Der Weg in die kulturelle Armut

In einem Artikel vom 27. Mai 2012 denken die Cicero-Autoren Thomas Platt und Julius Grützke über Patente auf Rezepte nach [Link] und kommen zu dem Ergebnis, dass das doch eigentlich ganz großartig für die Urheber von Rezepten wäre, wenn es das gäbe. Wenn ich über eine solche Konstellation nachdenke, kommt mir sofort ein fiktiver, dystopischer Dialog zwischen Vater und Sohn in den Sinn: „Papa, Papa, ich möchte am Wochenende Germknödel mit Vanillesoße essen.“ „Das geht nicht, mein Schatz, die Gebühren für das Germknödelrezept sind leider zu hoch. Das können wir uns nicht leisten. Deshalb wird es am Sonntag, wie jeden anderen Tag auch, namenlosen Getreidebrei geben.“ Guten Appetit!

Gäbe es Patente auf Rezepte, würde dem Otto-Normalverbraucher sicherlich schnell auffallen, dass es gesamtgesellschaftlicher Unsinn ist – schon allein deshalb, weil überhaupt nicht zu klären ist, wo denn das Originäre eines Rezepts anfängt und wo es einfach nur Anpassung gesellschaftlicher Ernährungstradition ist. Ist Opa der Erfinder des Germknödels oder Tante Helga oder vielleicht das Maggie-Kochstudio? Dass die Problematik der Originarität einer geistigen Schöpfung in der aktuellen Debatte um das sogenannte „geistige Eigentum“ so eine geringe Rolle spielt, könnte daran liegen, dass es in unserer Gesellschaft eine strikte Trennung zwischen aufführenden und urhebenden Künstlern einerseits und rezipierendem Publikum andererseits gibt – zumindest in den Köpfen der Menschen. Der Konsument hat keine Einblicke in und keinen Einfluß auf die Erschaffung des Konsumgutes Kunst. Er rezipiert, was ihm als Geisteswerk vorgesetzt wird. Friß oder stirb!

Eine solche Trennung zwischen Künstler und Rezipient ist für die Kunst aber keineswegs existentiell, und sie existiert daher auch nicht in allen Kulturen. Durch die neuen Medien, das Internet, in dem jeder kostengünstig veröffentlichen, d.h. Werke zur Rezeption anbieten kann, erfährt die Trennung zwischen Künstler und Publikum gerade eine enorme (und m.E. wertvolle) Aufweichung. Blogger, Kommentatoren, Twitter-Nutzer behaupten völlig zu Recht: „Wir sind auch Urheber, ihr elitären Säcke! Und wenn ihr uns zitiert, heißt es bei euch auch allenfalls ‚Quelle: Internet‘.“ Erst durch die Trennung von Künstler und Rezipient erlangt ein Geisteswerk überhaupt des Status eines Konsumgutes (eines abgeschlossenen Dinges, das du zwar anschauen, aber nicht berühren darfst). Allein an diesem fragilen und fragwürdigen Konstrukt klammert sich die Idee des sogenannten „geistigen Eigentums“ fest. Eigentlich kann man Kunst nicht als Einzelner besitzen. Es gibt kein „geistiges Eigentum“ – weder im rechtlichen, noch im kulturphilosophischen Sinne.

Kunst war immer und wird immer eine Wiederholung und Variation dessen sein, was Generationen vor uns zustande gebracht haben. Kein Kunstwerk ist originär. Das Genie, das ein Kunstwerk aus dem Nichts erschafft, ist eine romantische Verklärung der Tatsachen. Kunst ist, wie jede Geistesschöpfung, etwas, das aus dem Versuch der verbesserten Wiedererbringung rezipierter Kunst entsteht. Somit ist jedes Kunstwerk zu mindestens 50% eine Kopie des Hergebrachten und ergo allenfalls gesamtgesellschaftliches Eigentum und nicht das eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Privilegierten. Jeder Mensch, der sich mit Kulturgeschichte auseinandersetzt, weiß das: ohne Tradition kein Paradigmenwechsel, ohne Wiederholung keine Variation. Die Sonette Shakespeares waren toll und anders als die Sonette Petrarcas. Hätte Petrarca die Sonettenform patentiert und hätten seine Nachlassverwalter Gebühren auf den Gebrauch der Sonettenform erhoben, hätte es sich Shakespeare vermutlich nie leisten können, seine Sonette zu veröffentlichen. Das Ideal umfassenden Schutzes „geistigen Eigentums“ akzeptiert den Umstand, dass sich weniger (und nicht mehr) Künstler den kreativen Umgang mit Kulturgütern leisten können, dass die Hürde, sich mit Kulturgütern so auseinanderzusetzen, dass daraus neue, kreative Werke entstehen können, steigen würde, dass es eine Frage des finanziellen und nicht des kreativen und handwerklichen Potentials würde. Das Ergebnis solcher Bestrebungen wären nicht bessergestellte Künstler, sondern Monokultur und kulturelle Armut.

Natürlich sollen Künstler entlohnt werden, niemand stellt das infrage. In Frage steht nur, wie wir die Entlohnung von Künstlern so bewerkstelligen, dass es den kreativen Umgang mit Kulturgütern (Verwendung/Nutzung) möglichst wenig einschränkt. Wie machen wir Künstler – und zwar alle und nicht nur die Stars und Eliten – reicher, ohne darüber kulturelle Armut zu leiden, insbesondere vor dem Hintergrund verschwimmender Grenzen zwischen Schöpfer und Nutzer in den neuen Medien? Menschen, die Kunstwerke nur als Konsumgüter betrachten, scheinen diesen Punkt nicht zu sehen, weil sie keine Einblicke in die Entstehung von Kunst- oder anderen geistigen Werken haben. Kochen tut hingegen jeder und sei es nur, um den Hunger zu stillen. Das Rezept auf die Zubereitung von Speisen hätte eine tolle Metapher sein können, um über die fragwürdige Trennung von Schöpfer und Rezipient und die Frage nach der Originarität von Geisteswerken zu debattieren. Leider verpassen die Cicero-Autoren diese Chance.

5 Kommentare zu “Der Weg in die kulturelle Armut”

  1. Sebastian
    Mai 30th, 2012 09:12
    1

    Man braucht nicht mal das Web 2.0 als Argument zu nutzen, um zu zeigen, dass Kunst immer im Auge des Betrachters entsteht. Schon in der Philosophie und Soziologie der letzten 50 Jahre finden sich genügend unendliche Diskussionen, die darauf verweisen, dass eine Trennung zwischen Betrachter und Subjekt unmöglich ist. So beeinflusst etwa der Ethnograph, der eine abgeschirmte Kultur vor Ort beobachtet, diese Kultur durch seine Anwesentheit und beeinflusst damit wiederum die Ergebnisse seiner eigenen Studie. Kunst ist immer ein Stück Reflexion von Gegenwart.

  2. LeV
    Mai 30th, 2012 10:57
    2

    Damit hast du sicherlich recht, Sebastian. Das meine ich aber im Artikel nicht. Was ich meine, ist die Trennung zwischen Kunst Schaffenden und Kunst Rezipierenden. Wenn du dich z.B. hinsetzt, um einem Sänger zuzuhören. Wenn der dich plötzlich auffordern würde, auch mal was zu singen, dann würdest du erschrecken und sagen: „Aber ich kann doch gar nicht singen.“ In anderen Kulturen würde man dich angucken wie ein Auto, weil „ich kann nicht singen“ undgefähr so eine Behauptung ist, wie „ich kann nicht sprechen“. Bei uns ist das ganz klar geregelt. Singen ist etwas für den Spezialisten, man setzt sich und hört zu, man singt nicht selbst. Und diese Trennung zieht sich durch sehr viele Bereiche und wird ja auch von vielen Künstlern und Intellektuellen immer wieder sehr stark aufrecht erhalten, indem z.B. behauptet wird, professionelle Kunst sei gegenüber Laienkunst von höherem Wert. Begriffe wie „Qualitätsjournalismus“ oder „Ernste Musik“ zielen in diese Richtung. Im Internet wird diese künstlich erzeugte Trennung aufgeweicht, weil die Grenzen und Kriterien für die Einteilung in X oder Y zu Recht infrage gestellt werden. Kunst und sonstige Geisteswerke werden von ihrem elitären Sockel gehoben, weil sie jedem zugänglich ist und jeder sich in der Form mit ihr auseinandersetzen kann, die ihm sinnvoll erscheint. Der obige Artikel hätte z.B. ohne den Zugang zum Cicero nicht in der Form entstehen können. Die künstlerische Kommunikation wird im Internet wieder dialogischer und hört auf Monolog zu sein, wie sie das bisher lange Zeit war.

  3. Sebastian
    Mai 30th, 2012 19:12
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    Wie gesagt, das ist die exakt gleiche Debatte wie z.B. in der Ethnographie. Da wurde auch versucht eine klare Trennung zwischen Beobachter und Subjekt zu ziehen, was aber nicht gelingt. Genauso wird ein Gemälde erst zu Kunst, wenn es Betrachter gibt, die es interpretieren und über seine Bedeutung reflektieren. In diesem Moment tragen sie zum Kunstwerk bei.

  4. Tilly
    Juni 27th, 2012 12:14
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    Bin erst jetzt dazu gekommen, diesen sehr interessanten Blog zu lesen und kann mich den Ausführungen von LeV nur anschließen. Ich finde, treffender kann man das Thema nicht beleuchten. Es ist sicherlich vollkommen richtig, dass „Kunst immer ein Stück Reflexion von Gegenwart ist“, wie Sebastian schreibt. Aber das steht doch nicht im Widerspruch zu den Ausführungen von LeV. Was ist da aber für eine Debatte in der Ethnographie im Gange? Kenne ich nicht. Ich schließe mich dem auch nicht unbedingt an, dass ein Gemälde erst zu Kunst wird, wenn es Betrachter gibt…(siehe Sebastian). Ist dennoch interessant. Steigt dann der Wert des Kunstwerkes bei genügender Diskussion darüber bzw. wenn es eine hohe Anzahl von Rezipienten gibt? Da sollten wir doch lieber schauen, wann man sich Künstler nennen darf.

  5. redwolf
    Juli 24th, 2012 22:26
    5

    Sowas in der Art gab es doch schon. Die Seite Marionskochbuch verklagt alles und jeden, der ihren Content einfach übernimmt. Deren seite ist SEO-optimiert und sie suchen aktiv nach Leuten, die ihre Bilder verwenden. Dann schalten sie ihre Anwälte an und es geht, wie soll es auch sein, nach Landgericht Hamburg.

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