Deutsche Metrik – so funktioniert’s

Samstag, 10. Mai 2008

Immer wieder wollen User von mir wissen, wie man das Metrum von Gedichten bestimmt oder wie man selbst metrische Verse schreiben kann. Das ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst einmal begriffen hat, was es mit der Metrik überhaupt auf sich hat. Metrisch ist eine (deutsch-)sprachliche1 Äußerung nämlich dann, wenn sie eine regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben aufweist. Und wer den Rhythmus nicht sowieso schon im Blut hat, der kann sich leicht über die Theorie eine Brücke bauen. Wie das funktioniert, möchte ich in diesem Post erklären. Sieben praktische Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene sollen dabei helfen. (mehr …)

Die rhetorische Periode

Donnerstag, 27. März 2008

Die rhetorische Periode ist ein Ordnungsprinzip formaler Sprache, das meine Sicht auf den freien Vers verändert und geschärft hat. Die Ästhetik der Ausgewogenheit von Wiederholung und Variation, aber auch die Freiheit und Flexibilität individueller Musterbildung erzielen eine spezifische Wirkung und üben einen besonderen poetischen Reiz aus.

Die rhetorische Periode

Ich habe früher oft Texte kritisiert, die sich nur durch optische Zeilenumbrüche als Gedichte zu erkennen gaben, sonst aber formal der Prosa entsprachen. Die Kritisierten wandten ein, dass es sich doch um freie Verse handle, aber ich hatte daran stets meine Zweifel. Mit dem Begriff „Vers“ verband ich einen Grad an Formalisierung, der über Prosa hinausgeht; „frei“ bedeutete für mich nur, dass die sprachliche Formalisierung nicht nach dem einheitsstiftenden metrischen Prinzip funktioniert, sondern nach einem fein ausgewogenen Spiel von Wiederholung und Variation, von Dynamik und Pause, Spannung und Entspannung, Regelaufbau und Regelbruch, etc. pp.

In Manfred Fuhrmanns „Antiker Rhetorik“ (im übrigen eine insgesamt sehr empfehlenswerte Lektüre) stieß ich schon vor einigen Jahren auf das formale Prinzip der rhetorischen Periode, das ich für einen wichtigen Aspekt zum Verständnis des freien Verses halte. Das trifft natürlich auch auf den metrischen Vers zu, denn kein zeitliches Ereignis in ihm ist einheitlicher, als die wiederholte Abfolge von Hebung und Senkung. In der rhetorischen Periode haben wir es aber mit syntaktischen Einheiten zu tun, die sich als Kola oder Kommata in einer sehr sorgsam gegliederten Binnenstruktur präsentieren. Zu solchen Kola oder Kommata finden sich Worte, Phrasen und Sätze. Jeder Linguistikstudent wird die hierarchischen Stemma kennen, die sich aus einer Satzanalyse ergeben. Bei einer rhetorischen Periode liegt eine wie auch immer geartete Form von Symmetrie innerhalb dieses Stemmas vor.

Ein Beispiel des Fachbereichs Linguistik der Uni Potsdam:

  1. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Willst du uns mit deiner Tollheit noch lange verhöhnen? Merkst du nicht, dass deine Dreistigkeit vermessen ist?
  2. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?

Inhaltlich haben beide Texte gleichen Gehalt. Formal unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander, wodurch sie eine völlig andere Wirkung entfalten. Sehr deutlich zeigt der zweite Text ein Ordnungsprinzip, das auf der Parallelisierung der syntaktischen Einheiten beruht, ergo der rhetorischen Periode entspricht. Jeder der drei Sätze im zweiten Text ist grammatisch gleich oder sehr ähnlich gebaut. Es handelt sich um drei Fragesätze, die zuerst eine adverbiale Angabe, dann das finite Verb, dann das Subjekt, dann das Akkusativobjekt und zu letzt ein infinites Verb anführen.

adverbiale Angabe finites Verb Subjekt Akkusativobjekt infinites Verb
Wie lange noch willst du unsere Geduld mißbrauchen?
Bis wann soll deine Tollheit uns verhöhnen?
Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich vermessen?

Das Prinzip der Wiederholung ist hier also die Parallelisierung der Phrasen. Variation findet sich im ersten Satz durch die eingeschobene Anrede „Catilina“, in nachfolgenden durch das eingeschobene Partikel „noch“, im letzten durch die Rückbezüglichkeit des Objektes „sich“ und in vielen weiteren, kleinen Details. Doch die Parallelisierung ist nur eine Möglichkeit der syntaktischen Ordnung, weitere könnten die Reihung (a1, a2, a3), der Chiasmus (a1 b1 a2 b2), der Krebs und Spiegelung (a1 b1 b2 a2), die Mehrung (a ab abc), die Identität (a, a, a) und dergleichen mehr sein. Die Einheiten können Phrasen, wie Wortgruppen sein, können einzelnde Wörter betreffen (z.B. in der Aufzählung), können Wortarten betreffen oder ganze Sätze.

Die rhetorische Periode präsentiert sich also formal geschlossen, in ihrer Ordnung aber in sich sehr variabel und flexibel. Pausen entstehen an Nahtstellen, aber die Länge der Pausen ist unterschiedlich, ebenso schwankt die Betonungsstärke der betonungstragenden Elemente. Sie ist reizvoll locker gebunden, wirkt aber weder willkürlich, noch wie ein stechschrittiger Marsch. Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der grammatischen Sachkenntnis (die kann man sich zur Not anlesen, wenn man sie nicht intuitiv mitbringt), sondern in der Sensibilität für Maß und Gewichtung von Einheiten und daraus resultierenden Klangphänomenen, wie Pausen und Betonungen. Die Ästhetik zerbricht hier, wie überall, an einem zu hohen Maß an Wiederholung (daraus folgt Langeweile), ebenso wie an einem zu hohen Maß an Variation (daraus folgt Unordnung).

Von der rhetorischen Periode zum freien Vers

Man kann dieses freie Ordnungsprinzip der rhetorischen Periode über syntaktische Aspekte hinaus weiterspinnen und z.B. auch den Bereich der Phonetik, Semantik und Morphologie mit einbeziehen. Sogar Annäherungen an metrische Prinzipien durch Musterbildung in Silbenzahlen und -längen/Betonungen ist denkbar. Als Beispiel dient der erste Absatz von Friederike Mayröckers „Ode an einen Ort“:

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
Glocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
geschnäbelt ins graue Licht
ätzend den Trauerhimmel
mit Botschaft von Dir zu mir:

Obwohl dieses Gedicht nicht metrisch ist, zeigt schon die erste Zeile ein deutlich höheres Maß an formaler Gebundenheit als jede Prosa. „Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk“ – Hier wird vorallem viel mit dem Reim gearbeitet, die syntaktische Figur schließt sich im Zweiten Teil der Zeile dieser Reimschematik an. Man beachte Zunächst die Häufung an /t/ /ä/ /äu/ und /ü/. Dann folgt die Sequenz „Träume – Hütte – Thron – Türme – Gebälk. Dies ist syntaktisch gesehen eine Reihung, Aufzählung, lautlich ist sie am /o/ von Thron gespiegelt: ä-ü-o-ü-ä. Semantisch wird der Traum zur Spiegelachse, denn die vier folgenden Begriffe sind Lokalitäten (Orte), ebenso wie die „Heimstätte“ am Anfang der Zeile. Es finden sich weitere Klangparallelen zwischen /ei/ und /äu/ und zwischen /äu/ und /ü/. Auch das /h/ wird exponiert. Das harte Gebälk am Schluß sprengt diese Klangkaskade schroff auf, nicht nur durch seinen stimmhaften, gutturalen Anfang /g/, sondern auch und vorallem sein gutturales und stimmloses Ende /k/ (harte Kadenz). Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel dür den freien Vers zu tun, nicht metrisch, nicht prosaisch, sondern ein Ding in der Mitte.

Eine solche formale Strukturierung von Sprache macht den grafischen Zeilenumbruch als Kennzeichnung poetischer Sprache meines Erachtens überflüssig, da die Sprache selbst schon ausreichend poetisch ist, um nicht als Prosa verkannt zu werden (was nicht heißt, dass der Zeilenumbruch keine berechtigte Funktion hätte). Aber hier zeigt sich, warum auch die im Fließtext gedruckten „Petites poèmes en prose“ von Baudelaire auch ohne optische Gliederung durch Zeilenumbrüche immer noch als verses libres zu erkennen sind.

Ich habe mich selbst nie an den vers libre gewagt, weil ich ihn in der Tat für ein Wagnis, ein höchst anspruchsvolles Unterfangen halte. Aber ich habe sehr schöne freie Verse gelesen und mich in Prosatexten schrittweise in der freien formalen Musterbildung probiert. Der freie Vers ist und bleibt ein äußerst interessantes sprachliches Phänomen; die rhetorische Periode hat mir geholfen, mich dafür zu sensibilisieren.

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Quellen:

  • Manfred Fuhrmann, „Die antike Rhetorik“, Artemis & Winkler, 19954, S. 139f
  • Mayröcker zitiert aus: Karl Otto Conrady, „Das grosse deutsche Gedichtbuch“, Athenäum Verlag, 1977

Lai, Leich [poet. Formprinzip]

Sonntag, 27. Januar 2008

Gerade bereite ich mich auf eine Arbeit zu altfranzösischen Lais und eine mündliche Prüfung zu mittelhochdeutschen Leichen vor und habe deshalb den Kopf voller Ideen zu dieser unstrophischen, lyrischen Gattung. Aber jeder, dem ich davon erzähle, fragt erst einmal: „Leich, hä, was’n das?“ Dieser allgemeinen Unwissenheit soll hiermit Abhilfe herbeieilen.

1. allgemeine Einführung
1.1 Definition

„Die Bezeichnung lai/leich ist im Mittelalter ein Sammelbecken für monodische Werke in den Volkssprachen, die sich der Gleichstrophigkeit entziehen; Kontrapart bildet das Liedprinzip“, heißt es im MGG2 Artikel von Christoph März. Diese kurze Definition faßt die grundlegenden Prinzipien des poetischen Phänomens, das hier zur Disposition steht, ganz treffend zusammen, wie ich finde. Es gibt aber noch weitere Phänomene, die mit dem Begriff in Verbindung gebracht werden.

1.2 Lai-Arten

Dazu gehören zunächst die um 1160 von Marie de France verfaßten, märchenhaften Erzählungen in achsilbigen Reimpaarversen. Zu diesen ist keine Musik überliefert, Hinweise im Text und ein leeres Notensystem in einer der Quellen verweisen aber auf die Existenz von dazugehöriger Musik. Da Marie selbst sagt, sie hätte bretonische Vorlagen niedergeschrieben, wird diese Art des Lais auch lai breton genannt. Eine andere Bezeichnung ist lai narrativ. Ebenfalls in Richtung Bretagne und König Arthus weisen die strophischen Lais, die in diversen Romanen, allen voran dem Tristan en prose, als kurze Liedeinschübe den Helden der Geschichte in den Mund gelegt werden. Diese Lais sind metrisch und melodisch sehr einfach gebaut und man nennt sie lai arthurien. Die aufgrund ihrer Überlieferungslage für die Wissenschaft interessantesten Lais sind aber die lais lyriques, die im deutschsprachigen Raum auch leiche genannt werden. Sie nehmen als verhältnismäßig lange und komplexe lyrische Gattung schon im Repertoire der Troubadours, Trouvères und Minnesännger eine Sonderstellung ein und gelten wohl besonders im 13. Jahrhundert als Königsdisziplin der Lieddichtung.

Es gibt weitere Phänomene, die in dieser oder jener Quelle mit dem Begriff bedacht werden, die wichtigstens und häufigsten sind jedoch die drei oben genannten, allen voran das lyrische Lai.

1.3 Etymologie und Terminologie

Es gibt diverse Thesen zur Etymologie des Begriffs lai/leich, zum Beispiel von Ferdinand Wolf, Richard Baum oder Hermann Apfelböck, die den Begriff aus dem keltischen, germanischen, bretonischen oder lateinischen herleiten. Angeführt werden dabei das altirische loîd/laîd (Lied, 9.Jh.), das gotische laikan (springen, tanzen, bewegen), das althochdeutsche leih (Gesang, Melodie), das angelsächsische laic, lac (Gabe) und das mittellateinische laicus/laice. Obwohl beides nicht denselben Weg gegangen sein muß, vermischen einige dieser Thesen die Wort- und die Sachgeschichte miteinander. Weder über das eine, noch über das andere gibt es aber bisher einen wissenschaftlichen Konsens.

Denn als Gattungsbegriff taucht lai zuerst um 1140 in den Chansonniers der provenzalischen Troubadours auf. Darin tragen einige Stücke Titel wie „Lai Markiol“, „Lai non par“, etc. Im Norden Frankreichs findet sich der Begriff zuerst 1155 in Waces „Roman de Brut“. Marie de France rückt mit ihren 12 narrativen Lais den Begriff erstmals in bretonischen Kontext, in dem er in weiteren epischen Werken ab 1200 und 1210 auch in provenzalischen und mittelhochdeutschen Quellen zu finden ist. In diversen althochdeutschen Glossen findet sich der Begriff bereits ab dem 10. Jahrhundert im musikalischen Kontext, z.B. bei Notker („lied unde leicha“). Im deutschen Sprachraum lassen sich die frühesten Leiche um 1175 datieren.

1.4 Probleme bei der Definition

Die Definition des Begriffs ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Im Mittelalter werden unterschiedliche Phänomene lai genannt, die wiederum aber auch diverse andere Namen tragen können. Die Thesen zur Etymologie bringen nicht wirklich weiter und liefern allenfalls Spekulationen über das Ding an sich, das nicht zuletzt auch deshalb schwer zu fassen ist, weil es das Prinzip einer individuellen Formenphysiognomie verfolgt und darob ganz unterschiedliche Erscheinungen ausgebildet hat. Auch die Annäherung über ähnliche Formen, wie Sequenz, Planctus, Conductus, Descort, u.a. ist schwierig, weil diese ebenfalls nicht klar umrissen sind.

2. zeitlich-regionale Entwicklung
2.1 Lais als Volkspoesie

Bereits 1841 entwickelt Ferdinand Wolf die These, das Lai sei seinem Wesen nach eine Gattung der Volkspoesie und entwickle sich erst später zu einer höfischen Kunstform. Obwohl diese Behauptung aufgrund fraglicher Prämissen relativiert werden muß, stützt sie sich doch auf einige interessante Beobachtungen. Die (provenzalischen) Lais, welche heute als zur ältesten Schicht gehörig ausgemacht werden können, sind allesamt anonym überliefert. Sie weisen größtmögliche Formenvielfalt auf, sind weniger lang, dafür repetitiver und metrisch, wie melodisch einfacher gebaut als ihre mit Namen überlieferten provenzalischen und altfranzösischen Nachfolger. Erst im Verlaufe der Zeit entwickelt sich eine Tendenz zur Musterbildung heraus, bis das Lais im 14. Jahrhundert bei Guillaume de Machaut seine endgültige, normative Form erhält.

In eine ähnliche Richtung weist Bruno Stäblein mit seiner These zum descort. Der Begriff taucht im Provenzalischen irgendwann als Selbstbezeichnung in Stücken auf, die nach formalen und inhaltlichen Kriterien durchaus Lais sind und auch im selben Kontext überliefert werden. Stäblein behauptet, dies geschähe zur Abgrenzung der Troubadours-Kunst vom volkspoetischen Lais. Im altfranzösischen Sprachraum werden beide Begriffe aber synonym verwandt. Einziges distinktes Merkmal ist, dass Descorts inhaltlich ausschließlich um die „amour courtois“ kreisen (während Lais auch religiöse Topoi verfolgen) und in keinem Fall anonym überliefert sind.

2.2 Lais/Leiche vor 1300

Einen Konsens über die Entstehungsdaten einzelner Lais vor 1300 gibt es nicht, da diese größtenteils alle in denselben Quellen überliefert sind und man allein aufgrund kompositorischer Unterschiede keine handfesten Aussagen machen kann. Den Versuch einer Chronologie unternimmt David Fallows in seinem New Grove Artikel zum Lai, wobei er verschiedene Thesen der Lai-Forschung zusammenträgt. Es sind mehr altfranzösische Lais vor 1300 überliefert als provenzalische, was aufgrund der Quellenlage nicht verwundert. Es läßt sich feststellen, dass weniger Lais vor 1200 überliefert sind, die meisten aus der Zeit vor 1300 stammen und nach 1300 nur noch wenige komponiert werden.

2.3 Lais im Fauvel und bei Machaut

Zu diesen späten Beispielen gehören die vier französischen Lais im Roman de Fauvel, sowie die 19 Lais von Guillaume de Machaut. Im Register des Roman sind unter der Kategorie „proses et lays“ 27 Titel aufgeführt, davon drei französische und 24 lateinische Stücke. Aber das Register ist nicht nur an dieser Stellle fehlerhaft und so finden sich insgesamt 31 Stücke, die in diese Kategorie passen, von denen vier französische Lais sind; eines davon bezeichnet sich selbst als descort. Die restlichen Stücke sind lateinische Conductus oder Sequenzen („proses“), die dem Lai-Prinzip folgen, eines davon ist ein Kontrafakt des provenzalischen Lai Markiol. Die vier Lais gehören zum Modernsten, was der Roman musikalisch zu bieten hat und verweisen musikalisch bereits auf den Stil der Ars Nova, weshalb Leo Schrade Philippe de Vitry als Verfasser annimmt. Er glaubt, dass mindestens 3 der Stücke auch Guillaume de Machaut bekannt gewesen sein müssten, da sich direkte Einflüsse auf seine Lais nachweisen lassen. Während die Fauvel-Lais formal relativ flexibel bleiben, erhält die Gattung bei Machaut normativen Charakter und es kommt zur Ausbildung einer form fixe.

2.4 Kontinuität

Obwohl der Machaut-Schüler Eustache Deschamps in seiner Art de dictier (1392) beahuptet, Lais seien durchaus üblich, erscheint die Gattung im Roman de Fauvel und bei Machaut seltsam isoliert. Es ist fraglich, ob dies aufgrund einer schlechten Überlieferungslage zustande kommt oder weil das Lais einfach nicht zum üblichen Liedrepertoire der Zeit gehörte. Von keinem Zeitgenossen Machauts sind monodische Werke überliefert, allerdings ist auch kein Zeitgenosse so umfangreich überliefert wie Machaut. Die Melodien aus dem französischen Chansonrepertoire datieren nicht nach 1250 und so kommt es bis 1317, dem vermuteten Entstehungsjahr des musikalisch interpolierten Roman de Fauvel, zu einer Überlieferungslücke. Diese kann aber geschlossen werden, wenn man auf den deutschen Sprachraum ausweicht. Hier stammen zeitlich und stilistisch zwischenzuordnende Leiche von Hermann Damen und Heinrich von Meißen (Frauenlob). Aus der Zeit nach Machaut sind Lais nur noch aus dem Dichterzirkel um Eustache Deschamps, Christine de Pizan und Froissart überliefert. Diese sind allerdings nicht mehr musikalisch konzipiert, sondern rein literarisch. Somit steht Machaut mit seinen Lais in gewisser Hinsicht am Ende der Gattungsgeschichte.

3. poetische Form
3.1 allgemeine Prinzipien

Es gibt fast kein Lai, das dem anderen gleicht, jedes besticht durch individuelle Gestaltung und erschafft seine Regeln quasi aus sich selbst heraus. Das Gattungsprinzip, das sie alle miteinander verbindet ist die individuelle Formenphysiognomie, die in einem Verzicht auf Strophigkeit und sonstig regelhaft gesetzte Wiederkehr ihren Ausdruck findet. Jeder Vers ist unterschiedlich lang und verwendet andere Reimworte, kleinere Motive und Phrasen werden aber stetig wiederholt und variiert, bevor neues Material eingebunden wird, was zu einer oft komplexen, metrischen Binnenstruktur führt. Dies ist das zweite grundlegende Prinzip, welches in der Forschung mit „fortschreitende Repetition“ beschrieben wird. (Auch wenn es keine Strophen in dem Sinne gibt, handelt es sich formal um alles andere als „Prosa“. Größere Formabschnitte werden Versikel genannt.) Außerdem kommt es oft zur Verschleierung von Zäsuren und Kadenzen und zu Enjambements über die Versikelgrenzen hinaus. Die Enddifferenzierung in ouvert- und clos-Kadenzen, die Ausbildung paariger Komplexe (Doppelversikel), die Wiederaufnahme des Anfangs am Ende und die 12-„Strophigkeit“ werden im Verlaufe der Zeit formbestimmend. In den Melodien der Lais dominiert der G-Modus, während in den mhd. Leichen oft ein Terzengebäude über D oder F anzutreffen ist.

3.2 Verwandte Formen

Wegen dem doch etwas befremdlichen Prinzip der Unstrophigkeit ist das Lai immer wieder mit anderen Formen Verglichen und in generische Verbindung gebracht worden. Das ist zunächst der schon descort, von dem eigentlich ausgegangen wird, dass er unter das Lai zu subsummieren ist. Eine Identität wird auch zwischen dem frz. Lai und dem dt. Leich angenommen, obwohl der Begriff im dt. (vor 1210 bei Gottfried v. Straßbourg, der es aus dem frz. entnimmt) nie in Verbindung mit epischen und nur selten mit strophischen Werken steht.

Auch wurde immer wieder die Nähe zu lateinischen, unstrophischen Gattungen wie der Sequenz, dem Plactus und dem Condutus hingewiesen und in der Tat gibt es unter den frühen Lais einige Kontrafakturen, bzw. melodische Abhängigkeiten zu lateinischen Sequenzen und Plactus. Wobei hier nicht eindeutig ausgemacht werden kann, ob die volkssprachigen oder die lateinischen Stücke Vorlage waren. Bei Fauvel sind die lateinischen Strücke der Kategorie „proses et lays“ größtenteils Condutus. Allen gemeinsam ist der Verzicht auf regelhafte Wiederkehr metrisch-musikalischer Strukturen.

3.3 Beispiele

Ein durchaus kunstvolles Beispiel sind das erste und zweite Versikel des Lai des Hellequins „En ce douce temps d’esté“ aus dem Roman de Fauvel:

En ce douce temps d’esté, tout droit ou mois de may,
qu’amours met par pensé maint cuer en grant esmay,
firent les herlequines ce descort dous et gay.
Je, la Blanche Princesse, de cuer les em priai
et vous qu’em le faisant deîssent leur penser,
se c’est sens ou folie de faire tel essay
com de mettre son cuer en par amours amer.

Je, qui suis leur mestresse, avant le commencai
et en le faisant non de descort li donnay,
Quar selon la matere ce non si li est vrai.
Puis leur dis: „Mes pucelles, moult tres grant desir ai
qu’en fesant ce descort puissons tant bien parler
qu’on n’i truist que reprendre, que pour verité sai
que pluseurs le voudront et oir et chanter.“

I.) (Longa- Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:3:9)
A 6 | 6a
B 6 | 6a
A 7_ | 6a
B 7_ | 6a
C 6 | 6b
B‘ 7_ | 6a (Kadenz variiert)
C‘ 6 | 6b (gesamter clos variiert)
(das ganze wird 1x wiederholt)

II.) (Loga-Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:2:6)
A 6 | 6c
B 6 | 6c
C 7_ | 6d
C‘ 6 | 6d
A 6 | 6e
B 6 | 6e

Interessant ist an diesem Stück, dass die musikalische (Großbuchstaben) und die metrische Disposition nicht unmittelbar kongruent sind, was ungewöhnlich für die mittelalterliche Lieddichtung, nicht aber für das Lais selbst ist. Außerdem interessant ist der Umstand, dass hier mittels wörtlicher Rede eine Geschichte erzählt wird. Dies und auch die melodische Prosaik, sowie Länge des Lais lassen Zweifel an der reinen Lyrizität der Gattung aufkommen, die zwar von verschiedener Seite geäußert, aber nie eingehender untersucht wurden.

3.4 Das Lai als form fixe

Geschichtlich betrachtet ist das Lais alles andere als eine form fixe, es ist heterogen und sehr veränderlich. Allerdings strebt es mit zunehmender Entwicklung hin zu einer formalen Stabilisierung, die bei Guillaume de Machaut ihren Höhepunkt erreicht. Nur zwei seiner 19 Lais weisen eine andere Struktur, als die 1392 von seinem Guillaumes Schüler Eustache Deschamps beschriebene, auf. Die Norm lautet: 12 Teile von denen der erste und letzte in Form und Reim identisch sind, ohne dass sich Reimworte wiederholen, während die anderen 10 dahingehend individuell sind, doch jeder Teil muß vier Viertel haben. Bei Machaut wird mit dem letzten Versikel nicht nur die Form und der Reim, sondern auch die Musik des ersten Versikels wiederholt, diese erklingt jedoch für gewöhnlich eine Quarte oder Quinte höher oder tiefer.

Quellen

  • Christoph März: „Lai, Leich“, in: MGG2
  • David Fallows: „Lai“, in: New Grove2
  • Hans Tischler: „Die Lais im Roman de Fauvel“, in: Die Musikforschung, XXXIV/2 (1981), pp. 165, 169-171 (GfM)
  • Leo Schrade: „Guillaume de Machaut and the ‚Roman de Fauvel‘, in: Miscelánea en Homenaje a Monsenor Higinio Anglès, Barcelona: 1958-1961, vol.2, pp. 846-849

Einige Passagen dieses Artikels sind wortwörtlich in den Wikipedia-Artikel zum Lai (Fassung vom 13.09.08) übernommen worden, also nicht von mir geklaut, sondern von mir beigestiftet.

Dróttkvætt [Strophenform]

Samstag, 11. November 2006

Das Dróttkvætt (sprich: Drotzkwett) ist eine Strophenform, und zwar die strengste, die die altnordische Skaldendichtung zu bieten hat. Sie war in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und ist sehr komplex. Da ich es für spannend und interessant halte, diverse poetische Formprinzipien kennenzulernen, habe ich hier mal die Grundlagen zum Dróttkvætt zusammengefaßt.

Das Dróttkvætt („Hofton“) ist die strengste Strophenform der altnordischen Skaldendichtung und gleichsam ihr Hauptversmaß. 5/6 aller erhaltenen Texte sind im Hofton überliefert.

Metrische Struktur

Eine Strophe („vísa“) besteht aus je 2 Halbstrophen („helmingr“) mit je vier sechsgliedrigen1 Halbzeilen („vísuorð“). Im Anvers müssen sich zwei Stäbe („suθlar“) auf betonten Silben befinden, im Abvers ein Stab („höfuðstaðr“) auf der ersten Silbe, wobei Konstonanten mit sich selbst staben und Vokale miteinander2.

In jedem Halbvers befindet sich zusätzlich ein Binnenreim („hending“), wobei hier der Gleichklang von Lauten innerhalb von Reimworten gemeint ist. Jede vorletzte, betonte Silbe nimmt am Binnenreim teil. Der Reimpartner muß auf einer betonten Silbe weiter vorn sein. In jedem ungeraden Halbvers sind die Binnenreime Halbreime („skoθhending“), d.h. nur Konsonantenklänge stimmen überein. In geraden Halbversen sind die Binnenreime jedoch Vollreime („adalhending“), d.h. Vokale und Konsonanten lauten gleich.

Darüber hinaus sind im Hofton sogenannte Kenningar unabdingbar. Das sind zwei- oder mehrsilbige, bildliche Umschreibungen, die sich im Idealfall nur mit einer speziellen Kenntnis der altnordischen Mytholgie entschlüsseln lassen. Einige Kenningar sind auch aus dem Kontext heraus zu entschlüsseln. Typischerweise ist jede Halbstrophe von einem Kenning bestimmt, das auch mehrere Teile oder Glieder haben kann.

Da der Dichter durch diese Formstrenge relativ eingeschränkt ist, besteht seine einzige Ausweichmöglichkeit in der Wortstellung, was darauf hinausläuft, dass die Syntax nicht immer leicht zu durchschauen ist.

Beispiel

Das Beispiel ist ein Totenpreis für den dänischen Wikingerführer Sibbe, der in jüngerem Futhark (Runen) auf den Stein von Karlevi geritzt ist. Fett sind die Stäbe, unterstrichen die Binnenreime und kursiv die Kenningar, wobei zusammenhängende Teil-Kenningar durch * gekennzeichnet sind.

Folginn liggr hinn’s fylgðu
(flestr vissi þat) mestar
dáðir dolga þrar
draugr
í þeimsi haugi.
Mun-at reið-Viðurr* ráða
rógostarkr í Danmǫrku
*Endils jǫrmungrundar
ørgrandari landi.

In diesem Hügel verborgen liegt der Krieger („Baum der Thrud der Kämpfe“), dem (die meisten wissen das) die größten Taten folgten. Nicht wird ein kampfstarker, untadeliger See-Krieger („Wagen-Odin des weiten Grundes des Endill“) über Land in Dänemark herrschen.

Überlieferung

Viele Skaldenstrophen sind als Zitate in Sagas oder in der Snorra-Edda, dem Skaldenlehrbuch Snorri Sturlusons (1079 – 1241), überliefert. Im Gegensatz zu Edda-Liedern sind die Skaldenstrophen häufig mit Verfassernamen angeführt.

Frühe Formen finden sich bei Bragi enn gamli Boddason (9 Jh.), dem ersten namentlich bekannten Skaldendichter und Egill Skallagrímsson, der um 900 bis nach 990 gelebt hat.

Literatur

  • Andersson, Th. / Marold, E. (2000), „Karlevi“, 2RGA 16, 275-280.
  • Jónsson, Finnur (1912 – 1915), Den Norsk-Islandske Skjaldendigtning, Bde. A I-II, B I-II, København und Kristiana

Weblinks

Wer mehr Infos zum Dróttkvætt (Dróttkvaett, Drottkvaett) oder Verbesserungsvorschläge zu diesem Artikel hat, sei dazu ermuntert, sein Wissen hier beizutragen.
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1. Die Sechsgliedrigkeit entspricht weitestgehend einer Sechssilbigkeit mit drei Hebungen, ist aber doch nicht ganz dasselbe.
2. Die Konsonantenkombinationen sk, sp, st bilden eine Ausnahme. Sie staben nur mit sich selbst, nicht aber mit s, während Kombis wie kr oder kl durchaus mit k staben. Als Vokal wird auch j behandelt.

Das Auge erkennt den Vers

Sonntag, 12. März 2006

Seit ich angefangen habe, mich in Zusammenhang mit meinem kommenden Buch ernsthaft mit dem Layout von Gedichten zu befassen, geht mir ein Zitat Wolfgang Kaysers nicht mehr aus dem Kopf. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind”, heißt es da. “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.”

Jedem, der sich mit der Materie eingehender befaßt hat, sollte klar sein, dass es voreilig wäre, dies als Dummschwätzerei zu verwerfen. Denn es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass das visuelle Erscheinungsbild eines Textes Einfluß auf das Rezeptionsverhalten des Lesers hat. Sieht dieser nämlich Text mit zahlreichen, frühzeitig erzwungen Zeilenumbrüchen, so ordnet er ihn zunächst einmal pauschal der Kategorie Gedicht zu.

Dass er das tut, ist eine Frage der Gewohnheit. Denn es ist heute üblich, Gedichte in der oben beschriebenen Form zu präsentieren, sofern dies auf schriftlichem Wege geschieht.

Das war aber nicht immer so. Als Gedichte noch primär über das Ohr rezipiert wurden, war es nicht nötig, ihre Verse für das Auge zu gestalten. Metrische Rhythmen, Reimfolgen, Zäsuren und Kadenzen, all das, was die Verstruktur ausmachte, war (und ist) ja hörbar. Zudem war der Beschreibstoff, das aus Tierhaut gefertigte Pergament, wertvoll und teuer. Ein verschwenderisches Layout wäre undenkbar gewesen. Verse wurden deshalb im Fließtext, also hintereinander weg wie heute bspw. ein Roman oder eine Kurzgeschichte notiert. Zur Orientierung des Lesers dienten lediglich Reimpunkte.

Als aber das stille Lesen prominenter wurde, wollte man die hörbare Struktur der gebundenen Verse auch optisch vernehmbar machen. Also gliederte man den Text auf dem Papier so, dass jeder Vers eine eigene Zeile bekam und zwischen jeder Versperiode (Strophe) ließ man eine Leerzeile. Dadurch entstand das typische Gedichtlayout mit den zu Gruppen zusammengefaßten, umgbrochenen Zeilen.

In der Folge dessen erlebte das graphische Layout eine regelrechte Emanzipation. Stephan Mallarmé, ein französischer Symbolist, ließ in seinem Gedicht “Un coup de dés” (Ein Würfelwurf) die Verse erstmals in Kaskaden über das Papier springen und erhob die Graphik damit zum poetischen Element. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den Figurengedichten der Dadaisten und auch innerhalb der konkreten Poesie nimmt sie seit den 1950gern einen nicht unwesentlichen Stellewert ein.

Heute geht es beim Gedichtlayout in den seltensten Fällen darum, dem Auge die lautlichen Strukturen einer Versdichtung zu erkennen zu geben, zumal sich die wenigsten Verse heute noch durch Metrum und Reim auszeichnen. Die Graphik selbs wird zum Träger poetischer Inhalte und bietet der Dichtung damit neue, grenzüberschreitende Perspektiven.

Nun könnte man annehmen, diese Entwicklung hätte zu individuelleren und facettenreicheren Gedichtlayouts geführt. Dennoch halten Verfassser heute überwiegend am “klassischen” Layout mit umgebrochenen Zeilen und Leerzeilen fest. Und dies seltsamerweise sogar dann, wenn ihre Verse gar keine Reime und Metren aufweisen und durch die Anordnung der Worte im Raum gar keine poetischen Inhalte transportiert werden sollen. Welchen Zweck hat es da noch, Prosagedichte klassisch zu gliedern?

Antwort auf diese Frage gibt Wolfgang Kayser mit dem oben angeführten Zitat: “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.” Der Vers ist nicht mehr Vers, weil er mit Sprache spielt und ihre Symbolhaftigkeit erkennt, sondern weil er wie ein Vers aussieht. Es ist so, weil es so zu sein scheint; das Layout ist zur Etikettierung geworden. Der Zeilenumbruch erfüllt den Zweck, einen beliebigen Text zum Gedcht zu machen. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind.”

Essay: Formlos bloß lose Form

Freitag, 10. März 2006

Wenn ich an Gedichten von Hobbyautoren die mangelnde Form kritisierte, hielten diese oft entgegen, Gedichte müßten nicht immer reimen. Das ist korrekt, doch wie sollte ich klarmachen, dass es meine Kritik trotzdem nicht entkräftete? Was ist eigentlich poetische Form, wodurch und wie ergibt sie sich in einem Gedicht? Der Antwort auf diese Fragen rückte ich näher, als ich mich mit dem Werk des Komponisten Claude Debussy befaßte, dem man seinerzeit ebenfalls vorwarf, seine Stücke seien formlos. Ausgehend von einem Zitat Adornos schreibe ich in diesem Essay über die Formbarkeit poetischer Sprache.

Formlos bloß lose Form
Ein kurzer Versuch über sprachliche Form und Formbarkeit von poetischen Texten

Noch vor 70 Jahren warfen Gelehrte dem französischen Komponisten Claude Debussy (1862 – 1918) vor, seine Musik sei formlos. Sie folgt nicht den klassischen Mustern von Fuge, Sonate oder Tanz und war damit schwer fassbar. Dass sie dennoch funktioniert und alles andere als formlos ist, haben Studien inzwischen aufgedeckt. Sie organisiert sich auf einer anderen Ebene und durch andere Elemente, als ihre klassischen Vorläufer, ist aber deswegen nicht weniger formvollendet.

Auch ein Gedicht, welches nicht in Sonett-, Oden- oder sonstigen Strophen verfasst ist, ist nicht automatisch formlos und dennoch verbinden viele Dichter auch im Zeitalter der prosaischen Lyrik den Begriff der Form fast ausschließlich mit den Möglichkeiten metrischer Gestaltung. Wie arm erscheint dieser Blickwinkel doch in Anbetracht der hohen Komplexität des Zeichensystems Sprache! Die daraus folgende Konsequenz ist eine Unsensibilität gegenüber anderen Möglichkeiten formeller Gestaltung und natürlich deren Vernachlässigung während des Schaffensprozesses.

Metrikbefürworter verlassen sich darauf, dass allein die Anwesenheit von Versen und Strophen ihrem Gedicht Struktur und Linie gäben und schärfen den Blick nicht für die darüber hinausgehenden Elemente sprachlicher Ordnung. Metrikgegner üben sich hingegen oftmals überzeugt in genereller Ignoranz gegenüber allem, was eine Idee von Form vermitteln könnte. Der eine Standpunkt erscheint so blauäugig, wie der andere. Dabei ist der hohe Grad an sprachlicher Formalisierung, den wir in den Sonetten Dantes (1265 – 1321) ebenso finden, wie in den Konstellationen Gomringers (*1925), neben der relativen Kürze, wohl eines der anerkanntesten Charakteristika des Gedichtes.

Form ist “der Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert”, schreibt Theodor W. Adorno (1903 – 1969) in seinem Aufsatz “Form in der neuen Musik”. Sie beziehe sich “auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht.”

Form ist also etwas, das sinnlich wahrgenommen wird, ein wesentlicher Aspekt eines jeden ästhetischen Geschöpfs, so auch des Gedichts. Wenn wir der strukturalistischen Sprachwissenschaft (Linguistik) glauben dürfen, ist sie der Sprache ureigen. Denn jedes sprachliche Zeichen, z.B. ein Laut, ein Buchstabe, eine Silbe, ein Wort oder dergleichen, verweist gleichsam auf das durch dieses Zeichen Bezeichnete, seinen Inhalt. Form (z.B. /Baum/) und Inhalt (z.B. /stämmige Grünpflanze/) sind also untrennbar miteinander verbunden.

Die bloße Tatsache, dass Sprache ohne Form also nicht möglich ist, scheint allein aber nicht auszureichen, um sie als Quell ästhetischer Komposition formell vernehmbar zu machen. Denn ein sprachlicher Text erscheint schnell unordentlich und chaotisch, wo er keine Linie verfolgt. Die Frage ist also nicht nur, welches die Elemente der Sprache sind, die einem Text Form geben, sondern auch, wie diese sinnvoll organisiert werden könnten, um einen Eindruck formeller Ordnung zu vermitteln, der über bloße metrische Strukturen hinausgeht, bzw. derer ungeachtet funktioniert.

Was genau als ordentlich/geordnet empfunden wird, ist relativ schwierig zu verallgemeinern. Sicher ist aber, dass ein gewisser Grad der Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit damit einhergeht und dass Wiederholung und Variation starken Einfluss darauf haben. Ein Text, der sich z.B. aus willkürlich zusammengesetzten Gedankensplittern ergibt, vielleicht nur unvollständige Sätze bringt, abgehackt und unflexibel klingt und dazu noch kreuz und quer auf dem Blatt angeordnet ist, wird schwerlich als ordentlich empfunden werden, selbst wenn der offensichtlichen Unordnung ein System zugrunde liegen sollte. Demgegenüber fällt einem die formelle Ordnung eines kohärenten und gegliederten Textes vielleicht erst einmal gar nicht auf, weil man sie als Selbstverständlichkeit empfindet.

Grundlegend unterscheide ich vier Ebenen, auf denen sprachliche Formalisierung möglich ist. Diese Ebenen greifen natürlich ineinander, sind kombinierbar und daraus ergeben sich ganz herrliche Möglichkeiten.

Eine Ebene, die mit dem Begriff “Metrik” bereits angesprochen wurde, ist die Ebene der Lautlichkeit, phonetische Ebene genannt. Alles was an Sprache klingt, also z.B. Gleichklangsgebilde, wie Reime, Assonanzen oder Alliterationen, Akzente, aber auch Pausen, Betonungen, Konsonant- und Vokalfarben, alles, was akustisch wahrnehmbar ist, gehört in diesen Bereich. Ein metrischer Text ist im Bereich der Lautlichkeit sehr streng geordnet, weil die Abfolgen von betonten und unbetonten Silben, von Pausen und z.T. auch von Reimen sehr vorhersehbar sind. Aber auch ein prosaischer Text muss auf lautlicher Ebene nicht unweigerlich unordentlich sein. Auch hier können sich Tendenzen der Periodisierung herausstellen, z.B. Abschnitte von gleicher Silbenzahl zwischen Pausen oder Gebilde von symmetrischer Betonungsfolge, doch sind diese bei weitem nicht so regelmäßig, wie in einem metrischen Text (s. dazu “Zwei ungleiche Paare”).

Eine weitere, relativ naheliegende Ebene der Strukturalisierung, ist die syntaktische Ebene. Dazu gehört alles, was mit dem grammatischen Bau der Sprache zusammenhängt, also z.B. Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, Verbindungselemente, grammatische Phrasen und Figuren, wie Chiasmen, aber auch Beugung von Nomen in den verschiedenen Fällen (Deklination), Steigerung von Adjektiven (Komparation) oder in den verschiedenen Personen gebeugte Verben (Konjugation). Die großen Redner der Antike setzten die Gliederung auf syntaktischer Ebene sehr bewusst ein und formten oft Sätze, denen eine grammatische Periodik zugrunde lag. Syntaktische Elemente verschiedener Art können dabei zu symmetrischen oder sonstig regelmäßigen Gebilden geformt werden.

Intrigen und Zwietracht, Gezanke und Streit – wer wird dieses Feuer jemals löschen, wer wird es sein?

Dieser Satz teilt sich in vier Perioden, zwei Aufzählungen und zwei Fragen. Die Aufzählungen bestehen jeweils aus zwei Elementen, die durch ein ‘Und’ verbunden sind und folgen beide dem Schema a + b. Die zwei Fragen beginnen jeweils mit einem Interrogativpronomen und enden mit einem Infinitiv. In der zweiten Frage ist das Akkusativobjekt durch ein unspezifisches ‘Es’ ersetzt. Ansonsten haben auch diese beiden Teile dieselbe grammatische Form. Zusätzlich werden bei diesem Beispiel auch lautliche Schemata wieder aufgenommen.

Eine dritte Ebene ist seit den Versuchen der konkreten Poesie zunehmend ins Blickfeld formaler Sprachbetrachtungen gerückt, die graphische. So hat jeder geschriebene Text ein Aussehen, das sich aus den einzelnen Zeichen für die Buchstaben und der Anordnung dieser Zeichen auf dem Blatt oder dem zu beschreibenden Medium ergibt. Die für das Gedicht typische Optik ist die Anordnung des Textes in kürzere Zeilen und Absätze, so dass um das Geschriebene herum viel unbeschriebener Raum ist. Diese Anordnung entwickelte sich ursprünglich aufgrund der lautlichen Strukturen von Gedichten. So machte man Zeilenumbrüche nach Kadenzen (Pausen, die am Versende entstehen) und Absätze nach Strophen, um dem stummen Leser das Erfassen dieser lautlichen Strukturen zu erleichtern. In prosaischen Texten, wie Romanen oder Essays, werden Absätze hingegen nach Sinneinheiten gemacht, während Zeilen meist nicht umgebrochen werden.

Verschiedene andere Aspekte sprachlicher Formalisierung waren früher also dafür verantwortlich, dass ein Text diese oder jene Optik erhielt. Heutzutage ist die Optik selbst jedoch zu einem Aspekt sprachlicher Formalisierung und also künstlerischen Ausdrucks geworden. So finden sich Gedichte, die den Gegenstand abbilden, den sie thematisieren, oder auch mit der Anordnung der Worte selbst spielen, in dem sie Kaskaden oder andere Linien nachbilden und Worte kreuzen, spiegeln oder ähnliches.

Der am schwersten zu fassende Bereich sprachlicher Formalisierung dürfte aber wohl die semantische Ebene, die Ebene der Bedeutung von Wörtern, Phrasen und Sätzen sein. Diese ist deshalb so schwierig zu beschreiben, weil es zwischen unterschiedlichen Menschen, selbst wenn sie die gleiche Sprache sprechen) zu ganz unterschiedlichen Ansichten dessen kommen kann, was ein Wort oder ein ähnliches Element bedeutet. Jeder Mensch hat ein anderes Empfinden für die durch Sprache transportierten Inhalte und die sich daraus ergebenen Beziehungen zwischen diesen Elementen. Gleichwohl ist es aber diese Ebene, an der sich die Geister scheiden, die die größte Sensibilität und Spracherfahrung erfordert, eben weil sie so schwer zu verallgemeinern ist.

Auf der semantischen Ebene sind es Fragen der Beziehungen zwischen Wörtern, Phrasen und Sätzen, die über Ordnung oder Unordnung entscheiden. So kann es zu Brüchen kommen, wenn man Wörter unterschiedlicher Stilebenen kombiniert. In dem Satz: “Das Diner war beschissen”, passt entweder das ‘Diner’ oder das ‘beschissen’ nicht. Denn das eine ist ein gestelztes Fremdwort und das andere entstammt der Fäkalsprache. Brüche können sich aber auch ergeben, wo Wörter verschiedener Bedeutungskategorien aufeinanderprallen. Die Wörter Fisch, Frosch und Flusskrebs bezeichnen bspw. relativ kleine, im Wasser lebende Geschöpfe. Das Wort Elephant würde nicht dazu passen. Ebenso kann ein Satz wie “Gelbes Sonnenlicht durchströmte warm die Axt”, zu Verwunderung führen, weil die Axt als etwas Kaltes, Hartes und Scharfes empfunden wird, also eine völlig andere Atmosphäre schafft, als das warme Licht.

Auch zwischen größeren semantischen Einheiten sollten diese Relationen bedacht werden. So erscheint es zum Beispiel nicht sinnvoll, einen anderen Menschen zu beschreiben und nachdem man bei den Haarspitzen begonnen hat, bei den Fingernägeln weiter zu machen, dann zu den Lippen und den Ohrläppchen zu kommen, um danach etwas über die Fersen und die Oberschenkel zu sagen. Viel besser gegliedert ist solch eine Beschreibung, wenn sie bspw. von unten nach oben oder von links nach rechts geschieht oder wenn bei den großen Gliedern des Körpers begonnen wird, um dann mit den kleinen Gliedern des Gesichtes fortzufahren oder dergleichen mehr.

Wenn wir Dinge thematisieren, sei es in einem Roman, einem Essay oder einem Gedicht, dann ist es sinnvoll, die Einzelaspekte geordnet vorzutragen, z.B. nach ihrer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, nach ihrer Farbe, ihrem Klang oder ihrer Wichtigkeit und nicht in den Gedanken hin und her zu springen und dadurch Unruhe und Verwirrung zu stiften Dies erlaubt es dem Zuhörer oder Leser, der Sache besser zu folgen und diese zu erinnern. Außerdem ist es möglich, auf semantischer Ebene hervorragende Redefiguren zu erzeugen, in dem man z.B. mit Vergleichen arbeitet, homonyme Worte (z.B. Ball und Ball) umdeutet oder bewusst Gegensätzlichkeiten gegenüberstellt. Auch dadurch können sich wieder sprachliche Muster ergeben, die letztlich eine Idee von Form vermitteln.

Sprache ist ein komplexes System aus Zeichen, kleinen Elementen, die zu größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Wie wir diese Elemente zusammenfügen und nach welchen Kriterien wir sie (an-)ordnen hängt ganz davon ab, in welcher Sprechsituation wir uns befinden, bzw. was wir mit unserem Sprechen bezwecken. Der Künstler ist dabei nur sich selbst verpflichtet. Seine Kreativität wird einzig durch sein Können begrenzt.

Aug. 2005

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005