Interpretation: L’Albatros ~ Charles Baudelaire

Sonntag, 27. August 2006

[M]Eine Interpretation

Diese kurze und klassische Interpretation ist als Ergänzung zu meinem Arbeitsblatt-Artikel „Symbolismus“ gedacht. Sie soll einige Merkmale des Stils aufzeigen, wenngleich sich in einem einzelnen Text nicht alles finden lassen wird, was ich in meinem Artikel beschrieb. Aber es lassen sich dennoch gewisse Tendenzen erkennen.

Das Gedicht „L’Albatros“ des Urvaters des Symbolismus, Charles Baudelaire, wurde 1859 erstveröffentlicht und etwas später, 1861, in den Gedichtband Les Fleurs du Mal, das Lebenswerk des Autors integriert. Innerhalb des Gesamtwerkes ist „L’Albatros“ das dritte Gedicht und in seinem Kapitel Spleen et Idéal das zweite. Da der Gedichtband einem durchkomponierten Konzept folgt, ist die Stellung der Gedichte zueinander und deren Unterteilung in Kapitel von großer Bedeutung für die Einzeltexte. Doch auf diese große Bedeutung der Intertextualität der Fleurs werde ich in diesem Rahmen nicht speziell eingehen können.

Formell handelt es sich bei dem Gedicht um einen klar strukturierten Text mit vier Strophen à vier Versen. Die Versstruktur folgt dem französischen Alexandriner, einem 12-hebigen Iambus. Das Reimschema folgt dem Kreuzreim mit abwechselnd betonten und unbetonten Kadenzen. An dieser klassischen und strengen Form erkennt man deutlich das symbolistische Streben nach Formvollendung und Harmnonie innerhalb der poésie pure.

Der Titel, „L’Albatros“, ist demonstrativ und kündigt seine symbolische Hauptfigur, einen majestätisch großen Seevogel, an.

S1:
Die erste Strophe führt uns zunächst in eine Szene des Marinealltags. Matrosen, über Meerestiefen gleitend, fangen sich zum Spaß Albatrosse, die ihr Schiff träge und antriebslos begleiten. Assoziative Wörter wie pour s’amuser (zum Spaß), vaste oiseaux (große Vögel), indolents compagnons (träge, antriebslose Begleiter), de voyage (der Reise), gouffres amers (Meerestiefen) suggerieren dem Leser hier bereits, eine metaphorische Bedeutung der Signifikanten, eine tieferliegende Sinngebung des Gesagten zu vermuten.

S2:
Dieses Bild wird in der zweiten Strophe ausgebaut. Die Matrosen werden zu Schaulustigen, die sich an der Ungeschicktheit der vom Himmel geholten Vögel ergötzen. Der Albatros wird in seiner Divergenz dargestellt. Im Flug, am Himmel ist der weiße Vogel mit seinen weiten Schwingen majestätisch und schön. Nun, da er auf den Boden gezwungen ist, behindern ihn die weiten Schwingen in seinem Gang. Er wirkt komisch, so daß er den Matrosen zur Belustigung gereicht.

S3:
In der ursprünglichen Fassung des Gedichtes fehlte die dritte Strophe. Als es in die Fleurs eingefügt wurde, wurde sie ergänzt. Das dargestellte Szenario wird (einzige Strophe mit holperndem Sprachrfluß) zu einem Bild sadistischer Tiefe ausgebaut. Die Verse eins und zwei bedienen ein Spiel mit den Gegensätzen (Antithesen). Mit Wörtern wie „gauche et veule“, „beau“ oder „comique et laid“ erfährt der Zwiespalt des Vogels eine eindeutige Wertung. Auf der einen Seite ist er schön, wenn er in der Luft fliegt, auf der anderen Seite ist er häßlich und lächerlich, wenn er am Boden gehen muß. Die Qual am Boden wird dem Vogel noch durch die sadistische Schaulustigkeit der Matrosen erschwert, die ihn reizen und nachäffen, sich also an seinem Leid erfreuen.

S4:
Die vierte Strophe, besonders der erste Vers, ist der Schlüssel zur tieferen Bedeutungsebene: Der Dichter gleicht dem Albatros. In den Höhen seiner Geistigkeit fühlt er sich überlegen und narrt die, die ihn anvisieren. Wird er jedoch aus seinem Element auf den Boden (vielleicht in die Kreise gesellschaftlicher Konventionen) geholt, macht man sich über ihn lustig, denn er kann sich dort nicht angemessen bewegen, kann dort nur komisch existieren.

In diesem Gedicht geht es also, wie in so vielen symbolistischen Texten, um die Diskrepanz der menschlichen Seele. Es wird nicht nur die Gegensätzlichkeit des Dichters, sondern auch der Sadismus der anderen Masse aufgezeigt. Darüber hinaus wird durch den Vergleich mit dem Albatros und die Bewertung seiner Situation eine Ambivalenz zwischen Bedauern und Beschimpfen aufgebaut.
Der Albatros ist träger und antriebsloser Begleiter des Schiffes. Er müßte die Qual des Gefangen-Seins nicht erdulden, könnte davon fliegen, tut es aber nicht. Vielmehr gefällt sich der Dichter in diesem Widerspruch aus Qual und Freude und stellt so seinen eigenen Masochismus zur Schau.

Die Bedeutungsebenen des Dichters, des Albatroses und der Matrosen fließen ineinander, es findet ein ständiger Rollentausch statt. Mehrere Bewußtseinsebenen werden verflochten, der Quäler wird zum Gequälten und wird in seinem Masochismus wieder zum Quäler. Der Dichter wird in seiner Menschlichkeit, nicht mehr als Genie auf dem Elfenbeinturm, sondern als mit den Eindrücken kämpfender, sich ständig selbstreflektierender Mensch gezeigt, der selbst in seiner Animalisierung noch Ästhetik sieht.

Insgesamt haben wir es also mit einem sehr repräsentativen Text zu tun, der nicht umsonst an dritter Stelle der Fleurs und an zweiter innerhalb des Kapitels Spleen et Idéal steht.
Beitrag bearbeiten/löschen

Symbolismus

Sonntag, 27. August 2006

SYMBOLISMUS (ca. 1870 – 1900)

kulturhistorische Hintergründe

Der Symbolismus ist eine literarisch-geistige Strömung die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend seit 1890 in ganz Europa verbreitete. Die relativ homogene Gruppe der Symbolisten wandte sich gegen die vorherrschende Wissenschaftsgläubigkeit (Sientismus), den flachen Fortschrittsoptimismus und den positivistischen Empirismus der bürgerlichen Welt, die besonders durch den Erfolg der Pariser Weltausstellung (1889) etabliert worden waren. In deutlicher Abkehr von der objektiven Wirklichkeitswiedergabe des Naturalismus und Realismus und der Beschreibungslyrik der Parnasse durchbrachen sie mit ihren Prinzipien die normativen Traditionen der Académie française und wurden so zu Wegbereitern der literarisch-künstlerischen Moderne. Sie setzten sich gegen die Zweck- und Anlaßgebundenheit und die Funktionsbestimmung von Kunst zu Wehr (L’art pour l’art) und lehnten sich im Versuch der Poetisierung einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt gegen alle Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft und deren Moral auf.

Inhalte/Ziele

Die Gemeinsamkeiten der Vertreter des Symbolismus liegen eher auf thematisch-geistiger Ebene, eher im Lebensgefühl als auf stilistischen Merkmalen. Die Poeten zielten in erster Linie auf die Erneuerung der Lyrik (im Gegensatz zum realistischen Roman), deren Hauptwerte auf kunstvoller Form, Klang und Wortmagie lagen. In ihrer Abkehr von der realistischen Beschreibung des Objekts und ihrem Streben nach einer perfekt schönen Dichtersprache (poésie pure) bevorzugen sie das Schaffen von Kunst aus der Erinnerung, der Vorstellungskraft. Hinter den Dingen, Erscheinungen, Wortfassaden und Sprachgesten sollen tiefere, verborgenere Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität erschlossen werden. Dies gipfelt in dem Versuch, Hintergründiges, Irrationales und Geheimnisvolles vernehmbar zu machen; so ist das Irdische nur Symbol für die jenseitige, eigentliche Welt. Das künstlerische Ideal des Symbolismus strebt eine weitestgehende Autonomie der Symbole an, deren Betonung im bewußten Abstand der Sprachzeichen zu deren konventioneller Bedeutung liegt. Dies führt zur Problematisierung der im unpoetischen Sprachraum vorherrschenden Eindeutigkeit der Sprache und eröffnet dem Leser einen neuen, breiteren Deutungsspielraum, der z.T. in einer tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt.

Themen/Bilder/Ästhetik

Die Lyrik des Symbolismus thematisiert vorallem die Diskrepanzen der menschlichen Seele, ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung; dies äußerst sich z.B. in der Darstellung diverser Dualismen: Aufschwung und Verzweiflung, Reinheit und Schmutz, Genuß und Ekel, Spleen und Ideal, etc. In ihrer Symbolhaftigkeit und Musikalität wendet sich die lyrische Sprache an die suggestive Aufnahmefähigkeit des subjektiven Menschen. Traum- und Alptraumbilder überlagern sich, Rauscherlebnisse werden ästhetisiert, die Spannbreite der Äußerungen reicht von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit.
Gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, findet der poète maudit durch die Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satansichen“ Charakters den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft okkultgefärbten Ästhetizismus. In einer autonomen Idee des Schönen und nach dem PrinzipL’art pour l’art wird der Dandy zur literarischen Leitfigur. Ihm entgegen steht die femme fatale, die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis. Sie erscheint in zahlreichen Symbolgestalten, als Chimäre, Sphinx oder Salomé.

Künstlerideal

In seinem Essay, „Le peintre de la vie moderne“ (1863), manifestiert Charles Baudelaire das moderne Künstlerideal im Bild des mit den Eindrücken und Erinnerungen fechtenden Dichters. Kunst würde sich aus der Spannung zwischen Ewigem und Vergänglichem speisen. Damit die Reizüberflutung der Moderne (Schockerlebnisse durch Eindrücke, die beim Flanieren durch die Großstadt das Bewußtsein des Menschen treffen) nicht zur Orientierungslosigkeit wird, muß der Dichter am Abend das Erleben von Ewigem und Vergänglichem in einem Kampf mit den Impressionen der Erinnerung reflektieren. Dabei isoliert er das Ewige vom Vergänglichen. Das latent Schöne in allen Dingen wird herausgearbeitet und idealisiert. Im Schaffensprozess werden die Erinnerungen an Erlebtes fixiert und durch die Verdichtung des latent Schönen entsteht wahre (künstliche) Schönheit.

Leitbegriffe

  • l’art pour l’art: Kunst um der Kunst Willen; ästhetisches Prinzip nach dem das Kunstwerk als eigengesetzlich, eigenwertig und frei von allen Bindungen religiöser, ethischer und politischer Art betrachtet wird
  • poète maudit: der verfluchte Poet, dessen Trauer und Unzufriedenheit aus der unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach Ganzheit entsteht; Selbsdefinition der symbolistischen Dichters
  • poésie pure: reine, formvollendete, ästhetisch-schöne und autonome Dichtersprache; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter
  • vers libre: der freie Vers, eine Mischung aus Prosa und Lyrik, dessen Freiheit nicht in seiner Beliebigkeit, sondern in der Umsetzung der poésie pure gesehen wird
  • Dandy: literarische Leitfigur, die dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt
  • femme fatale: die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis des Mannes
  • fin de siècle: Bezeichnung für die Zeit der Jahrhundertwende, in der auch mit der Strömung der Decadence die Ästhetisierung einer Endzeit- und Katastrophenstimmung aufkam; findet ihren theoretischen Ausdruck vorallem in der Formulierung der Krise
  • Autonomie der Symbole: die Symbolhaftigkeit der Sprache geht über die Grenzen der bildhaften Darstellung abstrakter Begriffe und Vorstellungen hinaus und führt zur Mehrdeutigkeit; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter

Stilmerkmale

  • autonome Symbole
  • beinahe fanatische Ausarbeitung der sprachkünstlerischen Mittel: Sprachdichte, Suggestion, Assoziation, Rhythmus, Verflechtung mehrerer Bewußtseinsebenen
  • Auswahl von Wörtern mit assoziativer Klangwirkung
  • sprachkünstlerische Akzentuierung von Rhythmus, Melodie, Satzbau in der poésie pure
  • Ineinanderfließen und Überlagern von Bildern und Metaphern
  • Herstellung von Synästhesien, die auf sprachmagische Weise, durch Lautmalerei, Klangfarbe und Sprachmusik Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren
  • Allegorismus
  • Esotherik
  • Exotismus
  • Erotizismus
  • schwarze Religiosität („Satanismus“)
  • Stilisierung der Weltentrückung durch den Drogenrausch: hauptsächlich Opium, Haschisch und Absinth

Wegbereiter/Vertreter/Anhänger

  • W. Blake [1757 – 1827] (England)
  • E.A. Poe [1809 – 1849] (England)
  • A.C. Swinburne [1837 – 1909] (England)
  • O. Wilde [1854 – 1900] (England)
  • Ch. Baudelaire [1821 – 1867] (Frankreich)
  • S. Mallarmé [1842 – 1898] (Frankreich)
  • P. Verlaine [1844 – 1896] (Frankreich)
  • A. Rimbaud [1854 – 1891] (Frankreich)
  • J. Moréas [1856 – 1910] (Frankreich)
  • E. Verhaeren [1855 – 1916] (Belgien)
  • J.K. Huysmans [1848 – 1907] (Frankreich; Roman)
  • M. Maeterlinck [1862 – 1949] (Belgien; Drama)
  • G. d’Annunzio [1863 – 1938] (Italien)
  • in Dtl. traf der Symbolismus mit der Neuromantik und dem Impressionismus zusammen (u.a. bei E.T.A. Hoffmann)

weiterführende Literatur

  • Jean Moréas „Mannifeste du Symbolisme“ in Le Figaro, 1886
  • R. Delevoy „Der Symbolismus in Wort und Bild“, Skira. Stuttgart 1979
  • B. Delavaille „La poésie symboliste“, Paris. Sehgers 1971
  • A.G. Lehmann „The Symbolist Aesthetic in France. 1885 – 1895“, Basil. Blackwell. Oxford 1950
  • P. Hoffmann „Symbolismus“, Fink. München 1987
  • A. Simonis „Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne“, Niemeyer. Tübingen 2000

Quellen:

  1. M. Naumann (Hrsg.) „Lexikon der französischen Literatur“, VEB Bibliographisches Institut. Leipzig 19871
  2. „Bertelsmann Lexikon. In 15 Bänden“, Band 14. Stick-Venn, Bertelsmann Lexikothek Verlag GMBH. Gütersloh 1991F

__________
Am Gedicht „L’Albatros“ von Charles Baudelaire habe ich eine Beispielinterpretation mit Hauptaugenmerk auf der Herausarbeitung symbolistischer Stilmerkmale gemacht.

Baudelaire. Portrait eines poète maudit

Montag, 24. April 2006

Charles Baudelaire, der am 9. 4. 1821 in Paris geboren wurde, gilt heute als das wahre Sinnbild des poète maudit – das verkannte Genie, das ewig durch die grausame, unschöne Welt ziehen muß, Liebe suchend und Elend findend. Doch der Flaneur Baudelaire hat seine Geburtsstadt selten verlassen. Nachdem er 1836- 39 das Collège Louis- le- Grand besucht hatte, führte er als Dandy ein freies Leben in der Pariser Bohème, wo er u.a. Nerval, Champfleury, Gautier, Dupont, Balzac und seine langjährige Geliebte Jeanne Duval kennenlernte. Obwohl er nie ein festes Metier hatte, arbeitete er gelegentlich als Kunst- und Literaturkritiker, Journalist oder Redakteur. Doch sein Streben nach einer perfekt schönen Dichtungssprache, veranlaßt ihn bald, sich auf das Schreiben von Gedichten zu konzentrieren. In vollendet schönen Versen bringt er nun sein unüberbrückbares Leid und seine Unerfüllten ästhetischen Sehnsüchte in einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt zum Ausdruck. Meist sucht er den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft mystisch und okkult gefärbten Ästhetizismus.

In seinem 1857 erscheinenden Gedichtband „Les Fleures du Mal“, seinem Haupt- und Lebenswerk (an einigen Gedichten arbeitete der Poet über dreißig Jahre), thematisiert Baudelaire die Diskrepanzen der menschlichen Seele. Er verdeutlicht ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung, Reinheit und Schmutz, Aufschwung und Verzweiflung, Genuß und Ekel- eben Spleen und Ideal, wie einer der Auszüge aus dem Band betitelt ist. Da es Baudelaire als seine Aufgabe ansieht, eine zeitlose, absolute und autonome Idee des Schönen in der Poetisierung der Gegenwart zum Erscheinen zu bringen, ist seine poetische Leitfigur der Dandy, der Flaneur, der dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt und gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, durch Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satanischen“ Wesens revoltiert. Deutlich tritt in den „Fleures du Mal“ Baudelaires leidenschaftliche Auflehnung gegen alle Konventionen der trivial- bürgerlichen Gesellschaft, Moral und Religion hervor. So reichen seine Textinhalte von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit. Doch der Poète maudit ist seiner Zeit weit voraus und noch im selben Jahr werden die „Fleures“ wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral gerichtlich angeklagt und einige Gedichte daraus sogar verboten.

Dennoch schafft es Baudelaire, einen Kreis von Dichtern um sich zu scharen, die durch Moreas, der der neuen Strömung ihren Namen gibt, bald als Symbolisten bekannt werden. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, u. a. berufen sich auf das Prinzip L’ Art pour l’ art, welches das Kunstwerk als ein eigengesetzliches und eigenwertiges Gebilde ansieht, das frei von allen Bindungen ist, ob religiöser, ethischer oder politischer Art. Auf die unbedingte Verständlichkeit ihrer Werke kommt es ihnen nicht mehr an. Ihr Hauptwert liegt vielmehr in der kunstvollen Form, der Klang- und der Wortmagie. So nutzen sie Wörter mit assoziativen Klangwirkungen und sprachkünstlerische Akzentuierungen von Rhythmus, Melodie und Satzbau. Durch Klangfarbe, Sprachmusik und Lautmalerei werden geschickt Synästhesien hergestellt, die Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren. Traum- und Albtraumbilder überlagern sich, fließen ineinander und verschmelzen. Angestrebt wird eine weitgehende Autonomie der genutzten Symbole. Diese soll eine Verschlüsselung des Gemeinten bewirken und bietet so nicht nur Spielraum für die Interpretation der Werke, sondern führt sogar bis hin zur tendenziellen Beliebigkeit ihrer Sinngebung. Denn das Ziel der Symbolisten war es, hinter den Erscheinungen, Zuständen, Wortfassaden und Sprachgesten tiefere, verborgene Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität zu erschließen.

Mit seinem 1868 im Postum erschienen Werk „Petits Poèmes en Prose“ ebnet Baudelaire den Weg für den Vers libre. Er berichtet von Rauscherlebnissen in „Les Paradies artificiels. Opium et Haschisch“ und schreibt zahlreiche kunstkritische Aufsätze, wie „La Peintre de la vie moderne“ oder „Curiosité esthétique“. Auf einer Reise durch das ihm verhaßte Belgien kommt es 1866 auf Grund von Konflikten mit Verlegern, Presse und Zensur und durch seinen exzessiven Lebensstil zum gesundheitlichen Zusammenbruch Baudelaires. Am 31. 8. 1867 verstirbt er in Paris und hinterläßt seinen Anhängern eine moderne, zeitgemäße, jedoch zugleich überzeitliche Lyrik.

Nov. 2001
__________

  • Ch. Baudelaire: Les Fleures du Mal, franz./dt. Reclam 1998
  • Die französische Literatur, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1988
  • Lexikon der französischen Literatur, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1987
  • J.P. Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Rowohlt 1997
  • Bertelsmann Discovery, 1997

Claude Debussy ~ 24 Préludes

Samstag, 30. April 2005

Dies ist die zweite der beiden Reden, die ich für meine Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005 vorbereitete. Sie beinhaltet eine Biographie Debussys, eine Werkeinführung in die 24 Préludes und die Analyse Präludiums „Danseuses des Delphes“. Alle drei Teile sind knapp und sollten lediglich die Grundlage für ein sich entwickelndes Prüfungsgespräch zum Thema bilden.

Claude Debussy (1862 – 1918)

Claude Achille Debussy wurde im August 1862 im Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie geboren. Weder Vater, noch Mutter hatten musikalische Prägung, doch 1870 erhielt Debussy ersten Klavierunterricht von seiner Tante in Cannes. 1871 übernahm Antoinette Mauté die pianistische Ausbildung des Knaben, so dass er 1872 die Aufnahmeprüfung am Konservatorium schaffte.

In den Klassen von Marmontel (Klavier) und Lavignac (Solfège) machte er, trotzdem er der akademischen Institution gegenüber stets abgeneigt war, zunächst gute Fortschritte. Doch Misserfolge ließen ihn schon 1878 die pianistische Laufbahn anstelle eines aufgeben, um Komposition zu studieren. Dies tat er ab 1880 bei Guiraud und als Gsthörer bei César Franck. Für die Kantate „L’enfant prodigue“ erhielt er 1884 den Rom-Preis.

Die folgenden Jahre verbrachte er gemäß den Pflichten des Preisträgers überwiegend in der Villa Medici in Rom. Dort las er Shakespeare und Poe und lernte unter anderem Franz Liszt kennen, mit dem er Wagner und die alten Meister, Lassus und Palestrina studierte.

Die auf den Romaufenthalt folgenden Jahre nennt Lesure in seiner 1992er Monographie „les années symbolistes“ und in der Tat – zurück in Paris wurde die Gruppe der Symbolisten zu einem wichtigen Bezugspunkt für den jungen Komponisten. In den Pariser Cafés (z.B. dem berühmten Chat Noir) lernte er Jean Moréas, den Verfasser des „Mannifeste du Symbolisme“ (1882), Erik Satie, Paul Valéry, André Gide und andere Symbolisten kennen. Mit ihnen verband ihn nicht nur seine Begeisterung für alles Sphärische, sondern auch die Abkehr von den Prinzipien der normativen Tradition der Akadémie française.

Die 1887-89 komponierten „Cinq poémes de Baudelaire“, die von dieser literarischen Orientierung zeugen, brachten ihm nach 1880 die Annerkennung Stephan Mallarmés ein, der Einfluß auf die Poetik des Komponisten gewann und später die Textgrundlage für das „Prélude à l’après midi d’un faune“ lieferte. Ende der 1880er Jahre waren Debussys Vorstellungen weitgehend entwickelt. Er nahm regelmäßig an den Dienstag-Abend-Zusammenkünften im Hause Mallarmé teil und die Ideale des Mallarmé-Kreises, sowie die Ästhetik Poes wurden zum Orientierungspunkt Debussys.

Die Entstehung und Uraufführung der Oper „Pelléas et Mélisande“ bedeuteten einen Wendepunkt in seinem Leben und brachten ihm über den Kreis der Symbolisten hinaus Erfolg und Anerkennung ein. In „Pelléas“ hatte Debussys Poetik eine Form gefunden, die das Programm des literarischen Symbolismus auf musikalischer Ebene einlöste.

Zu einem spezifischen Klavierstil fand Debussy 1905 mit der Entstehung der „Isle joyeuse“ und der „Estampes“. 1910 und 1913 führen die zwei Bücher der „Préludes“ ihn zu voller Reife. Das 1911 entstandene Oratorium „Le Martyre de Saint Sébastian“ nach einem Text von Gabrielle d’Annunzio erntete scharfe Kritik seitens der katholischen Kirche und bezeugt einmal mehr Debussys Abkehr von den Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft.

1912/13 lernte Debussy während der Zusammenarbeit mit den Ballets russes den Komponisten Igor Stravinsky kennen – eine fruchtbare Verbindung, die eine „Weichenstellung für die Musik des 20. Jahrhunderts“ bedeute, so Thomas Kabisch im MGG.

1915 ist das letzte produktive Jahr für den Komponisten. Mit „En blanc et noir“ und den „Douze Études“ legt er noch einmal Glanzstücke für das Klavier vor. Während der Fernbeschießung der Stadt im Frühjahr 1918 stirbt Debussy an den Folgen eines Mastdarmkarzinoms.

24 Préludes

Schon vor der Entstehung der Klavierpräludien hat sich Debussy der Form des Präludiums gewidmet. In der „Suite bergamasque“ und der Suite „Pour le piano“ verwendet er es in historisch motivierter Funktion als Einleitungs- und Eröffnungsstück, während er in dem die „Children’s Corner“ einleitenden „Dr. Gradus ad Parnassum“ seine Schablonenhaftigkeit persifliert.

In den „24 Préludes“ gibt er dem Präludium eine neue Wendung und konzipiert es als autonomes Charakterstück, in dem er seine Eindrücke einer literarischen Ästhetik auf musikalischer Ebene verarbeitet. In der Tat greifen die nachgestellten Titel zumeist auf lyrische oder epische Textvorlagen zurück, dürfen jedoch nicht (dagegen sprach sich der Komponist entschieden aus) programmatisch gedeutet werden.

Lange wurde die impressionistische Formlosigkeit der Musik Debussys verurteilt, doch formlos sind die Präludien gewiss nicht, solange wir Form im Sinne Adornos verstehen, als „Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert“.

Form funktioniert bei Debussy nicht im klassischen Sinne, sondern nach dem Prinzip der Reihung, d.h. sie konstituiert sich während des gesamten musikalischen Prozesses durch die Aspekte von Wiederholung, Variation und Kontrast und ist für jedes einzelne Stück individuell. Die formelle Arbeit beläuft sich dabei nicht nur auf die Bereiche der Melodie, der Rhythmik und der Harmonik, sondern auch auf Dynamik und Figuration.

In seinen Klavier-Präludien wendet sich Debussy entschieden von einer Dur-Moll-Funktionsharmonik ab. Jeder Ton und jedes Intervall ist gleichberechtigt und dient gleichsam der Färbung des Stückes. Dieses Konzept findet in der Verwendung der grundtonlosen Ganztonleiter und pentatonischer Skalen (z.B. in „Voiles“, I.2) seinen Ausdruck. Einzug finden auch Kirchentöne (z.B. „La cathédrales engloutie“ I.10), Chromaik, Enharmonik und Mediantverwandtschaften. Es kommt zu Akkordschichtungen und die Parallelverschiebung von Akkorden und Intervallen wird zum zentralen Element.

Für die Organisation von Zeit wird das Verhältnis von Bewegung und Stagnation interessant, wie es bspw. in „Ce qu’a vu le vent d’ouest“ (I.2) ausgereizt wird. Die metrische Starre klassischer Rhythmen wird durch Anwendung von Synkopen (z.B. „General Lavine“, II.6?), Polyolen und rhythmischen Verschiebungen durchbrochen.

Ein Grund für die Andersartigkeit der Stücke ist aber vor allem die Organisation all dieser Elemente auf verschiedenen Ebenen. So klingen neben ostinaten Bewegungsfiguren (z.B. „Les tièrces alternées“, II.11) Orgelpunkte und melodische Linien heben sich deutlich von auf- und abwärts bewegenden Klangkaskaden ab. In „La porte del vino“ (II.?) wird dieses Prinzip bis zur Bitonalität ausgereizt.

Wie der Formprozess der Reihung durch Wiederholung und Variation genau funktioniert, möchte ich – sofern sie einverstanden sind – nun am Analysebeispiel „Danseuses des Delphes“ (I.1.) verdeutlichen.

Danseuses des Delphes

In den ersten zwei Takten wird auf drei Ebenen melodisches, rhythmisches und harmonisches Material vorgestellt. Zwischen einer Aufwärtsbewegung paralleler Quart-Sext-Akkorde und einer Abwärtsbewegung paralleler Oktaven findet sich ein chromatisches Motiv, welches die zentrale rhythmische Floskel aus punktierter Viertel- plus Achtelnote bringt.

In den darauf folgenden Takten wandert das chromatische Motiv in die Bassfigur, der Diskant nimmt die rhythmische Floskel auf, die dreimal zwischen g und a wechselt. Das h welches bei der vierten Wiederholung folgt, ist ein spannungsreiches Ereignis. Doch die absteigende Achtelkaskade bringt das Stück wieder zur Ruhe.

Diese ersten fünf Takte werden nun wiederholt, doch spaltet eine synkopische Verschiebung die aufwärts steigenden von den abwärts steigenden Elementen ab. Die Synkope und die Ausweitung zur Oktave bleiben dabei zentrales Variationsmoment.

In T.11 beginnt ein neuer Formteil. Zwar bleiben die Synkopen und auch die rhythmische Floskel mit anschließender Achtelkaskade erhalten, doch tritt neues Material hinzu. Das absteigende pentatonische Motiv, die aufsteigenden Dreiklangsparallelen und der Orgelton im Bass liefern einen neuen Höreindruck.

In einer Sequenz wird das Neue wiederholt und in der anschließenden Sequenzierung des chromatischen Motivs der Anfangstakte in T.15 wird die Sequenz selbst zum formbildenden Element erhoben.

Eine neue harmonische Spielerei schließt sich an, die den Kontrast zweier Varianttonarten bringt. So folgen in den Takten 16-20 drei Takte c-Moll auf zwei Takte C-Dur.

Nach der aufsteigenden Figur, die noch einmal den harmonischen Vorrat des gesamten Stückes aufführt, wirkt die Wiederaufnahme des chromatischen Motivs, der anfänglichen Harmonik und des Quartsprungs im Bass wie eine deutliche Reprise. Auf B-Dur klingt das Stück leise aus.