Kontrollprinzipien im Open-Source Bereich
„Verfassungsrichter beklagt Anonymität bei Wikipedia“, lautet der Titel eines Artikels im bei golem.de, den ich gerade gelesen habe. Darin wird Udo di Fabio, Richter am Zweiten Senat, zitiert, der befürchtet, dass durch die Anonymität der Autoren in der Online-Enzyklopädie, die öffentliche Meinung manipuliert werden könne. Es könnten sich bspw. anonyme Interessengruppen zusammentun und die Anarchie des Netzes für ihre Zwecke nutzen.
Ich habe ja in letzter Zeit immer viele Hoffnungen an die Kompetenz unserer BVerfG-Richter gehängt, aber irgendwie finde ich das gerade nicht besonders zuende gedacht von Di Fabio. Es ist erstens nicht so, dass nicht-anonyme Informationsanbieter weniger manipulativ auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken. Sogar die Blätter des sogenannten Qualitätsjournalismus berichten immer wieder einseitig oder mischen propagandistische Rhetorik in ihre Berichte. Sie versuchen zwar den Anschein Objektiver zu vermitteln, sind aber alles andere als neutral. Durch den Pluralismus verschiedenster Quellen im Internet kann man das sehr gut nachvollziehen, besser sogar, als ohne solche Vielfalt.
Andererseits bietet die Pluralität der Verfasser und Leser in der Wikipedia wiederum eine gute Kontrollmöglichkeit. Denn gibt es eine Gruppe, die sich zusammenschließt, um einen Wikipedia-Artikel zu manipulieren, gibt es eine andere, der das auffällt und die das hinterfragen wird. Es hat sich schon in einigen Diskussionen gezeigt, dass es hier immerwieder Auseinandersetzungen über die Neutralität von Artikeln gibt.
Natürlich kann es passieren, dass Artikel manipuliert oder sagen wir mal, durch die subjektive Meinung ihrer Verfasser gefärbt werden. Aber das passiert einer Print-Enzyklopädie ebenfalls, mir fällt da immer wieder der gravierende Unterschied in der Bewertung der Rolle Philippe de Vitrys zwischen der ersten und der zweiten Auflage der MGG ein. Insofern sollte sowieso jeder Recherchierende immer auf mehr als nur eine Quelle zurückgreifen. Das bringe ich sogar meinem neunjährigen Zöglich schon bei: „Du sollst nicht glauben, was geschrieben steht!“ (Ob nun on- oder offline.)
Dieses Prinzip der gegenseitigen Kontrolle durch Offenheit der Quellen würde m.E. auch im wissenschaftlichen und kreativen Bereich funktionieren. Viele Wissenschaftler scheuen sich z.B. davor, ihre Artikel im Internet öffentlich zur Verfügung zu stellen. Sie sagen, dann könnte ja jeder einfach rauskopieren und es als sein ausgeben.
Das kann man an sich auch, wenn ein Artikel nur im Print verfügbar ist und dann kann man es sogar noch viel besser kaschieren, da es nicht so ohne weiteres zu überprüfen ist, ob ein Gedanke aus einer alten, unbekannten Dissertation in der Bibliothek von Klein-Posemuckel stammt. Stünde diese Dissertation online, müßte man den Gedanken nur in eine Volltext-Suchmaschine eingeben und schwups träfe man sofort auf die Konkordanz. Dafür gibt es inzwischen sogar Software. Ähnlich habe ich es früher gehandhabt, um herauszufinden, ob irgendjemand meine als die seinen veröffentlicht hat. Zum Glück hatte ich im Internet immer den Beweise, dass ich diesen Text als erste veröffentlicht hatte und damit wohl der Verfasser sein muß.
Aber zurück zu Di Fabio, dem es ja um die Anonymität geht. Auch er schafft es, die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu manipulieren – ganz ohne Anonymität. Er tritt mit seinem Namen und seiner Autorität als Verfassungsrichter auf und tut seine Meinung kund. Sollte denn jetzt jeder glauben, dass wir ein Grundprinzip der Wikipedia aufgeben müssen, nur weil es sein könnte, dass jemand es für seine Zwecke nutzt? Ich denke nicht – und das ist der Geist der Aufklärung. Selbst denken und nicht darauf vertrauen was andere als „die Wahrheit“ postulieren, Argumente beschauen, Quellen überprüfen und nicht einfach hinnehmen. Das ist es, was wir unseren Kindern m.E. mitgeben und uns selbst aneignen sollten. Dann spielt die Anonymität der Wikipedia auch keine große Rolle mehr.
August 27th, 2009 12:45
Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich einen verunglimpfenden Artikel über ein mir bekanntes Projekt immer wieder versucht habe, zurecht zu rücken, was dann zu einem Nervenkrieg wurde. Denn kaum hatte ich eine Änderung geschrieben, war sie auch schon wieder weggelöscht…usw. usw. Und so stößt man immer wieder auf Rechthaber, die mit ihre Polemik für die Wahrheit halten und keine andere Sichtweise akzeptieren wollen.
Journalisten kann man zur Not wegen Verleumdung verklagen oder eine Gegendarstlellung verfügen lassen. Bei wikipedia wird das schwierig..
August 28th, 2009 09:16
Man muß, denke ich, sorgsam unterscheiden zwischen der Meinungsbildung unter Fachleuten, die mit wissenschaftlichen Methoden Quellen prüfen und vergleichen, und der öffentlichen Meinung, von der di Fabio sprach.
De facto sehen viele Menschen wikipedia als eine objektive Instanz an, auch weil die Artikel nicht namentlich gekennzeichnet sind und deswegen als Äußerung eines anonymen Kollektivs von Wissenden dastehen. Genau darin liegt auch meiner Ansicht nach eine Möglichkeit der Manipulation.
Ich gebe Dir recht: Natürlich wird auch das BVerfG und (zumindest unter Musikstudenten) auch die MGG-Enzyklopädie als eine hochqualifitierte Instanz mit fachlicher Autorität angesehen – zu Recht, sind doch diejenigen, die sich dort äußern, einen langen Weg durch ein aufwändiges Studium und zahlreiche Auswahlverfahren gegangen. Sie besitzen Autorität nicht zuletzt aufgrund eines vielfältigen peer reviews ihrer Arbeit. Natürlich spielen in einem Establishment neben fachlichen auch andere Qualitäten eine Rolle, aber es kann nicht geleugnet werden, daß Verfassungsrichter und MGG-Autoren in dem Fach, über das sie sprechen, angesehen und zu Hause sind. Hat es irgendjemandem von ihnen geschadet, daß die Artikel bzw. ein von einem Mehrheitsbeschluß abweichendes Sondervotum namentlich veröffentlicht wurden? Eher im Gegenteil.
Die Tatsache, daß Di Fabios Name hier öffentlich genannt wird, schließt es auch aus, das Wort „Manipulation“ hier zu gebrauchen. Manipulation impliziert auch einen gewissen Grad von Heimlichkeit, in der eine Meinung oder Entscheidung unbemerkt und gegen den Willen des Betroffenen beeinflußt wird. Di Fabio äußert einfach seine Meinung frei und öffentlich, wie es ihm die Verfassung zugesteht, und jeder kann ihm zustimmen oder nicht. Entscheidend ist: Seine Meinung wird als die Aussage seiner Person dargestellt, und das ist ehrlich, nicht manipulativ.
Bei Wikipedia besteht solange die Möglichkeit der Manipulation durch entpersonalisierte Scheinobjektivität, bis ein tiefgreifender Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft dazu geführt hat, daß die Mehrheit der Bevölkerung (die „öffentliche Meinung“) nicht mehr glaubt, was geschrieben steht; mit anderen Worten: auf unbestimmte Zeit.
Deswegen stimme ich Di Fabio zu und fände es begrüßenswert, wenn die Artikel gekennzeichnet würden. Das Recht, unter Pseudonym zu veröffentlichen, bleibt sowieso jedem unbenommen, so daß die Privatsphäre geschützt bleibt. Wahrscheinlich würden dann auch mehr Benutzer sofort erkennen, daß Wikipedia von fehlbaren Menschen erstellt wird – und ganz in Deinem Sinne kritischer Lesen und weitere Quellen heranziehen, bevor sie sich eine Meinung bilden.
Das ist meine Meinung.
Herzlich grüßend zeichne ich namentlich mit
Sigmar Erics
November 2nd, 2009 16:57
@ Sigmar Erics:
Na ja, in diesem Sinne sind die Artikel in der Wikipedia ja durchaus ’namentlich‘ gekennzeichnet. In der Spalte „Versionen/Autoren“ kann man nachlesen, wer welche Artikel wie verändert hat. Dort stehen oftmals Namen, weil die Beteiligten auch stolz auf ihre Arbeit sind, selten stehen lediglich IP-Adressen und selten bleiben deren Änderungen/Artikel auch langfristig erhalten. Es gab sogar vor nicht allzu langer Zeit eine interessante Entdeckung, nämlich dass Autoren mit dem IP-Range einer bestimmten Organisation tatsächlich zugunsten dieser Organisation manipulativ in der Wikipedia tätig war. Aber das wurde aufgedeckt und angeprangert, denn natürlich ist auch eine IP-Adresse nicht komplett anonym. Es ist schwierig, sich im Internet überhaupt anonym zu bewegen.
Insofern muß man sich also fragen, was bezweckt di Fabio mit seiner Bekundung? Hat er die Spalte „Versionen/Autoren“ übersehen oder bereitet er eigentlich die Forderung vor, die Bevölkerung mit „Internet-Pässen“ zur ein-eindeutigen Identifikation auszustatten? Diese Forderung kam während des Vorwahlkampfes von einigen Politikern und sie hat mich erschreckt, denn sie verbietet nicht nur Anonymität, sondern auch Pseudonymität – die weitaus häufigere Wahl der Internetnutzer.
@ Felix:
Ebenso wie du dir deine Meinung nicht verbieten lassen möchtest, möchten sich andere Leute eventuell auch die ihre nicht verbieten lassen. Dass andere Menschen andere Meinungen haben, ist gerade dann schmerzhaft, wenn sie gegen die eigene steht. Aber gerade hier zeigt sich, ob Meinungsfreiheit etwas gilt oder nicht. Wenn du meinst, dass dich ein Artikel verunglimpft, dann ist es dein Recht, auf deiner eigenen Website eine Gegendarstellung zu posten und diese eventuell sogar auf der Diskussionsseite zu verlinken.
Aber gut, dass die Wikipedianer etwas störrisch sein können, das hat sich ja in den letzten Tagen bezüglich der Löschdiskussionen gezeigt. Ich konnte das leider nicht recht verfolgen, weil ich ja im Urlaub war. Aber ich gehe da mit den Admins auch nicht ganz d’accord, die wohl davon ausgehen, die Wikipedia müsse ein Art Online-Brockhaus sein. Das denke ich nicht und zähle mich selbst wohl eher zu den Inkludisten als zu den Exkludisten.
November 13th, 2009 11:49
Nein, nicht ich wurde verunglimpft, sondern ein mir sehr gut bekanntes Projekt (wohingegen der Verunglimpfer es nicht persönlich, sondern nur aus Sekundärquellen kannte). Wenn dann Attribute wie Psychogruppe fallen, dann können die eh schreiben was sie wollen, das ist dann sowas wie ein virtuelles Todesurteil. Die Frage ist dann, wo hört die Meinungsfreiheit auf?
Und ist wikipedia der richtige Ort, wenn es von den meisten als Lexikon benutzt wird?
Dezember 4th, 2009 17:17
finde ich auch nicht so tolle
Dezember 27th, 2009 15:19
Naja, aber wer liest denn die Einträge über die Artikelbearbeitungen? Doch nur eine Minderheit. Liebe Lev, ich möchte gar nicht über Möglichkeiten diskutieren, sondern darüber, wie die Verhältnisse tatsächlich sind. Und tatsächlich schlägt die Mehrheit der Wikipedia-Nutzer den Artikel auf, liest ihn und hält den Text für eine allgemein gültige Darstellung – auch und eben gerade weil kein Autorenname unter dem Artikel steht. Ich behaupte das natürlich, ohne empirische Untersuchungsergebnisse vorweisen zu können, aber wer wollte deswegen meine Behauptung bestreiten? Kritisch denkende Menschen wie Du, LeV, sind leider in der Minderheit.
Ich wiederhole mich (damit ich nicht auch noch der NWO-Vorarbeit verdächtigt werde…): Es wäre ja gar nicht erforderlich, den wirklichen Namen einzutragen. Schon ein Nickname würde diesen tatsächlich kritisierenswerten Zustand beseitigen.
In a nutshell:
Das Anonyme erweckt den Anschein des Allgemeingültigen. Darin steckt Manipulationspotential. Auch pseudonym Personalisiertes wirkt zugänglicher für kritische Reflektion, und diese erscheint mir grundsätzlich wünschenswert.
Einen guten Rosh zum neuen Jahr wünscht Dir
Sigmar Erics
Februar 10th, 2010 13:37
@Sigmar Erics: Wir hatten ja eine Diskussion mit Vertretern der Wikipedia-Führung auf dem 26C3 und mir ist aufgefallen, dass diese sehr ähnlich argumentieren, wie du. Die Menschen sind zu dumm, um ihre Umwelt richtig einschätzen zu können und deshalb müssen wir (die wir uns für schlauer halten) ihnen alles vorkauen. Es mag sein, dass es vielen Menschen an Reflexionspotential mangelt, dass sie unüberlegt handeln und wenig Medienkompetenz besitzen. Aber es ist einerseits überheblich zu glauben, man wüßte es besser, als der Rest der Welt und andererseits spornt es natürlich niemanden an, Medienkompetenz zu entwickeln, wenn man das nicht von ihm einfordert. Ich finde es in diesen Zeiten einer medialen und technischen Revolution ganz, ganz wichtig von allen, am Informationsfluß beteiligten Menschen einzufordern, sich eine gewisse grundlegende Medienkompetenz anzueignen. Es sollte eine Selbstverständlichkeit werden, Mailanhänge nicht zu öffnen, Quellen (übrigens auch der Printmedien) kritisch zu hinterfragen und nicht alles für bare Münze zu halten, was irgendwo geschrieben steht. Das fünfte Gebot des Pentabarf lautet: „Einem Diskordier ist es verboten, zu glauben, was er liest.“ Dieses Gebot reiht sich in seiner Bedeutung gleich neben der Aussage, „Alle Spartaner lügen“, eines Spartaners.
D.h.: Wenn die Allgemeinheit glaubt, dass alles, was anonym ist, automatisch wahr sein muß, dann ist es an allen, die das infrage stellen, diese Menschen zu einem kritischeren Denken anzuhalten und eben nicht zu sagen: Schon gut, lassen wir dich in deinem Glauben und bauen dir eine Gummizelle drum herum, damit du dir nicht an den Ecken und Kanten weh tust.