intentio operis, fragt also nach der Bedeutung von Indizien innerhalb der Logik des Textes. Darum tritt Eco auch für den Respekt vor der vom Werk geschaffenen, möglichen Welt ein, deshalb plädiert er für den Textualismus. Er fragt: „Wie verhärtet man eine Hypothese über die intentio operis? Man kann die Vermutung nur am Text als einem kohärenten Ganzen überprüfen.“7 Weiter sagt er: „Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallenzulassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht. Insofern diszipliniert die interne Textkohärenz die ansonsten chaotischen Impulse des Lesers.“8 Da sich also eine Vermutung an der Textkohärenz, nicht aber an der Textintention bestätigt, muss die intentio operis nicht definiert sein, bevor sie definiert sein kann und somit haben wir es auch nicht mit einem hermeneutischen Zirkel zu tun.

Sofern meine Vermutungen also stimmen, legt Eco hier eine durchaus logische Methodik des Verstehens von Texten vor. Dennoch gibt es einen Punkt an dem der Terminus intentio operis fragwürdig, wenn nicht problematisch erscheint. Mit dieser Ansicht finde ich in Müller einen Verbündeten. Er wirft Eco vor, den Begriff vermenschlichend zu verwenden, weist darauf hin, dass ein Text keine Absichten habe, er könne nicht stimulieren, auch nicht regulieren und er sei nicht in der Lage, sich selbst zu schützen.

Es ist durchaus nicht kleinlich, einen solchen Punkt zu kritisieren. Eco selbst plädiert für eine „kritische Metasprache“ bei der Interpretation.9 Einen solch zentralen Terminus, wie ihn der Begriff der intentio operis darstellt, innerhalb seiner Theorie aber metaphorisch oder anthropomorph zu verwenden, widerspricht offensichtlich der von Eco selbst gewünschten Neutralität der wissenschaftlich-theoretischen Sprache.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller beginnt seinen Vortrag „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“10 mit der Feststellung, dass die Lektüre hermeneutischer Texte einen Logiker vor verschiedene Probleme stellt, die sich unter anderem dadurch einstellen, dass die Theoretiker oft unbewusst eine bildhaft-metaphorische Sprache verwenden und dazu neigen Objekt- und Metaebene zu vermischen. Eine solche Vermischung liegt meiner Meinung nach auch in Ecos Fall vor.

Der Begriff intentio operis fördert die trügerische Annahme, hinter einem Text stehe kein Autor mehr und der Text selbst wäre bei der Kommunikation mit seinem Rezipienten zu gewissen Handlungen fähig. Das ist jedoch nicht der Fall. Obgleich seine Absichten bei der Rezeption irrelevant sein mögen, steht hinter dem Werk noch immer der empirische Autor. Wenn Eco also verdeutlichen will, dass ein Text mehr bedeuten kann, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat, dann wäre es vorteilhafter in Begriffen wie empirischer und exemplarischer Autor bzw. Leser zu sprechen.

3. Überinterpretation – bedeutende und unbedeutende Analogien

Aus den oben stehenden Ausführung wird deutlich, dass Umberto Eco die Grenzen seiner Interpretation innerhalb der Möglichkeiten des zu interpretierenden Textes setzt. Dennoch will er auch innerhalb der durch ihren Textualismus genehmigten Interpretationen ein gesundes Maß beibehalten. Er unterscheidet deshalb nicht nur zwischen der Interpretation und dem jenseits des Textualismus liegenden Gebrauch von Texten, sondern innerhalb der Interpretation auch zwischen vernünftiger und paranoider Interpretation oder einfach zwischen Interpretation und Überinterpretation. Wo aber zieht Eco hier die Grenzen?

Das menschliche Denken basiert auf dem Erkennen von Identität und Ähnlichkeit. Dinge können einander ähnlich sein aufgrund ihrer Form, so wird eine Brille oft als Nasenfahrrad bezeichnet. Sie können analog sein aufgrund von Farbähnlichkeit, Kontextbezogenheit, Metonymie und vielem mehr. So akzeptiert ein Leser Schneewittchens blutrote Lippen oder weiß, dass ein sich bewaffnender Held gerade seine Rüstung anlegt und sein Schwert ergreift.

Jede aufgespürte Ähnlichkeit verweist aber auf eine weitere Ähnlichkeit und so kann aus einem bestimmten Blickwinkel alles mit jedem ähnlich oder vergleichbar sein. Es bauen sich sogenannte Assoziationsketten auf: Bei einem Zusammentreffen mit Schneewittchens blutroten Lippen wird vielleicht der Kuss assoziiert, beim Kuss die Liebe, bei der Liebe vielleicht der oder die Geliebte, andererseits könnten die blutroten Lippen auch auf eine andere Person mit blutroten Lippen verweisen und der Kuss auf die gleichnamige Skulptur von A. Rodin und so fort. Daraus wird deutlich, dass Sprache sehr unbestimmt sein kann und dass es demnach sehr schwierig ist, sie zu verstehen.

Wer im Alltag verstehen will, muss zunächst die erste Bedeutungsebene der Sprache, den wörtlichen Sinn erkennen, danach gilt es, zu entscheiden, welche Analogien bedeutsam, welche unbedeutsam für das Verständnis eines bestimmten Kontextes sind. Ebenso funktioniert es laut Eco bei der Interpretation. Eine vernünftige Interpretation unterscheidet sich von einer paranoiden eben dadurch, dass sie die Bedeutsamkeit von Analogien erkennt.

Bei der Interpretation gilt es, zunächst zu klären, welche Indizien im Text auf Analogien verweisen. Ein Signifikant steht dann für ein anderes Signifikat, wenn es sich nicht sparsamer erklären lässt, wenn es auf eine Einzelursache verweist und wenn es zu den anderen Indizien passt. Bei der Überinterpretation werden, so Eco, meist schon diese Indizien überbewertet.

Sind Analogien festgestellt, muss deren Relevanz überprüft werden. Das geschieht mit Hilfe der sogenannten Textisotopie. Darunter versteht Eco den thematischen Kern eines Textes, dem sich jedes Indiz unterordnet, den Kontext. Eine relevante Analogie darf innerhalb einer konstanten Isotopie nicht zu untypisch sein: „Wir können nur solche Merkmale als relevant und sachdienlich anerkennen, die jeder Beobachter erkennen würde – selbst wenn sie bis dahin unbemerkt blieben […].“11

Der Kritiker Jonathan Culler tritt hingegen energisch für die von Eco kritisierte Überinterpretation ein. Nur eine ins Extrem getriebene Interpretation könne fruchtbar und produktiv sein, denn sie rege zum Nachdenken über die Wirkungsweise und Funktion von Literatur und der Struktur der Sprache an.

Die Überinterpretation fördert neue bisher unbeachtete Zusammenhänge und Implikationen zutage, weil sie Fragen aufwirft, die der Text dem exemplarischen Leser gar nicht stellt. Deshalb nennt Culler die von ihm favorisierte Art der Interpretation auch Überfragung und versucht sie dadurch vor der Gefahr, unter die von Eco als Gebrauch kritisierten Interpretationen zu fallen, zu schützen. Die Überfragung versucht, „die semiotischen Mechanismen der Literatur, die unterschiedlichen Strategien ihrer Form systematisch zu verstehen“12 und ist deshalb eine Form der Literaturkritik.

Auch Umberto Eco spricht diese Art von Interpretation an, indem er auf den Unterschied zwischen semiotischer und kritischer Lesart hinweist. Wo die semiotische Interpretation nach einer neuen Wahrheit innerhalb der Textlinearität sucht, sucht die kritische Interpretation nach einem geheimen Code, nach der Strategie, nach der ein Text unendlich viele Lesarten intendiert. Ecos kritischer Leser ist also Cullers überfragendem Leser gar nicht so unähnlich.

Die kritische Lesart entzieht sich durchaus nicht dem von Eco angepriesenen Textualismus – Culler hat also nicht wirklich etwas zu befürchten. Auch Eco ist sich sicher, dass das Staunen Anfang aller Erkenntnis ist und dass die Überfragung eines Textes eine Notwendigkeit des menschlichen Bemühens um Verständnis darstellt. Dennoch möchte er im Gegensatz zu Culler Grenzen der Interpretation gesetzt wissen und setzt diese auch ohne auf die Kritik Cullers mit handfesten Gegenargumenten zu erwidern.

4. Resümee

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Umberto Eco durchaus ein Theoretiker ist, der Grenzen der Interpretation erkennt und definiert. Als Textualist stellt der Text selbst das einzige Kriterium seiner Interpretation dar. Nach den „Absichten des Textes“ wird gesucht, am Text wird die Beweisführung für Annahmen und Thesen festgemacht und falsifizierende Instanz für gute und schlechte Interpretationen ist ebenfalls der Text.

Innerhalb dieser Grenzen kann es aber verschiedene Formen von Interpretation geben. Was einmal die semiologische Lesart ist, ist ein andermal die kritische und wieder ein andermal sind beide Typen vereint.

Als „legitime“ Befragung des Textes kann es unabhängig vom Interpretationstypus weiterhin vernünftige und paranoide Interpretationen geben, wobei die paranoide Interpretation von Eco Überinterpretation genannt wird. Diese beiden unterscheiden sich durch den Umgang mit den im Text befindlichen Indizien für Analogien. Diese Analogien geben Aufschluss über die zweite Bedeutungsebene der Sprache. Sie zu verstehen ist wichtig, denn sie trägt erheblich zum Gesamtverständnis der übermittelten Textbotschaft bei.

Die Überinterpretation aber verkennt die Signifikanz bestimmter Indizien, hält sie für bedeutender als es die Textisotopie legitimieren würde. Sie überfragt den Text, um neue Erkenntnisse über die allgemeine Natur von Literatur und Sprache zu gewinnen. Als Literaturkritik konzentriert sie sich somit auf Probleme, die über die eigentliche Aufgabe der Interpretation, der Textbotschaft zum Verständnis zu verhelfen, hinausragen.

In dieser Klassifizierung sehen einige Kritiker, wie Jonathan Culler, die Freiheit des Rezipienten bedroht. Sie werfen Eco eine zu strenge Handhabung vor. Diese Kritik möchte Eco jedoch zurückweisen. Deshalb betont er immer wieder, auch er stehe für die Offenheit des Kunstwerkes und die potentielle Unendlichkeit der Interpretation ein. Seine Interpretation stelle aber eine Dialektik von Offenheit und Gebundenheit dar.

Quellen

  • Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 19992
  • Umberto Eco „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1996
  • Tom Kindt und Hans-Harald Müller. Hrsg. „Ecos Echos“. Wilhelm Fink Verlag. München 2000

Sept. 2003
__________

  1. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.1 Archäologie [p. 33]
  2. ebd.
  3. ebd.
  4. ebd., Einleitung [p.22]
  5. Hans-Harald Müller „Eco zwischen Autor und Text. Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie“ in „Ecos Echos“ T. Kindt und H.-H. Müller (Hrsg.), [p.143]
  6. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.6 Interpretation und Vermutung [p.49]
  7. Umberto Eco „Überzogene Textinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.73]
  8. ebd.
  9. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.7 Die Falsifizierung der Fehlinterpretation [p.51]
  10. Wolfgang Stegmüller „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“ in „Natur und Geschichte. X. Deutscher Kongress für Philosophie.“ K. Hübner und A. Menne (Hrsg.)
  11. Umberto Eco „Erwiderung“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.156]
  12. Jonathan Culler „Ein Plädoyer für die Überinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.128]

Seminararbeit: Musica son

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Musica son. Betrachtung eines Madrigals des italienischen Trecento-Komponisten Francesco Landini und seines historischen Kontextes, Freie Universität Berlin, Mar. 2004
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400” der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Propositio

« Musik um 1400 » ist der Titel des Proseminars Probleme und Methoden der Musikwissenschaft in diesem Semester. Dass das Thema in diesem Zusammenhang besprochen wird, lässt zu mindest vermuten, dass die Zeit um 1400 und der Diskurs darüber für den Musikwissenschaftler eine gewisse Herausforderung darstellen.

Thematisiert wurden vor allem Aspekte französischer Musik der Ars Nova und Ars Subtilior, deren Formen, deren Komponisten, deren Quellen und deren Kontroversen. Für mich stellte es in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, durch ein Referat in die italienische Musikkultur der Ars Nova einzuführen. Ich versuchte dieser Aufgabe durch die Analyse des Madrigals « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » gerecht zu werden.

In meiner Hausarbeit soll es nun darum gehen, diese Analyse und einige weitere, im Referat aufgeworfene Themen zu komplettieren und zu verschriftlichen. Dabei soll, neben der ausführlichen Formanalyse, auch das Verhältnis von Landinis Musik zum italienischen bzw. französischen Stil betrachtet werden.

In einer kurzen Einführung, « Landini und das Trecento », werde ich die kulturellen Grundlagen des italienischen Stils und einige Begebenheiten aus Francescos Biographie besprechen. Dem folgt die Analyse des Madrigals, bei der ich, vom Allgemeinen ausgehend, zu den speziellen Betrachtungen kommen werde. Dabei soll zunächst der Text, dann die Musik betrachtet werden. Eine selbst erarbeitete Statistik wird die Darstellung harmonischer Begebenheiten unterstützen.

Zum Ende meiner Ausführungen will ich mit wenigen Worten das Thema « Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87 » anreißen. Jedoch soll dieses nicht ausgeweitet werden, sondern lediglich die in der Analyse besprochenen Argumente unterstützen.

Die Hauptquellen, auf die sich meine Argumente stützen, werden innerhalb der Tractatio genannt werden. Eine ausführliche Quellenangabe findet sich zusammen mit diversen Noten, dem Gedichttext mit Übersetzung und einer Tabelle im Anhang meiner Arbeit.

2. Tractatio
2.1 Landini und das Trecento

Die Zeit des Trecento, außerhalb Deutschlands als italienische Ars Nova bezeichnet, war eine Zeit politischer Wirren. Zahlreiche Kämpfe zwischen kaiserlichen und freien Städten Italiens und zwischen Kaiserreich und Frankenreich auf italienischem Boden brachten wechselnde Bündnisse, Siege und Niederlagen gleichermaßen. Der Verfall der Stauferherrschaft nach dem Tod Friedrichs II. (1250) und die Regentschaft der französischen Päpste in Avignon (1305 – 1387) griffen das Vertrauen in die „alte Ordnung“ stark an.

Das Trecento war die Zeit der großen Hungersnöte und schrecklichen Pestepidemien (1348/49 & 1361/62), die das Volk zu Tausenden dahinrafften. Und dennoch entwickelte sich gerade in dieser Zeit eine eigenständige und reiche italienische Kultur.

Diese Entwicklung stand sicherlich in engem Zusammenhang mit dem italienischen Städtetum, dem florierenden Handel, der Ausbildung politischer und kultureller Zentren im Norden und der Mitte Italiens und natürlich der Existenz wohlhabender Förderer italienischer Kunst. Die Namen der Familien Visconti in Mailand, Scaliger in Padua und später der Medici in Florenz sind bis heute bekannt.

Auch in Italien war die Kunst ein Privileg der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, hauptsächlich des gehobenen Bürgertums der freien Handelsstädte und klerischer Kreise.

Voraussetzung für die kulturelle Blüte war die Entwicklung einer eigenständigen, italienischen Literatursprache durch die sizilianisch-toskanische Dichterschule unter Dante Alighieri, der auch die Dichter Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio angehörten. Sie bildeten in ihrer Lyrik den sog. dolce stile nuovo aus, der bald starken Einfluss auf die zeitgenössischen Komponisten ausübte. Es kam so zur Kultivierung neuer Formen der Lied- und Dichtkunst, wie der Canzona, dem Madrigal, der Ballata und der Caccia.

In der Musik, herrschten ein- und zweistimmige Kompositionen ohne liturgischen Tenor vor. Isorhythmie und Diminutionstechniken, wie sie die französische Motette pflegte, fanden wenig Anwendung. Kultiviert wurden eher kanonische Techniken, besonders in der Caccia. Bezeichnend für den italienischen Stil ist heute vor allem die enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik, die sog. poesia per musica. Die Struktur der Liedsätze ist unmittelbar vom Vers geprägt.

Das Trecento entwickelte sogar eine eigenständige Notation, ein Divisionssystem nach Petrus de Cruce. Doch alles in allem blieb der italienische Stil in der Folgezeit nicht frei von französischen Einflüssen.

Francesco Landini oder Franciscus Landino, von mir im Folgenden als Francesco bezeichnet, ist ein Komponist der „zweiten Generation“. Aus musikalischen Quellen ist er uns als Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia, Francesco degli Orghani oder Coechus de Florentia bekannt. All diese Bezeichnungen beziehen sich entweder auf seine Heimat Florenz, seine Erblindung oder seinen Beruf als Organist. Die Verbindung mit der Familie Landini kann erst durch die Verwendung des Landini-Wappens auf Francescos Grabstein und durch die Schriften seines Großneffen Christoforo Landino, in denen er Erwähnung findet, hergestellt werden.

Geboren um 1325 oder 1335 in Fiesole oder Florenz (weder Geburtsjahr, noch -ort sind urkundlich belegt) wendet sich Francesco früh der Musik zu. Aus Villanis Chronik « Liber de originis civitatis Florentiae et eiusdem famosis civibus » wissen wir, dass er als Kind durch eine Pockenerkrankung erblindet ist. Diese Erblindung hält ihn jedoch schon zu Lebzeiten nicht davon ab, als Meister der Improvisation, besonders auf der Orgel gerühmt zu werden.

1361 wird Francesco Organist im Kloster Santa Trinità in Florenz, 1365 Capellanuns an der Kirche San Lorenzo ebendort. Aus dieser Zeit sind uns zahlreiche Quellenbelege überliefert, die uns Auskunft über Francescos Leben und Wirken in Florenz geben.

Auch in der Literatur seiner Zeit taucht Francesco auf. In Giovanni da Pratos Ramanza « Il paradiso degli Alberti » wird von Zusammenkünften im Landhaus der Florentiner Bankiersfamilie Alberti berichtet, bei denen er sich geistreich an gelehrten und politischen Diskussionen beteiligt.

Am 2. September 1397 stirbt Francesco in Florenz. Er wird am 4. September in der Kirche San Lorenzo beigesetzt.

Uns sind 154 Werke des Komponisten aus verschiedenen Quellen überliefert: Ballaten, Caccias, Madrigale, Motetten und ein französisches Virelai. Die erhaltenen Werke machen etwa ein Viertel des gesamten überlieferten weltlichen Trecento-Repertoires aus. Die breite und zahlreiche Überlieferung seiner Werke, besonders in norditalienischen Quellen, spricht deutlich für deren damalige Beliebtheit.

2.2 « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli »
2.2.1 Der Text

Francescos dreistimmige Komposition « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den einschlägigen Quellen, diversen Lexika, sowie musikwissenschaftlichen Texten als Madrigal anerkannt.

Das Madrigal, marigale, wie es in Venedig oder madriale, wie es in der Toskana genannt wird, ist in seinen Ursprüngen eine von Petrarca, weniger von Dante gepflegte und kultivierte poetische Gattung. Etymologisch stammt das Wort vermutlich von [lat.] „matricalis“, was soviel bedeutet wie „von der Mutter her, in der Muttersprache“. Es handelt sich beim Madrigal um ein muttersprachliches, also italienisches Gedicht.

Formell besteht es aus einer beliebigen Anzahl an Terzetti (Strophen à drei Verse). Jeder Vers eines Terzetts besteht aus sieben oder elf Silben und weist den gleichen Endreim auf (Schema a-a-a). Jedem Terzett kann ein ein- oder zweiversiges Ritornell folgen, das einen anderen Endreim bringt (Schema b-[b]).

Petrarca behandelt im Madrigal noch vorrangig pastorale Themen. Die arkadischen Inhalte weichen jedoch mit der Zeit zunehmend autobiographischen, symbolischen, moralischen oder politischen Topoi.

Der Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » (Anhang B) stammt vermutlich von Francesco selbst. Es gibt jedoch auch Überlegungen, die Zweifel an seiner Autorschaft aufkommen lassen und aufgrund mangelnder Beweise kann ihre Authentizität nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Im Aufbau folgt der Text den Konventionen der Madrigalform. « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » besteht aus drei Strophen à einem Terzett, jeweils mit zweiversigem Ritornell. Zählt man die Silben, wobei man die zahlreichen Elisionen beachten muss, wird man feststellen, dass jeder Vers mit elf Silben bestückt ist. Einzig die Endreime des ersten und letzten Terzetts weichen vom traditionellen Reimschema ab.

In musikwissenschaftlichen Textbesprechungen wird immer wieder auf den „autobiographischen“ Inhalt des Madrigals hingewiesen. Der Terminus „autobiographisch“ ist jedoch sehr ungenau. Der Text kommuniziert einen kritisch-moralischen Inhalt auf metatextueller Ebene. Frau Musika beklagt sich über die Verderbtheit des Publikums, der „cavalieri, baroni e gran signori“ und über das mangelnde Bestreben der Künstler nach Perfektion, „tendo ogun le sue autenticitate“. Es finden sich sogar performative Sprachelemente, wie „inarrar musical note“. Dies hat wohl zu der weit verbreiteten Annahme geführt, es handle sich um einen autobiographischen Text.

Mit seinem kritischen Inhalt steht der Text in engem kulturellen Zusammenhang mit Themen, wie sie in den Rahmenhandlungen des « Decameron » oder in « Il paradiso degli Alberti » besprochen werden und kann deshalb als besonders repräsentativ gelten.

2.2.2 Die Musik

Im frühen Trecento entwickelt sich das Madrigal, später von der Ballata abgelöst, zur häufigsten Liedgattung. Seine musikalische Struktur ist ganz der italienischen Tradition der poesia per musica verpflichtet, d.h. vom Text geprägt. Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B, der in deutlicher Abgrenzung zu A meist in einer anderen Mensur steht. Die Verse werden derart vertont, dass es auf jeder ersten und vorletzten Silbe zu ausgedehnten Melismen kommt. Interpunktiert wird in der Regel am Versende auf reinen Konsonanzen.

Es gibt sowohl zweistimmige, als auch dreistimmige Kompositionen. Der Tenor erklingt meist eine Quarte oder Quinte unter dem Superior. Er hat begleitenden Charakter und ist im Unterschied zum französischen Stil textiert. Der Superior weist kürzere Notenwerte, einen lebhafteren und primären Charakter auf. Die Ambitus beider Stimmen haben vornehmlich den Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde. In einer zweistimmigen Komposition verlaufen diese beiden Stimmen kreuzungsfrei.

Eine dreistimmige Komposition entsteht aus der Ergänzung der Zweistimmigkeit durch eine dritte Stimme, den Contratenor. Dieser kann verschiedene Funktionen übernehmen. Er kann im Charakter sowohl einem zweiten Superior entsprechen, als auch eine ruhigere Mittelstimme sein oder aber als Fundament fungieren, ähnlich wie ein zweiter Tenor. Danach, welche Funktion der Contratenor übernimmt, unterscheiden sich die Arten des dreistimmigen Madrigals.

Vom italienischen Stil wird oft berichtet, er mute wie eine Improvisation an. Die freie Wahl von Kadenztönen, der ungebundene Umgang mit der Vertonung von Elisionen und relativ häufig auftretende offene Unisono-, Quint- oder Oktavparallelen begründen wohl dieses Empfinden.

Der repräsentative Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » und sein kritischer Inhalt evozieren bereits große Erwartungen an deren musikalische Umsetzung. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität von Francescos Komposition kann die Textabsicht souverän transportieren. Dass sie der Wertschätzung anderer Künstler gerecht wird, bezeugt die breite Überlieferung in mindestens fünf verschiedenen Quellen.

Schon die Dreistimmigkeit des Tripelmadrigals zeugt von hohem musikalischem Anspruch. Der Text der drei Strophen erklingt simultan in allen drei Stimmen, so dass es während des Vortrags zu einer besonderen Mehrtextigkeit kommt. Das ist ungewöhnlich.

In der Tradition der Madrigalform splittet sich das Musikstück in erwarteter Weise auf: Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B. Während Teil A eine imperfekte Mensur aufweist, wird in Teil B durch die Punktierung der ersten Longa (Anhang C3) eine Dreizeitigkeit erzeugt. In Ms. Mediceo-Palatino 87 hat der Kopist darüber hinaus ein Mensurzeichen gesetzt, das Dreizeitigkeit anzeigt.

Initialklang und Schlusskadenz des A-Teils werden von vollkommenen Konsonanzen gebildet. Am Anfang des B-Teils steht ein vollständiger Dreiklang mit großer Terz. Der Dreiklang ist aus England bekannt. Dass er hier einen Initialklang bildet, kann wohl als besonders gelten. In der finalen Kadenz enden die drei Stimmen in einem Unisono.

Der Tenor bildet als tiefste Stimme das Fundament der Komposition. Er verläuft ruhiger als der Superior und hat begleitenden Charakter. Der Superior ist bewegter, hat kürzere Notenwerte und zeugt von größerer rhythmischer Vielfalt. Der Contratenor wird als zweiter Superior gebraucht.

Contratenor und Superior sind sich also rhythmisch und melodisch sehr ähnlich. Häufig umspielen und kreuzen sie einander, ahmen einander nach. Bei der Nachahmung handelt es sich jedoch nicht um eine Kanontechnik, wie man sie in der Caccia antrifft, sondern eher um eine freie und bruchstückhafte Imitation kürzerer Floskeln. Auffällig treten diese Imitationen in den Takten 20-22, sowie 29-30 (Anhang C1) zwischen Superior und Contratenor in Erscheinung. Im B-Teil findet sich eine Imitation zwischen Superior und Tenor in den Takten 76-77. In Anhang C1 habe ich diese Stellen braun gekennzeichnet. Marginalere Imitationen unter den Stimmen lassen sich auf Floskelbildung zurückführen, auf die ich später noch ausführlich kommen werde.

Der Tenor mit genauem Ambitus einer Oktave berührt den Contratenor relativ häufig. In den Takten 43 und 76 kommt es zur Kreuzung zwischen beiden Stimmen. Den eine Quinte höher gelegenen Superior berührt der Tenor weniger oft. Es kommt nicht zur Stimmkreuzung. Einzige und sehr interessante Ausnahme bildet hier Takt 56 (Anhang C2), in dem der Tenor kurz vor Ende des A-Teils mit einer großen Geste zur höchsten Stimme aufsteigt.

Zwar haben Superior und Contratenor den gleichen Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde, die Ambitus sind im selben Stimmraum gelegen und die beiden Stimmen sind sich auch sonst sehr ähnlich. Da aber der Tenor öfter mit dem Contratenor als mit dem Superior in Berührung kommt, kann man daraus erkennen, dass der Contratenor durchschnittlich tiefer gelegen ist und sich meist zwischen Tenor und Superior ansiedelt.

Die im italienischen Stil übliche Textvertonung mit Melismen auf der ersten und vorletzten Silbe jedes Verses befolgt Francesco zwar, jedoch nicht äußerst streng. Auf vorletzter Silbe finden sich besagte Melismen, in Anhang C1 grün markiert, immer. Die Melismen auf der ersten Silbe, in Anhang C1 orange markiert, werden innerhalb des Stücks, besonders im B-Teil, z.T. übergangen.

Eine interessante Folge der Mehrtextigkeit des Stücks ist die lineare Klauselbildung. Die drei Stimmen, die den Text simultan vortragen, erreichen die Versenden, die ich in C1 blau markiert habe, zu unterschiedlicher Zeit. So kommt es, dass jede Stimme einzeln und für sich interpunktiert, wobei ich in dem Fall von den simultanen Kadenzen der Initial- und Finalklänge absehe.

Die Klauseln auf den Tönen d bzw. a, auf e in Takt 18 und cis in T. 75 zeugen von einem harmonischen Konzept. Von freier Wahl der Kadenztöne kann hier freilich nicht die Rede sein. Die Ambitus, sowie die Stimmräume der einzelnen Stimmen lassen eine klare Organisation der Kadenzbildung innerhalb des dorischen Modus erkennen.

Die Versenden und –anfänge sind jeweils durch Longapausen voneinander getrennt. Einzige Ausnahme bilden die Takte 37-38 im Tenor, wo Versende und –anfang durch ein untextiertes Zwischenspiel aneinander gebunden werden. Ein weiteres Zwischenspiel dieser Art findet sich in den Takten 21-24 im Tenor. Hier folgen jedoch vor Beginn des nächsten Verses die zwei Longapausen. Dass es untextierte Zwischenspiele gibt, stützt die Vermutung, dass die Stimmen während des Vortrags instrumental begleitet wurden.

Die in der französischen Motette so häufig angewandte Isorhythmie findet sich in diesem italienischen Lied nicht. Auch längere Synkopenketten, wie sie in Ars Subtilior-Kompositionen gepflegt wurden, sind hier nicht vorhanden. Der Rhythmus dieser Komposition ist eher von einer markanten rhythmischen Formel, ss saas v, geprägt (wobei s eine Sechzehntelnote, a eine Achtelnote und v eine Viertelnote repräsentiert). Diese Formel nimmt, da sie in linearer Abfolge oder mit mindestens einem Wendepunkt in ähnlicher Art immer wieder auftaucht, den Status einer Floskel ein. Sie findet sich in den Takten 6, 39, 69, 77 und 80 im Superior, in den Takten 2, 10, 11, 35, 46 und 49 im Contratenor und in Takt 76 in bedeutender imitatorischer Anwendung im Tenor.

Insgesamt werden die in der Ars Nova üblichen Notenwerte, Longa, Brevis, Semibrevis und Minima verwendet. Triolen oder andere kleinste Divisiones des „Brevis-Taktes“, wie sie in den Kompositionen der „ersten Generation“ üblich sind, bringt Francesco nicht. Das vorhandene rhythmische Material wird jedoch in verschiedenen Kombinationen ausgeschöpft, wobei meist sanfte Übergänge zwischen den Polwerten Longa und Minima gemacht werden.

In Teil A kommt es zwischendurch immer wieder zu beinahe homophonen Ruhepunkten, besonders auffällig zu beobachten in den Takten 3 und 23. Solche Ruhepunkte fehlen in Teil B völlig. Insgesamt lässt sich sagen, dass Teil B sowohl rhythmisch, als auch melodisch und in logischer Folge dessen harmonisch bewegter ist.

Das harmonische Gefüge des Stücks kann anhand der Transkription in moderner Notenschrift (Anhang C1) und der nach dieser Transkription edierten Midi-Notation (Anhang C2) sehr schnell in statistischen Aussagen über reine Klangsituationen zusammengefasst werden. So finden sich insgesamt 70 direkt angesungene vollkommene Konsonanzen in dem Stück, wobei es nur 3 mal zum Unisono kommt (T. 33, T. 70, T. 94) und 38 direkt angesungene unvollkommene Konsonanzen.

Die direkt angesungenen dissonanten Klänge halten sich in ihrer Zahl zurück. Diese, in Anhang C1 orange gekennzeichnet, treten hauptsächlich auf leicht gewichteten oder kurzen Notenwerten auf. Die einzig signifikante Dissonanz ist das direkte mi contra fa in Takt 69. Man mag aber annehmen, dass die damaligen Sänger, auch ohne vorgezeichnetes Akzidentium, solchen Zusammenklängen ausgewichen sind.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass es innerhalb des Stücks zu 41 direkt angesungenen vollständigen Dreiklängen kommt. Dies zeugt davon, dass der Harmonie hier besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ähnlich wie es innerhalb der Kontrapunktik in der frühen Neuzeit praktiziert wird. Ein weiterer Umstand, der für den hohen Anspruch der Komposition spricht.

Die Aussagekraft dieser Statistik (Anhang D) ist jedoch begrenzt. Zwar lassen sich ungefähre Verhältnisse erkennen, dennoch geben die Zahlen lediglich Hinweise auf die Quantität, nicht aber die Qualität einer harmonischen Erscheinung. So muss z.B. der initiale Dreiklang zu Beginn des B-Teils sehr viel schwerer gewichtet werden als die Dreiklänge die sich in Takt 67 ergeben.

2.3 Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87

Die Werke Francescos sind in mehreren Trecento-Quellen überliefert. Das Madrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den meisten als von Francesco stammend vermerkt. Die Authentizität seiner Autorschaft als Komponist kann dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Über die Entstehungszeit des Madrigals scheint Unklarheit zu herrschen. So gibt das Neue Handbuch der Musikwissenschaft an, es handle sich um ein eher spätes Werk, das um 1375 entstanden sei. Die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart meint jedoch, die Werke mit zweitem Superior seien vor 1375 entstanden. Da uns die Entstehungsumstände des Stücks nicht bekannt sind, ist es schwer eine vertrauensvolle zeitliche Einordnung vorzunehmen.

In der Prachthandschrift Ms. Mediceo-Palatino 87, dem „Squarcialupi-Codex“, leitet « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » das Kapitel des Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia ein. Da die Auswahl der aufgeführten Stücke bewusst getroffen und die Anordnung durchdacht und geplant ist, mag diese Stellung bezeichnend für die Bedeutung des Madrigals innerhalb des Œuvres des Komponisten sein.

Der Codex, benannt nach seinem ersten Besitzer Antonio Squarcialupi, später im Besitz der Medici, stellt die umfangreichste und prachtvollste Liedersammlung des Trecento dar. Er reiht Komponisten wie Giovanni da Cascia und Jacopo da Bologna, Gherardello da Firenze, Vincenzo da Rimini oder Antonius Zacharias de Teramo (Magister Zacara) auf. Insgesamt finden sich darin 354 Werke von 12 verschiedenen Komponisten, jeweils in „Kapiteln“ chronologisch angeordnet. Mehr als ein Drittel der Werke stammt von Francesco.

Die Pracht der 216 Pergamentfolianten liegt vor allem in ihrer reichen Ausstattung begründet. Jedes Kapitel wird von einer fein illuminierten und aufwändig mit Blattgold verzierten Miniatur, einem Portrait des Komponisten, eingeleitet. Aus diesen sog. historisierten Initialen können noch heute viele interessante Erkenntnisse gewonnen werden.

Der Anhang C3 stellt eine Abschrift der Gallo-Faksimile-Ausgabe des Squarcialupi-Codex dar. Sehr gut kann man erkennen, dass das Stück zwar, wie es in Italien üblich war, auf sechs Notenlinien notiert ist, dass es sich aber um französische Notation handelt. In diesem Fall ist das keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der Darstellungsmöglichkeiten.

Im italienischen Divisionssystem lassen sich Synkopen, die über den „Brevis-Takt“ hinausgehen, nicht oder nur sehr schwer darstellen. In « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » würden bei dem Versuch bereits in Takt 2 Probleme auftreten. Die rhythmischen Elemente des Superiors,  und des Contratenors, , sind nicht sinnvoll durch italienische Notation auszudrücken. Da dies nicht die einzige Stelle ist, an der Komplikationen auftreten würden, muss das gesamte Stück in französischer Notation festgehalten werden.

Dies ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Francesco nicht wie seine Vorgänger Jacopo da Bologna oder Giovanni da Cascia rhythmisiert. Für deren Stücke bot sich die italienische Notation noch an. Hier weicht Francesco jedoch in der Rhythmisierung bereits deutlich vom italienischen Stil, wie ihn die Komponisten der „ersten Generation“ prägten, ab. Eine Notation im Divisionssystem kommt für Francescos Musik bereits nicht mehr in Frage.

3. Conclusio

Francesco Landini hinterlässt uns mit dem Tripelmadrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » eine Trecento-Komposition, die einen sehr hohen musikalischen Anspruch verfolgt und den Wandel der Gattung Madrigal zu einer exklusiven und repräsentativen Form bezeugt. Vieles daran bedient noch die „alten“ Traditionen der Komponistengeneration, die bereits um 1340-50 in Norditalien gewirkt und den „typisch“ italienischen Stil begründet hat. Anderes daran ist neuartig und zeugt von einem individuellen Umgang mit französischen Einflüssen.

Da Francescos Autorschaft für den Text als nicht gesichert gelten kann, lassen sich hier wenig direkte Aussagen über sein Verhältnis zum italienischen Stil machen. Allein die Tatsache, dass er die im frühen Trecento äußerst beliebte Form des Madrigals und einen solch repräsentativen italienischen Text zur Vertonung gewählt hat, bringt die enge Verbundenheit mit italienischen Traditionen deutlich zum Ausdruck.

Die Struktur des Stücks und die Anlage der Stimmen folgt durchaus den bekannten Regeln der poesia per musica. Darüber hinaus bemüht sich Francesco um die Anwendung verschiedenster klanglicher Raffinessen, die neuartig wirken und den künstlerischen Anforderungen des Textes Genüge leisten. Dazu zählen die Mehrtextigkeit und die kühne Stimmkreuzung in Takt 56 genauso, wie die Anwendung der zahlreichen Dreiklänge oder der rhythmischen Floskel.

Von einem improvisatorischen italienischen Stil kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Stück mutet unerwartet organisiert und durchdacht an. Kompositorische Ungeschicktheiten, wie unangenehme dissonante Zusammenklänge oder Parallelbewegung in den Stimmen, sind dieser Komposition so gut wie fremd.

Die Abkehr vom italienischen Divisionssystem und aller damit verbundenen kompositorischen Eigentümlichkeiten und die Hinwendung zu rhythmischen Gestaltungsmitteln, die nur in französischer Notation sinnvoll ausgedrückt werden können, lassen hier einen direkten französischen Einfluss erkennen.

Das Werk « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » steht in der Linie italienischer Tradition und darüber hinaus für die große Begabung und die stilistische Individualität seines Komponisten.

Die Anhänge

Die Anhänge umfassen vier Teile. Ein PDF mit den kompletten Anhängen kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: Musica son – Appendices

  • A: Literatur- und Quellenverzeichnis
  • B: Madrigaltext und Übersetzung
  • C: Noten
    • C1: moderne Edition/Transkription
    • C2: Edition in „Midi“-Notation
    • C3: diplomatische Abschrift
  • D: Statistik

März 2004

Seminararbeit: Das Liederbuch der Anna von Köln

Donnerstag, 20. September 2007

Das Liederbuch der Anna von Köln. Ein Aufsatz über Ms. germ. oct. 280 und seinen Bezug zur Devotio Moderna mit anschließender Handschriftenbeschreibung, Freie Universität Berlin, Sept. 2007 [Abschlußarbeit zum Proseminar „Handschriftenkunde“ der Älteren Deutschen Literatur und Sprache, geleitet von Frau Dr. Britta-Juliane Kruse]

1. Einleitung

Diese Hausarbeit soll mein Referat zum Ms. germ. oct. 280, dem sogenannten Liederbuch der Anna von Köln, im Rahmen des Proseminars „Handschriftenkunde“ im Sommersemester 2006 zusammenfassen und komplettieren. Ich beginne die Arbeit mit ein paar allgemeinen Ausführungen zur Devotio Moderna und ihrem Gründervater Geert Grote und spreche anschließend über die Handschrift selbst. Dabei fließen Beobachtungen, die ich selbst an der Originalhandschrift vornahm, ebenso ein, wie Thesen namhafter Wissenschaftler, die zu dieser Handschrift oder zu einem nahe verwandten Thema geforscht haben. Ich diskutiere Argumente der Forschungsliteratur zur Herkunft und Datierung der Handschrift und gebe Ausblicke auf eine mögliche Verbindung dieser Musikhandschrift mit der Meditationstradition der Devotio Moderna. Am Ende der Arbeit folgt eine von mir besorgte, einseitige Handschriftenbeschreibung, die sich soweit wie möglich an den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft orientiert.

2. Geert Grote und die Devotio Moderna

Die Devotio Moderna war eine Frömmigkeitsbewegung, die ihren Ursprung im geistlichen Bürgertum des 14. Jahrhunderts und namentlich bei ihrem Gründervater Geert Grote1 nimmt. Vom IJsseltal in den Niederlanden ausgehend verbreitete sie sich mit kleineren Anlaufschwierigkeiten bald über die gesamten Niederlande und weite Teile Deutschlands und Europas. Ihre vorreformatorischen Ideen sind geprägt von einer der Zeit im Allgemeinen anhaftenden Skepsis am ausschweifenden Lebenswandel des Klerus. Das Vertrauen der Gläubigen in die Kirche war durch das Exil der Päpste in Avignon, die Einflußnahme der französischen Könige und das westliche Kirchenschisma tief erschüttert. Die Modernen Devoten aber wollten die Ursprünglichkeit im christlichen Glauben wiederfienden und dorthin zurückkehren, was zur Abkehr von doktrinalen Erkenntnissen, von theologisch verkopfter und lebensfremder Religion führte. Chistus Leben auf Erden sollte zum Vorbild einer innerlichen und ehrlichen Frömmigkeit werden, in der jeder Einzelne durch Nachahmung eine persönliche Beziehung zu Gott findet. So wird es unter anderem im 1418 anonym veröffentlichten Werk „De imitatione Christi“2 formuliert, das als geistliches Hauptwerk der Bewegung und meistverbreitetes Werk im Spätmittelalter nach der Bibel gilt.

Geert Grote, der Begründer der Devotio Moderna, wird 1340 in Deventer als Sohn eines wohlhabenden, bürgerlichen Ehepaares geboren. In Paris studiert er Theologie, Medizin, Astronomie und Kirchenrecht und führt das Leben eines bibliophilen Intellektuellen. Vermutlich durch die Freundschaft zu Heinrich von Kalkar, einem Karthäuser-Mönch, und einigen anderen Mystikern, erfährt er nach und nach einen Lebenswandel. In der Karthause Mönnikhuizen, wo er einige Jahre lebt, ohne ein Gelübte abzulegen, studiert er zum Zwecke der geistlichen Fortbildung die Schriften der Kirchenväter, besonders des Heiligen Augustinus. Er entsagt seinen weltlichen Ambitionen und kehrt als Bußprediger aus dem Kloster zurück. Einflußreiche Feinde beim Klerus macht er sich dadurch, dass er in Flugschriften und kleinen Heften die Mißstände der Kirchen und Orden anprangert. So handelt er sich 1383 ein Predigtverbot durch den Bischof von Utrecht ein, das trotz Verteidigungsschriften seitens Grotes bis zu seinem Tode nicht aufgehoben wird. 1384 stirbt er im Alter von 44 Jahren an der Pest.

Die Devotio Moderna fand in drei religiösen Richtungen ihre Ausprägung, bei den Schwestern und Brüdern vom gemeinsamen Leben, bei den Chorherren und -frauenstiften der Augustiner Kanoniker und Kanonikerinnen, die im Windesheimer Kapitel zusammengeschlossen waren und den Drittordensgemeinschaften des Kapitels von Utrecht. 1374 hatte Geert Grote einen Teil seines Vaterhauses an religiös lebende Frauen gestiftet. Diese schlossen sich in einer „vita communis“ zu den Schwestern vom gemeinsamen Leben zusammen. Dies bedeutete ein frommes Zusammenleben nach klosterähnlichen Tagesabläufen, jedoch ohne Gelübte, also ohne im kirchenrechtlichen Sinne ein Kloster zu sein und mit der Option, die Gemeinschaft jederzeit wieder verlassen zu können. Ähnlich fanden sich die Brüder des gemeinsamen Lebens. Auf Anraten seines Freundes Florens Radewijns3 hatte Grote eine Gemeinschaft gestiftet. Die Brüder setzten sich zunächst aus den Schülern zusammen, die Grote aus der Kapitelschule in Deventer geholt hatte, um für ihn Bücher zu kopieren. Das Abschreiben und fertigen von Handschriften spielte auch weiterhin eine zentrale Rolle im Leben der Brüder, die sich durch deren Verkauf einerseits ihren Unterhalt verdienten, andererseits eine umfangreiche Bibliothek für den Eigenbedarf aufbauten. Schon 1387 wurde aus einer Eigeninitiative der Brüder heraus das Kloster zu Windesheim gestiftet und von Brüdern bevölkert, die ihre religiöse Lebensweise als echte Klosterbrüder komplettieren wollten. Die Bewegung stieß bei vielen Bürgerlichen auf Sympathie, so dass sie sich der Gemeinschaft anschlossen oder sich als Schüler durch die Brüder ausbilden ließen. Weitere Brüder- und Schwesternhäuser entstanden in Zwolle, Den Bosch, Lüttich, Rostock und ganz Europa. Die Klöster schlossen sich zum Kapitel von Windesheim zusammen und die Bewegung blühte bis ins 16. Jahrhundert hinein. In diese Umgebung gehört auch die Berliner Handschrift mgo 280, das sogenannte „Liederbuch der Anna von Köln“.

3. Das Liederbuch der Anna von Köln

Das Liederbuch der Anna von Köln ist eine schmucklose Papierhandschrift mit Pergamentcoupert-Einband im Kleinoktav-Format. Tervooren nennt sie eine der letzten großen Sammelhandschriften des geistlichen Liedes.4 Salmen spricht von der inhaltsvollsten Melodiequelle dieser Art.5 Die Handschrift umfaßt 82 Lieder auf 180 Folii und 23 Lagen, 24 davon sind mit Melodie notiert; größtenteils handelt es sich um Kontrafakte. 35 der Lieder sind hier singulär überliefert, 17 Lieder hat die Handschrift aber mit dem Deventer Liederbuch gemein, 16 mit dem Liederbuch der Katharina von Tirs, 10 mit dem Wienhäuser Liederbuch und 7 mit dem Werdener Liederbuch. Die meisten Lieder (67) sind in niederrheinischer Sprache verfaßt; Tervooren präzisiert, die Zielsprache sei das Ripuarische.6 Auch 15 lateinische und lateinisch-volkssprachlich gemischte Lieder sind aufgeführt.

Die 23 Lagen sind überwiegend von einer Haupthand A geschrieben, wobei die Lieder oft lagenübergreifend notiert sind. Nur die Lagen 18 (128-133), 20 (149-156) und 21 (157-164) weisen andere Hände (B + C) auf. Kleinere Nachtragungen von vier weiteren Händen (D, E, F und G) finden sich vereinzelt auf den von der Haupthand A zunächst frei gelassenen Seiten. Detaillierte Zuordnungen der Hände finden sich bei Salmen.7 Die Lagen weisen meist eine Stärke von Ternaria mit Zusatzblatt, bzw. Quaternaria mit Verlustblatt auf. Verluste sind wahrscheinlich: Salmen beklagt, dass einige Lieder abrupt abbrechen und weist darauf hin, dass der heutige Zustand der Handschrift nicht der ursprüngliche ist.8 Er nimmt an, dass zumindest Lage 18 später eingefügt wurde, weil diese zusammen mit Lage 17 zwischen die Lage 16 geheftet wurde und älteren, externen Ursprungs zu sein scheint.

Hand A schreibt in klarem Duktus und rubriziert Lombarden. Liedanfänge werden mit einer rubrizierten Gattungsbezeichnen (Carmen, Hymnus, etc.) oder einem Melodieverweis (Sub nota…) gekennzeichnet. Versanfänge bekommen ein rubriziertes „ver“ oder „v“ mit übergesetzter Er-Kürzung. Es kommt vor, dass Lieder in einer Buchschrift begonnen, aber in einer Kursiva beendet werden oder andersherum. Auch gibt es z.T. vorbereitete, aber leere Notensysteme oder Lücken, wo später Notensysteme eingefügt werden sollten. Hand B schreibt Lage 18, wobei besonders auffällig die Rundbogenligaturen sind, die nur in diesem Teil auftreten. Auch sprachlich weicht Lage 18 ab und tendiert zum Niederländischen. Hand C schreibt mit breiter Feder auf ein gelbliches Papier. Die gesamte Handschrift weist starke Gebrauchsspuren auf.

Auf Folio 1r findet sich der Besitzvermerk: „Dit boek hoert toe anna van collen der et fynt eer et verloeren w(ort) der serft ouc wall eer hey kranck wort„, der der Ms. germ. oct. 280 ihren Namen gibt. Auch auf 128v und 137v hat sich Anna verewigt. Einmal wiederholt sie den Besitzeintrag, ein anderes Mal erklärt sie, Trinchen von Kleve sei ihre beste Freundin: „tringen van kleif dat ijs myn aller liefte vriundijn„.

3.1 Datierung und Herkunft

Als jüngster Teil der Handschrift gilt der Nachtrag von Hand D auf Folio 1v. Dort wurden mit einer flüchtigen Kursivschrift die zweite und dritte Strophe der Pfingst-Leise „Nu bydden wir den hilgen geist“ nachgetragen. Diese Strophen stammen von Martin Luther, können aber nicht vor ihrem Erstabdruck 1524 bekannt gewesen sein9. , weshalb dieser Nachtrag auf nach 1524 datiert ist. Den ältesten Teil der Handschrift, Lage 18, datieren verschiedene Paläographen aufgrund der später unüblichen Rundbogenligaturen auf 1500.10 Dieser Teil könnte ursprünglich den Anfang einer anderen, niederländischen Handschrift gebildet haben, da gerade das erste Blatt starke Gebrauchsspuren (Tintenabrieb) aufweist.11

Sowohl Wilbrink, als auch Salmen stellen fest, dass die Schrift und besonders die Rundbogenligaturen in Lage 18 sehr viel Ähnlichkeit mit denen im Deventer Liederbuch aus dem Lammenkloster haben. Auch sind die vier in dieser Lage notierten Lieder Parallelüberlieferungen zur Hs. Deventer, zwei davon sind nur in diesen beiden Manuskripten überliefert. Außerdem weicht dieser Teil der Handschrift sprachlich von den übrigen Teilen ab, da die Lieder niederländisch und nicht niederrheinisch sind.12 Deshalb gehen Wilbrink und Salmen davon aus, dass Lage 18 möglicherweise von einer Deventer Schreiberin geschrieben wurde. Es könnte sein, so Wilbrink weiter, dass diese in ein Schwesternhaus am Niederrhein versetzt wurde. Zumindest wären solche Versetzungen vorgekommen, aber auch Liedaustausch habe definitiv stattgefunden. Wilbrink schlägt für die Lokalisierung der Handschrift deshalb das Schwesternhaus in Emmerich vor.13

Obwohl die Handschrift relativ viele lateinische Lieder und auch Notation enthält, wird ihre Entstehung in einem Schwesternhaus vermutet. Dies ist ungewöhnlich, da die Schwestern der Devotio Moderne meist nur wenig Latein sprachen und auch in der Musiklehre nicht so geschult waren, wie die Brüder.14 Hascher-Burger schreibt, dass geringe Lateinkentnisse nur bei den Chorfrauen der Windesheimer Kongregation vorausgesetzt werden konnten, weil diese lateinische Lieder zu singen hatten. Chorfrauen mit guten Lateinkenntnissen hatten sich diese meist schon vor dem Eintritt ins Kloster angeeignet.15

Nicht aber allein des Besitzeintrages einer Frau wegen, sondern vor allem aus inhaltlich-motivischen Gründen, kommt eher ein Schwesternhaus als Entstehungsort in Frage. Aufgeführt werden Weihnachtslieder, Lieder der minnenden Seele, Passionsbetrachtungen, Marienlieder und Lieder auf ausgewählte Heilige (Agnes, Anna, Getrud). Jesus wird oft als Bräutigam, Weinschenk oder sogar als Nachtgänger thematisiert.16 Die Weiblichkeit der Liedinhalte bestünde in einer Verbindung aus Religion und Eros und die Grundstimmung entspräche dem Desiderium, schreibt Salmen.17

Gleichzeitig zweifelt er Wilbrinks Lokalisierung im Schwesternhaus Emmerich an. Da der Großteil der Texte einen Lautbestand aufweist, der noch heute im Kölner Raum gesprochen würde und auch der Besitzeintrag der Anna nach Köln verweist, hält er ein Schwesternhaus in oder um Köln für den wahrscheinlicheren Entstehungsort.18 Wilbrinks Argument, Anna hätte den Zusatz „van Collen“, der sich wohl auf ihren Herkunftsort bezieht, nicht gebraucht, hätte sie sich in Köln befunden19 , hält Salmen für wenig kräftig. Ich schließe mich ihm in diesem Punkt an, denn in einer Handschrift mit Druck, genannt „Statuten und Concordata der Stadt Collen und Formelbuch“,20 fand ich folgenden Eintrag:

1644 haff ich Anna von Collen ihm dit buch bezalt

Nun kann man nicht davon ausgehen, dass diese Anna mit der Besitzerin des Liederbuchs identisch ist, da letztere ja ca. 100 Jahre früher gelebt hat. Wohl kann man aber davon ausgehen, dass sie Kölnerin ist, wenn sie ein Buch mit den Statuten der Stadt Köln kauft. Dennoch schreibt sie den Zusatz „von Collen“. Warum sollte die Anna im Liederbuch das nicht ebenfalls getan haben, auch wenn sie sich in Köln befand?

Als sicher gilt aber, dass eine Urheberschaft Annas sowohl an den Liedern als auch an der Handschrift ausgeschlossen werden kann. Ihre Schreibversuche (in der Nähe ihrer Besitzeinträge übt sie immer wieder Majuskel) zeichnen sie als ungeübte Schreiberin aus und die Vermutung, dass sie eine wenig gebildete Begine war, liegt nahe.21 Die Handschrift weist aber wenige Schreibfehler auf und deutet auf eine souveräne Schreiberin hin. Salmen geht davon aus, dass von einer Vorlage kopiert wurde.22

3.2 Musik und Meditation

24 der 82 Lieder in Annas Büchlein sind mit Notation überliefert, zwei davon („In dulci iubilo“ und „Iure plaudant omnia“) sogar mit zweistimmigen Melodien. Bei der Notation handelt es sich um eine späte Neumenschrift, die sogenannte gotische Choralnotation, die je nach Umfang der Melodie auf zwei bis fünf Notenlinien notiert wurde. Drei verschiedene Schlüssel (f, c und g) sind in Benutzung, z.T. werden sogar zwei Schlüssel in dasselbe System geschrieben. Die Notation ist simpel und beschränkt sich überwiegend auf die Einzelnoten Virga und Punctum. Sie verwendet keine Pausen. Die wenigen Ligaturen, die Verwendung finden (u.a. Pes, Climacus, Bistropha), entsprechen eher den deutschen Ausformungen als den französischen23, obwohl eine nähere Analyse hier mehr Aufschluß geben würde.

Verhältnismäßig simpel ist nicht nur die Notation der Lieder, sondern auch die gesamte musikalische Anlage. Zwar handelt es sich um Strophenlieder, doch sind diese meist einstimmig und weisen eine einfache Melodieführung auf. Auch die wenigen zweistimmigen Lieder beschränken sich auf den homophonen Satz in parallelen Quinten und sind kein Vergleich zur florierenden Kunstfertigkeit der niederländischen Vokalpolyphonie, die um dieselbe Zeit gepflegt wurde. Darin entsprechen sie aber ganz der Musikauffassung der Devotio Moderna, der es in erster Linie um den Text und dessen Verständlichkeit ging. Die Musik dürfte diesen keineswegs dominieren und war eher ein Vehikel der sprachlichen Inhalte.24 Dies hatte schon der von der Devotio verehrte Heilige Augustinus gefordert.

Welche Funktion hatte dann aber Musik in der Devotio Moderna und welchen Zweck erfüllte das Liederbuch der Anna von Köln? In ihrer Untersuchung zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna25 stellt Ulrike Hascher-Burger eine ähnliche Frage und argumentiert für die Verwendung von Musik im Rahmen der Meditation und als Begleitung der Handarbeit.26 Ihre Hauptargumente sind dabei:

  • Ein Verbot des Orgelspiels im Dormitorium von 1464 beweist, dass in Schwesternhäusern auch außerhalb der lithurgischen Praxis musiziert wurde.
  • Schriften von Verfassern der Devotio, Moderna bringen die Musik in Verbindung mit der Meditation und erklären, dass Musik die Handarbeit erleichtere.
  • Notation in Verbindung mit geistlicher Meditationslyrik deutet auf Gesang hin.
  • Einzelne Liedtexte deuten die Verbindung von Musik und Meditation an und behandeln Themen, über die auch meditiert wurde.
  • Die Musikhandschriften der Devotio weisen eine praktische Gebrauchsgröße (oktav) auf und sind in ihrer Anlage den Rapiarien ähnlich.

Rapiarien, das waren persönliche Notizbücher mit Texten zu wichtigen Punkten der Meditation, die sich Anhänger der Devotio selbst anlegen sollten. Solche Rapiarien weisen eine ungeordnete Anlage auf, sind klein und schmucklos und wurden über einen längeren Zeitraum in ungebundener Form angelegt, da die Texte darin erst gesammelt werden mußten. Bei dieser längerwährenden Niederschrift kommt es zur Verwendung verschiedener Tinten und Papiere, der Schriftduktus ändert sich, obwohl die Schreiberhand diesselbe bleibt, die Papiere weisen starke Gebrauchsspuren auf und am Ende der Lagen befinden sich oft leere Seiten.

Die meisten dieser Merkmale treffen auch auf das Liederbuch der Anna von Köln zu. Auf Folio 73v steht die erste Strophe eines Liedes z.B. in Buchschrift, die weiteren aber in einer Kursiva, während das Lied auf Folio 141r kursiv endet und ein neues auf derselben Seite in Buchschrift begonnen wird. Auch hier finden sich am Ende der Lagen oft leere Seiten und die Gebrauchsspuren der schmuklosen, kleinformatigen Handschrift sind kaum zu übersehen.

Wenn es sich bei Annas Liederbuch um ein solches musikalisches Rapiarium handeln sollte, so kann man nicht davon ausgehen, dass es dem Ursprung nach Annas Liederbuch war. Denn diese hätte es ja sonst selbst anlegen müssen. Wahrscheinlich ist, dass die Lagen erst später zusammengebunden wurden, wobei auch die Einschübe der Lagen 18, 20 und 21 hinzugekommen sind, und dass die Handschrift erst dann in Annas Besitz überging. Auch wäre, wenn es sich um ein Notizbuch zur persönlichen Meditation handelt, ungeklärt, warum darin zweistimmige Lieder überliefert sind.

Es folgt die Handschriftenbeschreibung nach den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1992:

Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 280

Das Liederbuch der Anna von Köln
Konvolut geistlicher Lieder mit Notation

Papier ∙ 180 Bll. ∙ 9,6 x 7,2 cm ∙ Niederrhein ∙ 15. Jh.

deutlich versch. Papiersorten, Gebrauchsspuren, teilw. restauriert, keine Wasserzeichen, Stempel der Königlich-Preussischen Bibliothek (1r, 175v) ∙ Lagen: 23 Lagen unterschiedl. Provenienz, Lieder oft lagenübergreifend notiert, Lagenformel bei Salmen S.3, neuzeitliche Tintenfoliierung mit arab. Ziffern rechts unten vergißt 40 und 155, neuzeitliche Bleistiftfoliierung mit arab. Ziffern rechts oben, Halbblätter mit Ergänzungen zwischen 10v-11r und 48v-49r ∙ Schrift: 7×5 cm Schriftraum, einspaltig, auf leeren Seiten z.T. Liniierung erkennbar, Bastarda in versch. Varianten, teilweise Kursiva, gotische Choralnotation auf 2 – 4 schwarzen oder roten Notenlinien, 7 Hd., rubrizierte Lombarden am Liedanfang, rubriziertes versus am Strophenanfang, teilweise rot unterstrichene o. durch Rubrizierung hervorgehobene Worte, rubrizierte Hinweise zur Gattung/Kontrafaktur: carmen, hymnus, repetitio, sub nota…, teilw. Ergänzungen vergessener Worte außerhalb des Schriftraumes, teilw. Aussparungen für Lombarden/Rubrizierung (82v-87r, 97v-101v, 110v-127v, etc.) o. für Notenlinien (37r, 92v, etc.), teilw. Notenlinien ohne Noten (22, 92r, 94v, etc.), Federproben (6v, 127v, 136v), leere Seiten (3v-6r, 74v-77r, 87v-90v, etc.) ∙ Einband: schmuckloser Pergament-Couperteinband mit Messingschließe, restauriert

Datierung/Provenienz: 129r-134v der Schrift nach ältester Bestandteil um 1500 (Wilbrink S.56), jüngste Einträge (Federproben + Besitzvermerk) nach 1524 (Bolte), Verbleib unklar, seit 1863 im Besitz der Königlich-Preussischen Bibliothek

Inhalt: 82 geistliche oder mit geistlichen Inhalten versetzte weltliche Lieder in lateinischer und/oder niederrheinischer Sprache aus dem Repertoire der Devotio Moderna, davon 24 mit Melodie, ein- bis zweistimmig, großenteils Kontrafakte, Besitzvermerke:

  • 1r – Dit boek hoert toe anna van collen der et fynt eer et verloeren w(ort) der serft ouc wall eer hey kranck wort
  • 128v – tringen van kleif da ijs myn allerliefte vriundijn myeste van lyf tringen […] bi uch dat bedrft mych
  • 137v – dit hurt tzo anna van kollen der et fynt der geff

Literatur: M.J. Pohl [Hrsg.]: Thomae Hemerken a Kempis opera omnia IV, Freiburg i.Br. 1918, S. 490f. ∙ G.G. Wilbrink (Sr. Marie Josepha): Das Geistliche Lied der Devotio Moderna. Ein Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen, Nijmegen 1930, S. 14, 56-58, 61, 215f. ∙ H. Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preussischen Staatsbibliothek. III. Die Handschriften in Oktavformat und Register zu Band I-III., Leipzig 1932, S. 95 ∙ W. Salmen, J. Koepp: Liederbuch der Anna von Köln (um 1500), Düsseldorf 1954 [Denkmähler reihnischer Musik Bd. 4] ∙ Reaney, Répertoire international des sources musicales, Bd. IV 4: Handschriften mit mehrstimmiger Musik des 14., 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von K.v. Fischer, München/Duisburg 1972 ∙ M. de Bruin und J. Oosterman, Repertorium van het Nederlandse lied tot 1600, Gent/Amsterdam 2001, H026 ∙ U. Bodemann-Kornhaas: Die kleineren Werke des Thomas von Kempen. Eine Liste der handschriftlichen Überlieferung, in: Ons Geestelijk Erf 76 (2002), S. 149 ∙ Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw: Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 118f. ∙ A.-D. Harzer, In dulci iubilo. Fassungen und Rerzerptionsgeschichte des Liedes vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Tübingen 2006 [Mainzer Hymnologische Studien 17], S. 31f., 69 ∙ H. Tervooren : Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006, S. 167, 171

Literatur

Hier erscheinen die für diese Arbeit verwendeten Quellen.

  • U. Hascher-Burger: Musica Devota. Centrum für Musik der Devotio Moderna, www.musicadevota.nl, 2002-2006; und hier besonders: /berlin%20280.htm und /Inc.berlin%20280.htm
  • U. Hascher-Burger: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna, (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden und Boston 2002 [Studies in the History of Christian Thought 106]
  • G.G. Wilbrink (Sr. Marie Josepha): Das Geistliche Lied der Devotio Moderna. Ein Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen, Nijmegen 1930
  • W. Salmen, J. Koepp: Liederbuch der Anna von Köln (um 1500), Düsseldorf 1954 [Denkmähler reihnischer Musik Bd. 4]
  • H. Tervooren : Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006
  • P. J. Becker und E. Overgaauw: Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003
  • Karl Egger [u.a.]: Studien zur Devotio Moderna, Bonn 1988

Sept. 2007
__________

  1. In älteren Publikationen (Wilbrink 1930, Salmen 1954) findet sich die Schreibweise Groote, während jüngere Publikationen (Hascher-Burger 2002) die Schreibweise Grote wählen, der ich mich hier anschließe.
  2. Das Werk wird dem Mystiker und Augustiner-Mänch Thomas a Kempis (~1380 – 1471) zugeschrieben. Seine Urheberschaft ist aber noch immer umstritten. (Hascher-Burger 2002, S. 117)
  3. Florens Radewijns (gest. 1400) wurde daraufhin erster Rektor des Fraterhauses in Deventer.
  4. Tervooren 2006, S. 167
  5. Salmen/Koepp 1954, S. 3
  6. Tervooren 2006, S. 167
  7. Salmen/Koepp 1954, S. 4
  8. ebd.
  9. Tervooren 2006, S. 167
  10. Wilbrink 1930, S. 61
  11. ebd.
  12. ebd.
  13. ebd.
  14. Tervooren 2006, S. 171
  15. Hascher-Burger 2002, S. 34
  16. Tervooren 2006, S. 168
  17. Salmen/Koepp 1954, S.5
  18. ebd.
  19. Wilbrink 1930, S. 215
  20. Stadtsbibliothek zu Trier Hs. 2504 oct.
  21. Wilbrink 1930, S.61
  22. Salmen/Koepp 1954, S. 5
  23. In den Niederlanden wurden bei den Ligaturen Mischformen aus deutschen und französischen Neumen verwendet. (mehr dazu bei Hascher-Burger 2002) Mischformen sind mir bei meiner flüchtigen Betrachtung nicht aufgefallen. Ich halte sie aber dennoch nicht für ausgeschlossen.
  24. Tervooren 2006, S. 171
  25. Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113
  26. Hascher-Burger 2002

Seminararbeit: Das Liedgut des Jehannot de Lescurel

Montag, 14. Mai 2007

Das Liedgut des Jehannot de Lescurel. Zum musikalischen Anhang von Ms. F-Pn fr. 146 („Roman de Fauvel“), Freie Universität Berlin, WS 03/04
[Referat zum Proseminar „Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Überlieferungssituation und biographische Thesen

Der Dichter und Komponist Jehannot de Lescurel ist und lediglich aus einer einzigen Handschrift namentlich bekannt, aus dem Manuskript des Roman de Fauvel (Gervais du Bus), welches unter dem Einfluss Chaillou de Pestains mit musikalischen Interpolationen versehen und zusammengestellt wurde. Darin findet sich sein Name zwei Mal: Zum einen ist er als Verfasser der Balladen, Rondeaux und Dits entez (sus Refroiz de Rondeau) im Index aufgeführt, zum anderen findet sich in einem der Liedtexte ein Akrostichon, das „Dame, Jehann de Lescurel vous salue“ (Nr. 29), lautet.

Die Lieder Jehannots sind nicht, wie die anderen Musikstücke, in den Roman integriert, sondern befinden sich im Anhang zischen einem Dit des Geoffrey de Paris und einer anonymen, französischen Verschronik, die man ebenfalls Geoffrey zuschreibt. Die Stücke sind fast ausschließlich einstimmig. Eine einzige Ausnahme, das dreistimmige Rondeau, „A vous douce debonnaire“, werden wir uns nachher gemeinsam näher ansehen. Sowohl Liedkorpus als auch Index führen nach Alphabet und Genre geordnete Werke bis zum Buchstaben „G“ auf. Diese Anordnung und der Abbruch bei „G“ legen die Vermutung nahe, dass das Gesamtwerk Jehannots weitaus umfangreicher gewesen sein dürfte. Es sind uns immerhin 21 Balladen, elf Rondeaux (davon eines doppelt) und zwei Dits überliefert.

Zu zahlreichen, zum Teil wie phantastische Heldenmärchen anmutenden Spekulationen über Jehannots Herkunft und Biographie regten die Musikforschung zwei Pariser Chroniken an. Diese berichten von der Hinrichtung einiger Kleriker im Jahre 1303, die wegen sexueller Vergehen an Nonnen gehängt wurden, unter ihnen ein gewisser Jehan de L’Escurel. Eine Urkunde der Cathédrale Notre-Dame de Paris aus dem Jahre 1304 berichtet weiterhin, dass das Vermögen dieses Jehan an dieselbige Kirche übergegangen ist, was auf eine Verbindung zwischen dem Kleriker Jehan und Notre Dame de Paris hinweist.

Diese Dokumente und der Fakt, dass der Dichter Jehannot aufgrund der Datierung des Fauvel-Manuskripts und sprachlicher, sowie inhaltlicher Aspekte der Liedtexte im Paris um die Jahrhundertwende lokalisiert werden kann, gaben Anlass dazu, den Dichter Jehannot mit dem erhängten Kleriker Jehan gleichzusetzen. Als Vater nahm man den vermögenden Grundbesitzer Pierre a L’Escurel, als Mutter Aalis à L’Escurel an, die vermutlich als Buchhändlerin tätig war. Beide Namen tauchen in verschiedenen Pariser Steuerrollen der Jahre 1296-1300 auf, müssen aber nicht unweigerlich familiär verbunden sein, geschweige denn mit dem Kleriker in Verbindung stehen. Der Name L’Escurel war anscheinend durchaus nicht einzigartig in Paris.

Ein Aspekt, der laut Vorwort der Lescurel Gesamtausgabe CMM30 (N. Wilkins) für die Identität von Dichter und Kleriker spräche, sei das Material des Manuskripts Montpellier H. 196, das musikalisches Material der Cathédrale Notre-Dame aus dem 13. Jh. aufführt. Jehannots Stil tauche dort in einigen Motetten auf, die Werke selbst sind jedoch anonym überliefert.

Fakt ist leider, dass es bisher keine sicheren Zeugnisse gibt, die Rückschlüsse auf die Identität des Dichters Jehannot de Lescurel zulassen, dessen Werke uns in Ms. F-Pn fr. 146 überliefert sind. Alle Hinweise bleiben bisher rein spekulativ.

2. Balladen und Rondeaux
2.1 Jehannot und die formes fixes

Mit dem Werk des Dichters und Komponisten Guillaume de Machaut, der von ~1300 bis 1377 in Frankreich lebte, wird im Bereich der Liedkunst die Entwicklung von Ballade, Virelai und Rondeau zu gattungsspezifischen, festen Liedformen, den so genannten formes fixes weitestgehend abgeschlossen. Die Lieder Jehannots bezeugen einen dieser Endphase vorangehenden Entwicklungsstand.

Im gesamten Liedœuvre des Roman de Fauvel, so auch bei Jehannot, wird nur zwischen Rondeaux einerseits und Balladen andererseits unterschieden. Der zweite Typus enthält dabei sowohl Stücke mit der Struktur der barförmigen Ballade mit Endrefrain, als auch der späteren chansons balladés, genannt Virelai.

Die Ursprünge der beiden Gattungen sind unklar, doch sowohl das altfranzösische Wort „Rondeau“, als auch das provenzalische „Ballade“ findet sich seit Mitte des 12. Jh. in literarischen Quellen belegt. Der Gebrauch der Begriffe deutet zunehmend eine literarische Emanzipation der Formen an. Mit ihnen verbinden sich bald Anspruch und Wert einer qualitativ verfeinerten, poetischen Sprache. So hebt die Schöpfung von Balladen bspw. laut König Alfons X. von Kastilien den Trobador bereits 1275 über den gewöhnlichen Spielmann hinaus.

Während das Rondeau als Begleitlied eines Rundtanzes (carole) relativ schnell zu einer feststehenden Form findet, ist dieser Prozess im Falle der Ballade weniger distinkt. Ihre Formen sind zunächst mannigfaltig. Neben Tanzliedern mit refrainartig-exklamatorischen Einwürfen, stehen Strophen mit festen Refrains oder Voltas (in Metrik, Reim und Musik identisch), bis sich irgendwann eine Art Grundform herausbildet, mit Refrain (R), Stollen (A), Gegenstollen (A‘), Strophenabschluss (B) und Refrain (R), wobei der Refrain selbst und der zu ihm zurückführende Strophenabschluss äußerst variabel bleiben (R AA’B R).

Den meisten Balladen Jehannots, sowie der Ballade „Ay amours“ aus dem Roman de Fauvel fehlt ein Refrain am Anfang des Liedes. Erst am Schluss wird ein solcher aufgeführt. Dieser ist jedoch so gestaltet, dass sich der erste Vers melodisch an den Refrain anschließen könnte, stünde dieser davor. Die Strophe selbst ist jedoch wie schon bei Guillaume li Vinier und Adam de la Halle barförmig (AAB) aufgebaut. Dieser Balladentypus wird später die Grundlage für die Ballades Guillaume de Machauts bilden.

Der andere unter dem Begriff Ballade bei Jehannot vertretene Typus, unterscheidet sich von dem erstgenannten dahingehend, dass sowohl am Anfang, als auch am Ende des jeweiligen Stückes ein Refrain auftritt, während der Strophenabschluss eine Volta darstellt, d.h. eine Versperiode, die in Metrik Reim und Musik mit dem Refrain identisch ist und nicht nur, wie in der barförmigen Ballade, auf diesen zurückführt. (A bb’a A) Diesem Typus entspricht die italienische Ballata und der sich später bei Machaut etablierende chanson balladé, genannt Virelai.

Während Virelai und Ballade auch im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts eher zur Einstimmigkeit tendieren, wird für das Rondeau die Mehrstimmigkeit bald zur Regel. Bereits im Liedkorpus Jehannots ist ein erstes, mehrstimmiges Rondeau aufgeführt, bei welchem die Melodien in einem Note-gegen-Note-Satz melismatisch zusammentreten. Dazu nun ein wenig mehr.

2.2 Analyse des Rondeaus „A vous douce debonnaire“

[audio:lescurel-w1.mp3]

Abb. 1: Noten (transkribiert + diplomatisch) [JPG]

Kommen wir nun zur Analyse des 3-stimmigen Rondels „A vous douce debonnaire“, die ich mit euch gemeinsam machen möchte. Da wir es hier nicht mit einer Motette zu tun haben (alle drei Stimmen singen denselben Text), können wir uns nicht, wie wir es aus den vorangegangenen Seminaren gewohnt sind, am Tenor des Stückes entlanghangeln. Wie ich jedoch bereits erwähnte, sind die Liedformen des frühen 14. Jahrhunderts literarisch emanzipierte Formen, d.h. die formale Struktur der Lieder sollte bereits in den Texten erkenntlich sein. Daher bitte ich euch zunächst, 5 Minuten selbstständig den Text zu beschauen. Die Gliederung dürfte in den Silbenzahlen, Reimen und Versparallelen deutlich werden.

A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.

Vo vair euil mi font atraire
a vous, dame debonnaire:
Ne ja ne m’en quier retraire   
   ains vous serviré
   tant com[me] vivré.
A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.
A: 1 7_a
B: 2 5b
B: 3 5b
a: 4 7_a
A: 5 7_a
a: 6 7_a
b: 7 5b
b: 8 5b
A: 9 7_a
B: 10 5b
B: 11 5b

Wir sehen also, dass es sich eindeutig um eine uns schon von Machaut bekannte Liedform, das Rondeau (AB aA ab AB) handelt, bei der am Anfang und am Ende des Stückes ein Refrain auftreten, dessen erster Teil am Ende der ersten Strophe wiederholt wird. Betrachten wir uns nun gemeinsam, wie sich die Musik auf diesen Text verteilt:

  • Was erklingt auf den ersten Vers?

Auf den ersten Vers verteilt sich die Musik der ersten 10 Takte (30 Brevis). Dabei ist die Vertonung melismatisch und die Melismen durchziehen den ganzen Text. Auf der 4. Silbe kommt es zu einer Kadenz auf E/G (T.5/15B). Ebenso kommt es auf der 8. Silbe (7_) zu einer Kadenz auf C/E (T.10/30B), mit der der erste Vers endet. Der Satz schreitet weitestgehend simultan (Note-gegen-Note) voran.

  • Was erklingt auf den zweiten und dritten Vers?

Auf den zweiten Vers verteilt sich die Musik der Takte 11-14 (12 Brevis). Die Vertonung ist am Anfang des Verses (T.11-12) weniger melismatisch als am Schluß, der Satz noch immer simultan. Der Vers endet auf der Kadenz A/F. Auf den dritten Vers verteilt sich die Musik der Takte 15-20 (18 Brevis). Die Melismen sind wieder über den ganzen Vers verteilt, der Satz bleibt simultan und endet auf F/C.

Mit Noten versehen ist also nur der Refrain, doch die Textur der übrigen Verse verrät uns, dass sie auf dieselben Melodien gesungen werden. Es kommt also zur Abfolge: ABaAabAB, wobei im B-Teil die zwei kurzen Verse zusammengefasst sind.

Beide Teile weisen ein binär-harmonisches Verhältnis auf, so umfasst die Musik des A- und des B-Teils jeweils 30 Brevis (10 Takte). Jeder Teil hat zwei Kadenzen, die eine Länge von 2×15, 12 und 18 Brevis haben und denen jeweils eine Brevis Pause als Gliederungselement nachfolgt. Darüber hinaus bleibt das Stück pausenlos. Die Schlusskadenz ist identisch mit der Initialis und einzige perfekte Konsonanz (1-5-8). Alle übrigen Kadenzen und Initialis-Klänge sind imperfekte Konsonanzen (1-3-8). Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn man sich die Fundamenttöne des Stückes in einem Schema betrachtet.

Abb. 2: Fundamenttöne [jpg]

An diesem Schema wird neben den Kadenzen auch der Stimmverlauf sehr deutlich. So ist bspw. zu bemerken, dass Tenor und Cantus sich kreuzen, während das Triplum immer über diesen beiden Stimmen schwebt. Ebenfalls deutlich werden die extremen Sprünge des Tenors, die nur durch die melismatischen Verziehrungen der Melodie kaschiert werden. Es wäre daher plausibel, wenn diese Stimme von einem Instrument gespielt würde. Der Cantus bleibt in jedem Falle textierte Stimme, denn dieser ist uns als drittes Werk in Jehannots Liedkorpus als Einzelstimme überliefert. Dies zeigt auch, dass der Cantus die bedeutungstragende Stimme des Rondeaus ist, um die sich Triplum und Tenor gruppieren.

An unserem Fundamentton-Schema ist aber noch eine sehr interessante Auffälligkeit zu erkennen. Diese betrifft den ersten Teil des B-Teils, jenen, den wir schon vorhin als weniger melismatisch entlarvt haben. Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass Triplum und Tenor sich an dieser Stelle spiegeln. In den Takten 11-12 reicht diese Spiegelung bis in die Semibrevisgruppe hinein. Doch nicht nur das, auch die Fundamenttöne des Cantus spiegeln mit denen des Tenors, während sich beide Stimmen dabei sogar überkreuzen. Der Cantus erhebt sich hier über den Tenor. Dies und die Raffung der Passage bewirken an dieser Stelle eine unglaubliche, innere Spannung.

Es ist eigenartig, dass dieser Teil nur 12 Brevis hat, wo er doch ebenso viele Silben zählt, wie der darauffolgende. Eine Teilung in 2×15 Brevis wäre auch hier möglich gewesen und hätte damit sogar eine Symmetrie mit dem A-Teil aufgewiesen. Doch Jehannot entschied sich anders und er tat dies vermutlich aus poetischen Gründen.

Wenn wir uns an Christopher Pages Urteil zu dem anonymen Rondeau „Las, que me demanderoye“ erinnern, so bemängelte er daran, die starke Geste des A-Teils, die sich in ihrer formell bedingten, ständigen Wiederholung irgendwann selbst erbricht. Jehannot setzt die große Geste zu Beginn des B-Teils und erzielt damit nach der dreimaligen Wiederholung des A-Teils beim erneuten Einsetzen des B-Teils einen Effekt von geradezu überragender Wirkung.

2. 3 Zur musikwissenschaftlichen Bedeutung Jehannots

Das Œuvre Jehannots stellt in jedem Falle ein wichtiges Zeugnis für die vielschichtige Umbruchszeit zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit und zwischen schriftloser und schiftgebundener Praxis in der Musik um 1300 dar. Die Entwicklung der monodischen Gattungen wird daran ebenso deutlich, wie die Entwicklung neuer Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Jehannot sagt sich in seinen Liedern von dem engen Korsett modaler Schemata los und durchbricht darüber hinaus sogar deren ternäre Rhythmen. Durch die Vorteile der Mensuralnotation können nun erstmals auch kleinteilige Verziehrungen unterhalb der dreigeteilten Brevis notiert werden. Diese finden sich z.B. als Melismen über den ganzen Text verteilt, was die Lieder weitaus cantabler macht, als die älteren Conductus, die nur am Anfang und am Ende Melismen aufweisen. Kleine Notenwerte finden sich aber auch innerhalb schnell deklamierter, syllabischer Passagen. Eine Technik, die Jehannot von Petrus de Cruce übernimmt und hier zum ersten Mal auf die Monodie anwendet.

Mit seinem dreistimmigen Rondeau dürfte uns zudem wohl einer der frühsten, mehrstimmigen Liedsätze überliefert sein. Die hohe Qualität und die Kohärenz der Komposition lassen vermuten, dass Jehannot bereits gute Erfahrungen auf dem Gebiet der Mehrstimmigkeit hatte. Seinen Innovationsstatus beweist auch die Etablierung der zwei neuen Balladentypen. Sowohl die barförmige Ballade mit Endrefrain, als auch das Virelai begegnen uns als musikalisch-dichterische Formen bei Jehannot zum ersten Mal.

Sollte sich die zweifelhafte These der Identität von Dichter und Kleriker jemals bestätigen, wären diese zahlreichen Neuerungen bereits in der Zeit um Ende des 13. Jahrhunderts anzusiedeln. Also noch bevor sie im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts durch Philippe de Vitry und Johannes de Muris im Sinne einer „Ars Nova“ ausformuliert und etabliert werden.

Doch auch wenn sich dieser Verdacht nicht erhärten lässt und die Lieder also erst in den 1310er Jahren entstanden sein sollten, so dürfte Jehannot dennoch unter die frühen Wegbereiter der so genannten „Ars Nova“ gezählt werden.

3. Notation & Fragen zu Metrik und Rhythmik

Die frankonische Notation kennt grundlegend vier Notenwerte (Maxima, Longa, Brevis und Semibrevis) und drei Mensurverhältnisse (Maximodus, Modus und Tempus). Aus der Theorie wissen wir, dass eine Brevis den Teilwert von zwei oder drei Semibrevis haben kann. Die kürzeste Note, die demnach möglich wäre, wäre also eine Semibrevis im Tempus perfectum.

In der modifizierten Notation des Fauvel-Manuskripts, also auch in Jehannots Rondeau W1, finden sich Gruppen mit 2, 3 und sogar 4 Semibrevis, die insgesamt den Wert einer Brevis haben. Dies zeigt, dass es hier einen Notenwert geben muß, der kürzer ist, als der 3. Teil einer Brevis im Tempus perfectum. In der Theorie der „Ars Nova“ entspräche dieser Wert einer Minima. Ihr Notenzeichen existiert zu Jehannots Zeiten jedoch noch nicht, weshalb ihr Wert nicht eindeutig notiert werden kann.

Im Nachhinein bleibt fraglich, ob dennoch schon ein Verständnis für die Prolatio, also das Verhältnis zwischen Semibrevis und Minima, existierte oder nicht. Diese Leerstelle muß unweigerlich zu einem Transkriptionsproblem führen. Schauen wir uns an, wie Friedrich Gennrich, Nigel Wilkins und Elisabeth Aubrey es zu lösen versuchten.

Abb. 3: Transkriptionen: Gennrich, Wilkins, Aubrey [JPG]

Alle drei gehen davon aus, dass es sich im Falle von W1 um ein Tempus imperfectum handelt. Vermutlich lehnen sie sich mit dieser Entscheidung an eine Äußerung Philippe de Vitrys, der über die Motette „Adesto – Alleluia Benedictus“, die sich ebenfalls im Fauvel-Manuskript findet und ebenfalls solche Semibrevisgruppen aufweist, sagt, dass ihr Tempus imperfekt wäre. Darüber hinaus treten Gruppen mit zwei Semibrevis weit häufiger auf, als solche mit dreien. Dagegen spräche jedoch, dass in der „Ars Antiqua“ imperfekte Tempora eher selten waren. Letztlich kann das Tempus in W1 nicht zweifelsfrei bestimmt werden, da Semibrevis nie einzeln, sondern immer nur in Gruppen auftreten.

Was nun die Prolation betrifft, bewegen wir uns auf noch glatterem Eis. Während Gennrich eine imperfekte Prolation annimmt, übersetzt Aubrey eine perfekte. Wilkins nimmt hingegen für die Dreiergruppen imperfekte, für die Vierergruppen aber perfekte Prolation an, was inkonsequent erscheint.

Völlig unklar bleibt aber so oder so, inwiefern hier Alterations- und Diminutionsregeln auf die Prolation anwendbar sind. Gennrich alteriert in der Dreiergruppe, wohl von der Cauda verleitet, die erste Semibrevis, lässt aber in den Zweier- und Vierergruppen die Caudas unbeachtet. Wilkins und Aubrey beachten die Caudas in den Dreier- und Vierergruppen, nicht aber in den Zweiergruppen.

Ein sachkundiger Blick in das Manuskript zeigt aber, dass die Caudas mit zaghafter und von der Haupthand verschiedener Hand eingefügt wurden. Willi Apel betrachtet sie nicht als original. Dies würde bedeuten, dass sich unter Beachtung der frankonischen Diminutions- und Alterationsregeln andere Figuren für die Prolatio ergeben müssten. Probieren wir das mal selbst aus.

Abb. 4: Versuche zur Übertragung [JPG]

Bei all diesen Versuchen sind wir nun immer davon ausgegangen, dass es zu der Zeit bereits ein Verständnis für die Prolation gab, so dass also auch Diminutions- und Alterationsregeln auf die angewandt werden können. In den theoretischen Quellen wird darüber jedoch nichts berichtet und es ist durchaus anzunehmen, dass es ein solches Verständnis nicht gab. Zumal Stücke überliefert sind, in denen solche Semibrevisgruppen syllabisch vertont wurden. Dass es aber aufführungstechnisch möglich gewesen sein soll, in solchen Fällen Differenzierungen im Bereich von „16tel-Triolen“ zu singen, erscheint aus rein praktischen Gründen zweifelhaft. Wahrscheinlicher wäre, dass die Semibrevisgruppen in solchen Fällen einer unabhängig von einem Prolationsverständnis als undifferenzierte Teilwerte der Brevis verstanden wurden, ähnlich wie man es sich bei den Stücken Petrus‘ de Cruce vorstellen kann.

WS 03/04