Oder ich schreib es untereinander…

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Xipulli hat mich gerade auf einen Dialog eines Buchmesse-Korrespondenten des Spiegels im SpOn hingewiesen. Mal abgesehen davon, dass es sich das „Kafkas-Porno-Skandal-Blatt“, der Spiegel, eigentlich nicht mehr leisten kann, über die intellektuelle Abgedroschenheit von Autoren, Verlagen und Buchmesse und Mittelmäßigkeit des marktwirtschaftlich bestimmten Schrifttums abzulästern, findet sich in diesem Dialog ein Absatz, den ich wegen seiner Herrlichkeit hier einfach mal anführen muß:

HH: Der Hammer ist immer schon eine schlechte Metapher gewesen, außer im Heavy Metal, Sven! Weißt du schon, was du in deinem Blog schreiben willst?

Sven: Irgendwas Erbauendes. Was die Leute aufrichtet in schwerer Zeit. Was man da so erlebt auf der Buchmesse und so. In kurzen, knappen Sätzen. Die trotzdem schön sind.

Oder ich schreib
Es untereinander
Dann
Ist es ein
Gedicht.

Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,584072,00.html

Es scheint inzwischen also auch anderen als mir irgendwie schon aufgegangen zu sein, dass das derzeitige Verständnis des Wortes „Gedicht“ irgendwie hirnrissig sinnentleert ist und eigentlich nur noch an formal graphischen Aspekte eines Textes festzumachen ist. Danach wäre das Gedicht die einzige Textform, die sich auf Grund ihres schriftlichen Layouts auf dem papier definiert und nicht etwa wie andere Texte anhand ihrer sonstigen Sprachformalen, semantisch-perspektivischen oder funktionalen Aspekte.

Ich habe darüber ja immer den Kopf geschüttelt, weil es nicht mit meiner Idealvorstellung zusammenpassen will, das ein guter Dichter heutzutage wohl eher Grafikdesigner als Sprachakrobat sein muß und mich mit mir selbst darauf geeinigt, dass ich das, was ich so geschrieben habe, in einem gedruckten Buch wohl eher nicht mehr Gedicht nennen würde, weil dieses Wort beim Leser einfach völlig falsche Assoziationen von dem auslöst, was ihn erwartet.

Aber ja, gut, ich muß das jetzt nicht weiter breittreten. Hatte ich ja vor zwei Jahren schon im Artikel Das Auge erkennt den Vers und besonders produktiv ist es ja nun auch wieder nicht, sich daran festzubeißen. Also akzeptiere ich für mich und meine Sprachakrobatik einfach, dass der graphische Aspekt, der ja durchaus Bestandteil unserer Sprachkultur ist, einfach eine weitere Dimension für meinen Kreativpool ist. Damit – nicht mit der Reduktion darauf – kann ich leben.

Die rhetorische Periode

Donnerstag, 27. März 2008

Die rhetorische Periode ist ein Ordnungsprinzip formaler Sprache, das meine Sicht auf den freien Vers verändert und geschärft hat. Die Ästhetik der Ausgewogenheit von Wiederholung und Variation, aber auch die Freiheit und Flexibilität individueller Musterbildung erzielen eine spezifische Wirkung und üben einen besonderen poetischen Reiz aus.

Die rhetorische Periode

Ich habe früher oft Texte kritisiert, die sich nur durch optische Zeilenumbrüche als Gedichte zu erkennen gaben, sonst aber formal der Prosa entsprachen. Die Kritisierten wandten ein, dass es sich doch um freie Verse handle, aber ich hatte daran stets meine Zweifel. Mit dem Begriff „Vers“ verband ich einen Grad an Formalisierung, der über Prosa hinausgeht; „frei“ bedeutete für mich nur, dass die sprachliche Formalisierung nicht nach dem einheitsstiftenden metrischen Prinzip funktioniert, sondern nach einem fein ausgewogenen Spiel von Wiederholung und Variation, von Dynamik und Pause, Spannung und Entspannung, Regelaufbau und Regelbruch, etc. pp.

In Manfred Fuhrmanns „Antiker Rhetorik“ (im übrigen eine insgesamt sehr empfehlenswerte Lektüre) stieß ich schon vor einigen Jahren auf das formale Prinzip der rhetorischen Periode, das ich für einen wichtigen Aspekt zum Verständnis des freien Verses halte. Das trifft natürlich auch auf den metrischen Vers zu, denn kein zeitliches Ereignis in ihm ist einheitlicher, als die wiederholte Abfolge von Hebung und Senkung. In der rhetorischen Periode haben wir es aber mit syntaktischen Einheiten zu tun, die sich als Kola oder Kommata in einer sehr sorgsam gegliederten Binnenstruktur präsentieren. Zu solchen Kola oder Kommata finden sich Worte, Phrasen und Sätze. Jeder Linguistikstudent wird die hierarchischen Stemma kennen, die sich aus einer Satzanalyse ergeben. Bei einer rhetorischen Periode liegt eine wie auch immer geartete Form von Symmetrie innerhalb dieses Stemmas vor.

Ein Beispiel des Fachbereichs Linguistik der Uni Potsdam:

  1. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Willst du uns mit deiner Tollheit noch lange verhöhnen? Merkst du nicht, dass deine Dreistigkeit vermessen ist?
  2. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?

Inhaltlich haben beide Texte gleichen Gehalt. Formal unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander, wodurch sie eine völlig andere Wirkung entfalten. Sehr deutlich zeigt der zweite Text ein Ordnungsprinzip, das auf der Parallelisierung der syntaktischen Einheiten beruht, ergo der rhetorischen Periode entspricht. Jeder der drei Sätze im zweiten Text ist grammatisch gleich oder sehr ähnlich gebaut. Es handelt sich um drei Fragesätze, die zuerst eine adverbiale Angabe, dann das finite Verb, dann das Subjekt, dann das Akkusativobjekt und zu letzt ein infinites Verb anführen.

adverbiale Angabe finites Verb Subjekt Akkusativobjekt infinites Verb
Wie lange noch willst du unsere Geduld mißbrauchen?
Bis wann soll deine Tollheit uns verhöhnen?
Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich vermessen?

Das Prinzip der Wiederholung ist hier also die Parallelisierung der Phrasen. Variation findet sich im ersten Satz durch die eingeschobene Anrede „Catilina“, in nachfolgenden durch das eingeschobene Partikel „noch“, im letzten durch die Rückbezüglichkeit des Objektes „sich“ und in vielen weiteren, kleinen Details. Doch die Parallelisierung ist nur eine Möglichkeit der syntaktischen Ordnung, weitere könnten die Reihung (a1, a2, a3), der Chiasmus (a1 b1 a2 b2), der Krebs und Spiegelung (a1 b1 b2 a2), die Mehrung (a ab abc), die Identität (a, a, a) und dergleichen mehr sein. Die Einheiten können Phrasen, wie Wortgruppen sein, können einzelnde Wörter betreffen (z.B. in der Aufzählung), können Wortarten betreffen oder ganze Sätze.

Die rhetorische Periode präsentiert sich also formal geschlossen, in ihrer Ordnung aber in sich sehr variabel und flexibel. Pausen entstehen an Nahtstellen, aber die Länge der Pausen ist unterschiedlich, ebenso schwankt die Betonungsstärke der betonungstragenden Elemente. Sie ist reizvoll locker gebunden, wirkt aber weder willkürlich, noch wie ein stechschrittiger Marsch. Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der grammatischen Sachkenntnis (die kann man sich zur Not anlesen, wenn man sie nicht intuitiv mitbringt), sondern in der Sensibilität für Maß und Gewichtung von Einheiten und daraus resultierenden Klangphänomenen, wie Pausen und Betonungen. Die Ästhetik zerbricht hier, wie überall, an einem zu hohen Maß an Wiederholung (daraus folgt Langeweile), ebenso wie an einem zu hohen Maß an Variation (daraus folgt Unordnung).

Von der rhetorischen Periode zum freien Vers

Man kann dieses freie Ordnungsprinzip der rhetorischen Periode über syntaktische Aspekte hinaus weiterspinnen und z.B. auch den Bereich der Phonetik, Semantik und Morphologie mit einbeziehen. Sogar Annäherungen an metrische Prinzipien durch Musterbildung in Silbenzahlen und -längen/Betonungen ist denkbar. Als Beispiel dient der erste Absatz von Friederike Mayröckers „Ode an einen Ort“:

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
Glocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
geschnäbelt ins graue Licht
ätzend den Trauerhimmel
mit Botschaft von Dir zu mir:

Obwohl dieses Gedicht nicht metrisch ist, zeigt schon die erste Zeile ein deutlich höheres Maß an formaler Gebundenheit als jede Prosa. „Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk“ – Hier wird vorallem viel mit dem Reim gearbeitet, die syntaktische Figur schließt sich im Zweiten Teil der Zeile dieser Reimschematik an. Man beachte Zunächst die Häufung an /t/ /ä/ /äu/ und /ü/. Dann folgt die Sequenz „Träume – Hütte – Thron – Türme – Gebälk. Dies ist syntaktisch gesehen eine Reihung, Aufzählung, lautlich ist sie am /o/ von Thron gespiegelt: ä-ü-o-ü-ä. Semantisch wird der Traum zur Spiegelachse, denn die vier folgenden Begriffe sind Lokalitäten (Orte), ebenso wie die „Heimstätte“ am Anfang der Zeile. Es finden sich weitere Klangparallelen zwischen /ei/ und /äu/ und zwischen /äu/ und /ü/. Auch das /h/ wird exponiert. Das harte Gebälk am Schluß sprengt diese Klangkaskade schroff auf, nicht nur durch seinen stimmhaften, gutturalen Anfang /g/, sondern auch und vorallem sein gutturales und stimmloses Ende /k/ (harte Kadenz). Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel dür den freien Vers zu tun, nicht metrisch, nicht prosaisch, sondern ein Ding in der Mitte.

Eine solche formale Strukturierung von Sprache macht den grafischen Zeilenumbruch als Kennzeichnung poetischer Sprache meines Erachtens überflüssig, da die Sprache selbst schon ausreichend poetisch ist, um nicht als Prosa verkannt zu werden (was nicht heißt, dass der Zeilenumbruch keine berechtigte Funktion hätte). Aber hier zeigt sich, warum auch die im Fließtext gedruckten „Petites poèmes en prose“ von Baudelaire auch ohne optische Gliederung durch Zeilenumbrüche immer noch als verses libres zu erkennen sind.

Ich habe mich selbst nie an den vers libre gewagt, weil ich ihn in der Tat für ein Wagnis, ein höchst anspruchsvolles Unterfangen halte. Aber ich habe sehr schöne freie Verse gelesen und mich in Prosatexten schrittweise in der freien formalen Musterbildung probiert. Der freie Vers ist und bleibt ein äußerst interessantes sprachliches Phänomen; die rhetorische Periode hat mir geholfen, mich dafür zu sensibilisieren.

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Quellen:

  • Manfred Fuhrmann, „Die antike Rhetorik“, Artemis & Winkler, 19954, S. 139f
  • Mayröcker zitiert aus: Karl Otto Conrady, „Das grosse deutsche Gedichtbuch“, Athenäum Verlag, 1977

Baudelaire. Portrait eines poète maudit

Montag, 24. April 2006

Charles Baudelaire, der am 9. 4. 1821 in Paris geboren wurde, gilt heute als das wahre Sinnbild des poète maudit – das verkannte Genie, das ewig durch die grausame, unschöne Welt ziehen muß, Liebe suchend und Elend findend. Doch der Flaneur Baudelaire hat seine Geburtsstadt selten verlassen. Nachdem er 1836- 39 das Collège Louis- le- Grand besucht hatte, führte er als Dandy ein freies Leben in der Pariser Bohème, wo er u.a. Nerval, Champfleury, Gautier, Dupont, Balzac und seine langjährige Geliebte Jeanne Duval kennenlernte. Obwohl er nie ein festes Metier hatte, arbeitete er gelegentlich als Kunst- und Literaturkritiker, Journalist oder Redakteur. Doch sein Streben nach einer perfekt schönen Dichtungssprache, veranlaßt ihn bald, sich auf das Schreiben von Gedichten zu konzentrieren. In vollendet schönen Versen bringt er nun sein unüberbrückbares Leid und seine Unerfüllten ästhetischen Sehnsüchte in einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt zum Ausdruck. Meist sucht er den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft mystisch und okkult gefärbten Ästhetizismus.

In seinem 1857 erscheinenden Gedichtband „Les Fleures du Mal“, seinem Haupt- und Lebenswerk (an einigen Gedichten arbeitete der Poet über dreißig Jahre), thematisiert Baudelaire die Diskrepanzen der menschlichen Seele. Er verdeutlicht ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung, Reinheit und Schmutz, Aufschwung und Verzweiflung, Genuß und Ekel- eben Spleen und Ideal, wie einer der Auszüge aus dem Band betitelt ist. Da es Baudelaire als seine Aufgabe ansieht, eine zeitlose, absolute und autonome Idee des Schönen in der Poetisierung der Gegenwart zum Erscheinen zu bringen, ist seine poetische Leitfigur der Dandy, der Flaneur, der dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt und gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, durch Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satanischen“ Wesens revoltiert. Deutlich tritt in den „Fleures du Mal“ Baudelaires leidenschaftliche Auflehnung gegen alle Konventionen der trivial- bürgerlichen Gesellschaft, Moral und Religion hervor. So reichen seine Textinhalte von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit. Doch der Poète maudit ist seiner Zeit weit voraus und noch im selben Jahr werden die „Fleures“ wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral gerichtlich angeklagt und einige Gedichte daraus sogar verboten.

Dennoch schafft es Baudelaire, einen Kreis von Dichtern um sich zu scharen, die durch Moreas, der der neuen Strömung ihren Namen gibt, bald als Symbolisten bekannt werden. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, u. a. berufen sich auf das Prinzip L’ Art pour l’ art, welches das Kunstwerk als ein eigengesetzliches und eigenwertiges Gebilde ansieht, das frei von allen Bindungen ist, ob religiöser, ethischer oder politischer Art. Auf die unbedingte Verständlichkeit ihrer Werke kommt es ihnen nicht mehr an. Ihr Hauptwert liegt vielmehr in der kunstvollen Form, der Klang- und der Wortmagie. So nutzen sie Wörter mit assoziativen Klangwirkungen und sprachkünstlerische Akzentuierungen von Rhythmus, Melodie und Satzbau. Durch Klangfarbe, Sprachmusik und Lautmalerei werden geschickt Synästhesien hergestellt, die Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren. Traum- und Albtraumbilder überlagern sich, fließen ineinander und verschmelzen. Angestrebt wird eine weitgehende Autonomie der genutzten Symbole. Diese soll eine Verschlüsselung des Gemeinten bewirken und bietet so nicht nur Spielraum für die Interpretation der Werke, sondern führt sogar bis hin zur tendenziellen Beliebigkeit ihrer Sinngebung. Denn das Ziel der Symbolisten war es, hinter den Erscheinungen, Zuständen, Wortfassaden und Sprachgesten tiefere, verborgene Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität zu erschließen.

Mit seinem 1868 im Postum erschienen Werk „Petits Poèmes en Prose“ ebnet Baudelaire den Weg für den Vers libre. Er berichtet von Rauscherlebnissen in „Les Paradies artificiels. Opium et Haschisch“ und schreibt zahlreiche kunstkritische Aufsätze, wie „La Peintre de la vie moderne“ oder „Curiosité esthétique“. Auf einer Reise durch das ihm verhaßte Belgien kommt es 1866 auf Grund von Konflikten mit Verlegern, Presse und Zensur und durch seinen exzessiven Lebensstil zum gesundheitlichen Zusammenbruch Baudelaires. Am 31. 8. 1867 verstirbt er in Paris und hinterläßt seinen Anhängern eine moderne, zeitgemäße, jedoch zugleich überzeitliche Lyrik.

Nov. 2001
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  • Ch. Baudelaire: Les Fleures du Mal, franz./dt. Reclam 1998
  • Die französische Literatur, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1988
  • Lexikon der französischen Literatur, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1987
  • J.P. Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Rowohlt 1997
  • Bertelsmann Discovery, 1997

Das Auge erkennt den Vers

Sonntag, 12. März 2006

Seit ich angefangen habe, mich in Zusammenhang mit meinem kommenden Buch ernsthaft mit dem Layout von Gedichten zu befassen, geht mir ein Zitat Wolfgang Kaysers nicht mehr aus dem Kopf. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind”, heißt es da. “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.”

Jedem, der sich mit der Materie eingehender befaßt hat, sollte klar sein, dass es voreilig wäre, dies als Dummschwätzerei zu verwerfen. Denn es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass das visuelle Erscheinungsbild eines Textes Einfluß auf das Rezeptionsverhalten des Lesers hat. Sieht dieser nämlich Text mit zahlreichen, frühzeitig erzwungen Zeilenumbrüchen, so ordnet er ihn zunächst einmal pauschal der Kategorie Gedicht zu.

Dass er das tut, ist eine Frage der Gewohnheit. Denn es ist heute üblich, Gedichte in der oben beschriebenen Form zu präsentieren, sofern dies auf schriftlichem Wege geschieht.

Das war aber nicht immer so. Als Gedichte noch primär über das Ohr rezipiert wurden, war es nicht nötig, ihre Verse für das Auge zu gestalten. Metrische Rhythmen, Reimfolgen, Zäsuren und Kadenzen, all das, was die Verstruktur ausmachte, war (und ist) ja hörbar. Zudem war der Beschreibstoff, das aus Tierhaut gefertigte Pergament, wertvoll und teuer. Ein verschwenderisches Layout wäre undenkbar gewesen. Verse wurden deshalb im Fließtext, also hintereinander weg wie heute bspw. ein Roman oder eine Kurzgeschichte notiert. Zur Orientierung des Lesers dienten lediglich Reimpunkte.

Als aber das stille Lesen prominenter wurde, wollte man die hörbare Struktur der gebundenen Verse auch optisch vernehmbar machen. Also gliederte man den Text auf dem Papier so, dass jeder Vers eine eigene Zeile bekam und zwischen jeder Versperiode (Strophe) ließ man eine Leerzeile. Dadurch entstand das typische Gedichtlayout mit den zu Gruppen zusammengefaßten, umgbrochenen Zeilen.

In der Folge dessen erlebte das graphische Layout eine regelrechte Emanzipation. Stephan Mallarmé, ein französischer Symbolist, ließ in seinem Gedicht “Un coup de dés” (Ein Würfelwurf) die Verse erstmals in Kaskaden über das Papier springen und erhob die Graphik damit zum poetischen Element. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den Figurengedichten der Dadaisten und auch innerhalb der konkreten Poesie nimmt sie seit den 1950gern einen nicht unwesentlichen Stellewert ein.

Heute geht es beim Gedichtlayout in den seltensten Fällen darum, dem Auge die lautlichen Strukturen einer Versdichtung zu erkennen zu geben, zumal sich die wenigsten Verse heute noch durch Metrum und Reim auszeichnen. Die Graphik selbs wird zum Träger poetischer Inhalte und bietet der Dichtung damit neue, grenzüberschreitende Perspektiven.

Nun könnte man annehmen, diese Entwicklung hätte zu individuelleren und facettenreicheren Gedichtlayouts geführt. Dennoch halten Verfassser heute überwiegend am “klassischen” Layout mit umgebrochenen Zeilen und Leerzeilen fest. Und dies seltsamerweise sogar dann, wenn ihre Verse gar keine Reime und Metren aufweisen und durch die Anordnung der Worte im Raum gar keine poetischen Inhalte transportiert werden sollen. Welchen Zweck hat es da noch, Prosagedichte klassisch zu gliedern?

Antwort auf diese Frage gibt Wolfgang Kayser mit dem oben angeführten Zitat: “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.” Der Vers ist nicht mehr Vers, weil er mit Sprache spielt und ihre Symbolhaftigkeit erkennt, sondern weil er wie ein Vers aussieht. Es ist so, weil es so zu sein scheint; das Layout ist zur Etikettierung geworden. Der Zeilenumbruch erfüllt den Zweck, einen beliebigen Text zum Gedcht zu machen. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind.”

Essay: Formlos bloß lose Form

Freitag, 10. März 2006

Wenn ich an Gedichten von Hobbyautoren die mangelnde Form kritisierte, hielten diese oft entgegen, Gedichte müßten nicht immer reimen. Das ist korrekt, doch wie sollte ich klarmachen, dass es meine Kritik trotzdem nicht entkräftete? Was ist eigentlich poetische Form, wodurch und wie ergibt sie sich in einem Gedicht? Der Antwort auf diese Fragen rückte ich näher, als ich mich mit dem Werk des Komponisten Claude Debussy befaßte, dem man seinerzeit ebenfalls vorwarf, seine Stücke seien formlos. Ausgehend von einem Zitat Adornos schreibe ich in diesem Essay über die Formbarkeit poetischer Sprache.

Formlos bloß lose Form
Ein kurzer Versuch über sprachliche Form und Formbarkeit von poetischen Texten

Noch vor 70 Jahren warfen Gelehrte dem französischen Komponisten Claude Debussy (1862 – 1918) vor, seine Musik sei formlos. Sie folgt nicht den klassischen Mustern von Fuge, Sonate oder Tanz und war damit schwer fassbar. Dass sie dennoch funktioniert und alles andere als formlos ist, haben Studien inzwischen aufgedeckt. Sie organisiert sich auf einer anderen Ebene und durch andere Elemente, als ihre klassischen Vorläufer, ist aber deswegen nicht weniger formvollendet.

Auch ein Gedicht, welches nicht in Sonett-, Oden- oder sonstigen Strophen verfasst ist, ist nicht automatisch formlos und dennoch verbinden viele Dichter auch im Zeitalter der prosaischen Lyrik den Begriff der Form fast ausschließlich mit den Möglichkeiten metrischer Gestaltung. Wie arm erscheint dieser Blickwinkel doch in Anbetracht der hohen Komplexität des Zeichensystems Sprache! Die daraus folgende Konsequenz ist eine Unsensibilität gegenüber anderen Möglichkeiten formeller Gestaltung und natürlich deren Vernachlässigung während des Schaffensprozesses.

Metrikbefürworter verlassen sich darauf, dass allein die Anwesenheit von Versen und Strophen ihrem Gedicht Struktur und Linie gäben und schärfen den Blick nicht für die darüber hinausgehenden Elemente sprachlicher Ordnung. Metrikgegner üben sich hingegen oftmals überzeugt in genereller Ignoranz gegenüber allem, was eine Idee von Form vermitteln könnte. Der eine Standpunkt erscheint so blauäugig, wie der andere. Dabei ist der hohe Grad an sprachlicher Formalisierung, den wir in den Sonetten Dantes (1265 – 1321) ebenso finden, wie in den Konstellationen Gomringers (*1925), neben der relativen Kürze, wohl eines der anerkanntesten Charakteristika des Gedichtes.

Form ist “der Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert”, schreibt Theodor W. Adorno (1903 – 1969) in seinem Aufsatz “Form in der neuen Musik”. Sie beziehe sich “auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht.”

Form ist also etwas, das sinnlich wahrgenommen wird, ein wesentlicher Aspekt eines jeden ästhetischen Geschöpfs, so auch des Gedichts. Wenn wir der strukturalistischen Sprachwissenschaft (Linguistik) glauben dürfen, ist sie der Sprache ureigen. Denn jedes sprachliche Zeichen, z.B. ein Laut, ein Buchstabe, eine Silbe, ein Wort oder dergleichen, verweist gleichsam auf das durch dieses Zeichen Bezeichnete, seinen Inhalt. Form (z.B. /Baum/) und Inhalt (z.B. /stämmige Grünpflanze/) sind also untrennbar miteinander verbunden.

Die bloße Tatsache, dass Sprache ohne Form also nicht möglich ist, scheint allein aber nicht auszureichen, um sie als Quell ästhetischer Komposition formell vernehmbar zu machen. Denn ein sprachlicher Text erscheint schnell unordentlich und chaotisch, wo er keine Linie verfolgt. Die Frage ist also nicht nur, welches die Elemente der Sprache sind, die einem Text Form geben, sondern auch, wie diese sinnvoll organisiert werden könnten, um einen Eindruck formeller Ordnung zu vermitteln, der über bloße metrische Strukturen hinausgeht, bzw. derer ungeachtet funktioniert.

Was genau als ordentlich/geordnet empfunden wird, ist relativ schwierig zu verallgemeinern. Sicher ist aber, dass ein gewisser Grad der Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit damit einhergeht und dass Wiederholung und Variation starken Einfluss darauf haben. Ein Text, der sich z.B. aus willkürlich zusammengesetzten Gedankensplittern ergibt, vielleicht nur unvollständige Sätze bringt, abgehackt und unflexibel klingt und dazu noch kreuz und quer auf dem Blatt angeordnet ist, wird schwerlich als ordentlich empfunden werden, selbst wenn der offensichtlichen Unordnung ein System zugrunde liegen sollte. Demgegenüber fällt einem die formelle Ordnung eines kohärenten und gegliederten Textes vielleicht erst einmal gar nicht auf, weil man sie als Selbstverständlichkeit empfindet.

Grundlegend unterscheide ich vier Ebenen, auf denen sprachliche Formalisierung möglich ist. Diese Ebenen greifen natürlich ineinander, sind kombinierbar und daraus ergeben sich ganz herrliche Möglichkeiten.

Eine Ebene, die mit dem Begriff “Metrik” bereits angesprochen wurde, ist die Ebene der Lautlichkeit, phonetische Ebene genannt. Alles was an Sprache klingt, also z.B. Gleichklangsgebilde, wie Reime, Assonanzen oder Alliterationen, Akzente, aber auch Pausen, Betonungen, Konsonant- und Vokalfarben, alles, was akustisch wahrnehmbar ist, gehört in diesen Bereich. Ein metrischer Text ist im Bereich der Lautlichkeit sehr streng geordnet, weil die Abfolgen von betonten und unbetonten Silben, von Pausen und z.T. auch von Reimen sehr vorhersehbar sind. Aber auch ein prosaischer Text muss auf lautlicher Ebene nicht unweigerlich unordentlich sein. Auch hier können sich Tendenzen der Periodisierung herausstellen, z.B. Abschnitte von gleicher Silbenzahl zwischen Pausen oder Gebilde von symmetrischer Betonungsfolge, doch sind diese bei weitem nicht so regelmäßig, wie in einem metrischen Text (s. dazu “Zwei ungleiche Paare”).

Eine weitere, relativ naheliegende Ebene der Strukturalisierung, ist die syntaktische Ebene. Dazu gehört alles, was mit dem grammatischen Bau der Sprache zusammenhängt, also z.B. Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, Verbindungselemente, grammatische Phrasen und Figuren, wie Chiasmen, aber auch Beugung von Nomen in den verschiedenen Fällen (Deklination), Steigerung von Adjektiven (Komparation) oder in den verschiedenen Personen gebeugte Verben (Konjugation). Die großen Redner der Antike setzten die Gliederung auf syntaktischer Ebene sehr bewusst ein und formten oft Sätze, denen eine grammatische Periodik zugrunde lag. Syntaktische Elemente verschiedener Art können dabei zu symmetrischen oder sonstig regelmäßigen Gebilden geformt werden.

Intrigen und Zwietracht, Gezanke und Streit – wer wird dieses Feuer jemals löschen, wer wird es sein?

Dieser Satz teilt sich in vier Perioden, zwei Aufzählungen und zwei Fragen. Die Aufzählungen bestehen jeweils aus zwei Elementen, die durch ein ‘Und’ verbunden sind und folgen beide dem Schema a + b. Die zwei Fragen beginnen jeweils mit einem Interrogativpronomen und enden mit einem Infinitiv. In der zweiten Frage ist das Akkusativobjekt durch ein unspezifisches ‘Es’ ersetzt. Ansonsten haben auch diese beiden Teile dieselbe grammatische Form. Zusätzlich werden bei diesem Beispiel auch lautliche Schemata wieder aufgenommen.

Eine dritte Ebene ist seit den Versuchen der konkreten Poesie zunehmend ins Blickfeld formaler Sprachbetrachtungen gerückt, die graphische. So hat jeder geschriebene Text ein Aussehen, das sich aus den einzelnen Zeichen für die Buchstaben und der Anordnung dieser Zeichen auf dem Blatt oder dem zu beschreibenden Medium ergibt. Die für das Gedicht typische Optik ist die Anordnung des Textes in kürzere Zeilen und Absätze, so dass um das Geschriebene herum viel unbeschriebener Raum ist. Diese Anordnung entwickelte sich ursprünglich aufgrund der lautlichen Strukturen von Gedichten. So machte man Zeilenumbrüche nach Kadenzen (Pausen, die am Versende entstehen) und Absätze nach Strophen, um dem stummen Leser das Erfassen dieser lautlichen Strukturen zu erleichtern. In prosaischen Texten, wie Romanen oder Essays, werden Absätze hingegen nach Sinneinheiten gemacht, während Zeilen meist nicht umgebrochen werden.

Verschiedene andere Aspekte sprachlicher Formalisierung waren früher also dafür verantwortlich, dass ein Text diese oder jene Optik erhielt. Heutzutage ist die Optik selbst jedoch zu einem Aspekt sprachlicher Formalisierung und also künstlerischen Ausdrucks geworden. So finden sich Gedichte, die den Gegenstand abbilden, den sie thematisieren, oder auch mit der Anordnung der Worte selbst spielen, in dem sie Kaskaden oder andere Linien nachbilden und Worte kreuzen, spiegeln oder ähnliches.

Der am schwersten zu fassende Bereich sprachlicher Formalisierung dürfte aber wohl die semantische Ebene, die Ebene der Bedeutung von Wörtern, Phrasen und Sätzen sein. Diese ist deshalb so schwierig zu beschreiben, weil es zwischen unterschiedlichen Menschen, selbst wenn sie die gleiche Sprache sprechen) zu ganz unterschiedlichen Ansichten dessen kommen kann, was ein Wort oder ein ähnliches Element bedeutet. Jeder Mensch hat ein anderes Empfinden für die durch Sprache transportierten Inhalte und die sich daraus ergebenen Beziehungen zwischen diesen Elementen. Gleichwohl ist es aber diese Ebene, an der sich die Geister scheiden, die die größte Sensibilität und Spracherfahrung erfordert, eben weil sie so schwer zu verallgemeinern ist.

Auf der semantischen Ebene sind es Fragen der Beziehungen zwischen Wörtern, Phrasen und Sätzen, die über Ordnung oder Unordnung entscheiden. So kann es zu Brüchen kommen, wenn man Wörter unterschiedlicher Stilebenen kombiniert. In dem Satz: “Das Diner war beschissen”, passt entweder das ‘Diner’ oder das ‘beschissen’ nicht. Denn das eine ist ein gestelztes Fremdwort und das andere entstammt der Fäkalsprache. Brüche können sich aber auch ergeben, wo Wörter verschiedener Bedeutungskategorien aufeinanderprallen. Die Wörter Fisch, Frosch und Flusskrebs bezeichnen bspw. relativ kleine, im Wasser lebende Geschöpfe. Das Wort Elephant würde nicht dazu passen. Ebenso kann ein Satz wie “Gelbes Sonnenlicht durchströmte warm die Axt”, zu Verwunderung führen, weil die Axt als etwas Kaltes, Hartes und Scharfes empfunden wird, also eine völlig andere Atmosphäre schafft, als das warme Licht.

Auch zwischen größeren semantischen Einheiten sollten diese Relationen bedacht werden. So erscheint es zum Beispiel nicht sinnvoll, einen anderen Menschen zu beschreiben und nachdem man bei den Haarspitzen begonnen hat, bei den Fingernägeln weiter zu machen, dann zu den Lippen und den Ohrläppchen zu kommen, um danach etwas über die Fersen und die Oberschenkel zu sagen. Viel besser gegliedert ist solch eine Beschreibung, wenn sie bspw. von unten nach oben oder von links nach rechts geschieht oder wenn bei den großen Gliedern des Körpers begonnen wird, um dann mit den kleinen Gliedern des Gesichtes fortzufahren oder dergleichen mehr.

Wenn wir Dinge thematisieren, sei es in einem Roman, einem Essay oder einem Gedicht, dann ist es sinnvoll, die Einzelaspekte geordnet vorzutragen, z.B. nach ihrer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, nach ihrer Farbe, ihrem Klang oder ihrer Wichtigkeit und nicht in den Gedanken hin und her zu springen und dadurch Unruhe und Verwirrung zu stiften Dies erlaubt es dem Zuhörer oder Leser, der Sache besser zu folgen und diese zu erinnern. Außerdem ist es möglich, auf semantischer Ebene hervorragende Redefiguren zu erzeugen, in dem man z.B. mit Vergleichen arbeitet, homonyme Worte (z.B. Ball und Ball) umdeutet oder bewusst Gegensätzlichkeiten gegenüberstellt. Auch dadurch können sich wieder sprachliche Muster ergeben, die letztlich eine Idee von Form vermitteln.

Sprache ist ein komplexes System aus Zeichen, kleinen Elementen, die zu größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Wie wir diese Elemente zusammenfügen und nach welchen Kriterien wir sie (an-)ordnen hängt ganz davon ab, in welcher Sprechsituation wir uns befinden, bzw. was wir mit unserem Sprechen bezwecken. Der Künstler ist dabei nur sich selbst verpflichtet. Seine Kreativität wird einzig durch sein Können begrenzt.

Aug. 2005

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005