Warum mich mittelalterliche Musiknotation interessiert

Auf der Suche nach einem Thema für meine Magisterarbeit (die Idee ist, irgendetwas über schwarze Mensuralnotation in einem konkreten Codex, z.B. Las Huelgas, zu machen) hat mich mein Betreuer gebeten, doch mein Interesse an der mittelalterlichen Musiknotation und deren Bedeutung mal in einem kleinen Text zusammenzufassen. Darüber habe ich bisher noch nie so konkret nachgedacht, aber das ist natürlich eine spannende Frage. Auf der Suche nach einer Antwort habe ich über Erkenntnis- und Zeichentheorie, deren Verortung im Mittelalter, sowie über die Bedeutung der Schrift als dem zentralen Vehikel zur Überlieferung west-europäischer Kulturgüter seit der griechischen Antike nachgedacht. Wenn ich diese Gedanken jetzt hier zum ersten Mal verschriftliche, mag das noch etwas konfus sein. Aber vielleicht liest es sich dann später in meiner Magisterarbeit umso verständlicher.

Warum mich mittelalterliche Musiknotation interessiert

Wenn wir heute problemlos die Musik auf einem Notenblatt vor uns abspielen und die darauf kodierte Musik zum Erklingen bringen können, erscheint uns dies als selbstverständlich. Entdeckung, Entwicklung und Gebrauch der Notenschrift sind jedoch ein vergleichsweise junges Phänomen. Erst seit dem Mittelalter wird Musik in einem geschlossenen Zeichensystem fixiert und kann/konnte dadurch relativ stabil an Folgegenerationen tradiert werden. Über die Musik der Antike ist uns so gut wie nichts bekannt. Aber aus den Quellen mittelalterlicher Musiknotation können wir Erkenntnisse über die Bedeutung der Zeichen, die durch die Zeichen kodierte Musik und sogar über die Menschen gewinnen, die sich dieser Zeichen im Sinne einer musikalischen Kommunikation bedient haben.

Musiknotation ist ein Schriftzeichensystem: Zeichen, Bezeichnetes und der Mensch, der die Zeichen festlegt und ihnen eine bestimmte Bedeutung beimißt, stehen in enger Verbindung. Die Betrachtung von Musiknotation vermag es ebenso wie das geschriebene Wort, uns heute noch eine Idee von der Kultur, dem Wissen und der Gedankenwelt vergangener Generationen zu vermitteln. Die schriftliche Fixierung von Musik ist daher von zentraler Bedeutung für ihre Tradierung, und es sagt etwas über die Kultur des Mittelalters aus, dass sie ein Interesse daran entwickelte, dies zu ermöglichen.

Spannend ist dies auch vor dem Hintergrund, dass die Anfänge der Zeichentheorie, die erst im 20. Jahrhundert zu einem wissenschaftlichen Diskurs wird, in der mittelalterlichen Erkenntnistheorie, im „Universalienstreit“ der Scholastiker zu verorten ist. So war Wilhelm von Ockhem im 14. Jahrhundert, aufbauend auf den bereits sprachphilosophischen Betrachtungen von Petrus Abaelardus und Johannes Duns Scotus, der Erste, der Zeichen und Bezeichnetes trennte und die Zuordnung von Bedeutung als mentale Leistung des denkenden Menschen würdigte.

Unabhängig von dieser philosophischen, erkenntnistheoretischen Debatte bietet uns mittelalterliche Musiknotation die seltene Gelegenheit, die Entdeckung, Entwicklung, Anpassung, Verbesserung und Veränderung eines in sich geschlossenen Zeichensystems in situ zu betrachten und zu studieren – und zwar vor dem Hintergrund der modernen Zeichentheorie. So kodiert frühe Musiknotation zunächst nur den ungefähren Melodieverlauf (sowie vermutlich rhetorische Aspekte), später zunehmend konkrete Tonhöhen und Intervallverhältnisse. Ab dem 13. Jahrhundert beginnt auch die Kodierung von Rhythmus und also der zeitliche Verlauf von Musik eine Rolle für die Musiknotation zu spielen. Augustinus sprach über diesen Aspekt von Musik lange bevor er sich im musikalischen Schriftsystem niederschlug.

Die Zuordnung von konkreten, messbaren Notenwerten zu eindeutigen Schriftzeichen, wodurch sich die Mensuralnotation auszeichnet, ist eine Leistung, die man heute vor allem mit Franko von Köln und der Frankonischen Notation in Verbindung bringt. Doch Franko hat seine Theorie nicht aus dem Nichts heraus entwickelt. Johannes de Garlandia, Magister Lambertus, Anonymus von St. Emmeram oder Dietricus sind wichtige Wegbereiter, die den komplizierten Übergang von einem Notationssystem ohne in ein Notationssystem mit rhythmischer Kodierung markieren. Dieser Übergang ist keineswegs mit Franko von Köln abgeschlossen, sondern setzt sich fort in Konkretisierungen und Anpassungen späterer Theoretiker wie bspw. Johannes de Muris. So kann man einerseits die diachrone Entwicklung bis hin zu unserem heutigen Notationssystem, das in direkter Nachfolge steht, an konkreten Quellen aufzeigen. Andererseits bieten die verschiedenen theoretischen Quellen auch eine Möglichkeit zu synchroner Betrachtung.

Eine solche synchrone Betrachtung vermag es, die semiotischen, sprachlichen, kommunikativen Prozesse am Zeichensystem Musiknotation zu verdeutlichen. Sprachliche Zeichen sind per definitionem konventionell und arbiträr, d.h. dass eine Gruppe von Sprechern sich über deren Form und Bedeutung erst verständigen muß, bevor ein zuverlässiger Gebrauch durch zuverlässige Dekodierung des Sprachcodes möglich ist. Dieser Verständigungsprozess schlägt sich in den Quellen der frühen Mensuralnotation besonders deutlich nieder, sowohl in den theoretischen, als auch in jenen, die sich der Mensuralnotation als Werkzeug bedienen.

Gleiche Symbole werden von verschiedenen Theoretikern u.U. unterschiedlich gedeutet. Eine konkrete Quelle präsentiert hingegen eine dritte Situation, die weder die eine, noch die andere Interpretation zuläßt, evtl. aber dennoch gängige Praxis war. Sie erfindet aus praktischer Not heraus neue, von den Theoretikern nicht diskutierte Zeichen oder verwendet unterschiedliche Zeichen in rhythmisch gleichem Kontext. Aufgrund solcher Unstimmigkeiten und Widersprüche können wir heute am Verständigungsprozess mittelalterlicher Musiker über den musikalischen Code und dessen Notation teilhaben, in einen indirekten Dialog treten und kulturell kommunizieren. Aber wir sind, da wir nicht direkt beteiligt waren, auch mit Problemen der Dekodierung, des Verständnisses konfrontiert, die uns Erkenntnisse über das Wesen von Zeichensystemen im Allgemeinen und Speziellen vermitteln.

Die zentrale Frage der Erkenntnistheorie, „Was ist Wahrheit und wie finden wir sie?“, wird bei der Betrachtung von mittelalterlicher Musiknotation heute konkret greifbar. Für den mittelalterlichen Musiker war die Notation jedoch eine Lösung, eine Möglichkeit, die Wahrheiten der Musik (z.B. Tonhöhe und Rhythmus) schriftlich zu fixieren und für nachfolgende Generationen zu überliefern. Die Musiknotation ist damit eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft, eine Möglichkeit der Erhaltung kultureller Tradition und Weitergabe von Wissen, sie ist kommunikativ und zugleich ein Spiegel, der in ihr kodierten Informationen. Das ist, was mittelalterliche Musiknotation für mich interessant und bedeutsam macht.

Ein Beispiel für die Ästhetik der Mensuralnotation

Ein weiterer, im obigen Text unbesprochener Aspekt, der die Betrachtung mittelalterlicher Musiknotation für mich interessant macht, den ich aber noch nicht wissenschaftlich verpacken kann und deshalb hier separat und verschämt anhänge, ist folgender: Mittelalterliche Musikhandschriften können einfach unglaublich ästhetisch (schön und fremd) aussehen. Dieses ästhetische Äußere ist dann nicht nur schön anzusehen, sondern birgt auch noch ein geheimes Wissen. Dieses Geheimnis zu lüften, die Neugier zu befriedigen, das Wissen zu befreien und mir zugänglich zu machen, bereitet mir eine unglaubliche Wonne – zumal auch das Geheimnis ästhetisch (musikalisch schön) ist. Das ist besser, als Kreuzworträtsel lösen. Was ich meine, kann man hier gut sehen:

Das Folio zeigt das mehrstimmige Rondeau „Belle bonne sage“ von Baude Cordier aus dem Codex Chantilly, Musée Condé 1047, das um 1400 entstanden ist und niedergeschrieben wurde. Es handelt sich, wie man bei dieser symbolischen Form unschwer erwarten wird, um ein Liebeslied nach Tradition der amours courtoise. Die rote Notation ist dabei keine reine Deko, sondern kodiert einen Mensurwechsel vom tempus perfectum zum tempus imperfectum cum prolatione majoris, d.h. einen rhythmischen Aspekt. Die Notation birgt weitere rhythmische Finessen, sie belegt eine späte Entwicklungsstufe der schwarzen Mensuralnotation, nämlich die sogennante „manirierte Notation“, in der z.T. so komplexe rhythmische Begebenheiten fixiert wurden, dass unsere heutige Notenschrift gar nicht mehr in der Lage ist, diese sinnvoll und verständlich abzubilden. Die Interpretation von „Belle bonne sage“ durch das Ensemble Organum unter Marcel Pérès füge ich hier zu Anschauungszwecken einfach mal frech bei:

[audio:belle-bonne-sage.mp3]

Schön, gut und weise – das ist ja ein gutes Schlußwort für diese Betrachtungen.

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