Zur Autobiographie im Mittelalter

In einer Woche wird meine letzte Abschlußklausur im Fach Ältere deutsche Sprache und Literatur (d.h. Altgermanistik/Mediaevistik) stattfinden. Eines der von mir eingereichten Themen ist die Autobiographie im Mittelalter. Ich habe mich früher schon mit der Autobiographie der frühen Neuzeit befaßt und hier im Blog bereits zu Johannes Butzbach und Helene Kottanner geschrieben. Nun versuche ich in Vorbereitung auf die Klausur einen zusammenfassenden Text zu schreiben, der Beispiele für Selbstzeugnisse (2. Teil) und den Stand der Forschung zur Autobiographie im Mittelalter (1. Teil) zusammenfaßt. Am Ende befindet sich eine kurze Bibliographie, die die von mir hierfür konsultierten Fachtexte aufführt.

Zur Autobiographie im Mittelalter

Die Idee von der Autobiographie als homogene literarische Gattung ist eine moderne, die so nicht auf das Mittelalter übertragen werden kann. Die Texte autobiographischen Charakters, die aus der Zeit zwischen 500 und 1500 überliefert sind, zeigen ein heterogenes Bild und folgen keiner einheitlichen literarischen Tradition. Eher scheinen sie, als Gelegenheitsprodukte dem sporadischen Erwachen des Ichbewußtseins zu entspringen und von unterschiedlichsten Vorbildern beeinflußt zu sein. In seinem Aufsatz „Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter“ versucht Ulrich Müller die verschiedenen Tendenzen zu systematisieren.

Er unterscheidet zunächst eigenständige Autobiographien von autobiographischen Mitteilungen. Bei Ersteren handelt es sich um abgeschlossene Texte, die die Absicht des erzählenden Subjektes zur Selbstdarstellung erkennen lassen. Letzere sind hingegen knappe, autobiographische Hinweise in ansonsten nicht autobiographischen Schriften, d.h. keine eigenständigen Texte. Da beide Textarten für die Geschichte der Autobiographie im Mittelalter eine Rolle spielen, faßt Müller sie unter dem Begriff des „Autobiographischen“ zusammen. Der m.E. gelungenere Begriff der „Selbstzeugnisse“ findet sich bei Martina Wagner-Egelhaaf und ist in der aktuellen Forschung der gebräuchliche.

Müllers Thesen werfen auch die Frage nach der Authentizität mittelalterlicher Selbstzeugnisse auf. Den Wahrheitsgehalt eines Texte findet er für die allgemeine Zuordnung zum Autobiographischen unerheblich, nicht aber für die individuelle Einordnung einer Quelle. Dass beim Aufschreiben realer Ereignisse generell eine literarische Stilisierung, d.h. eine Transformation der Fakten stattfindet, ist allgemein bekannt. Der jeweilige Grad der Stilisierung erscheint Müller jedoch als ein wichtiges Untersuchungs- und Differenzierungsmerkmal mittelalterlicher Selbstzeugnisse. So liegen bspw. zwischen Dantes hoch-stilisierter „Vita nuova“ und Burkhart Zinks „Augsburger Chronik“ Welten. Zum Teil scheinen mittelalterliche Autoren aber bewußt mit der Vermischung von Erlebtem und Fingiertem zu spielen, weshalb es nicht immer einfach ist, Fakten und Fiktion voneinander zu trennen. Besonders deutlich wird das am stilisierten Rollen-Ich der Minnelyrik und Sangspruchdichtung, wenn Sänger von ihren Taten, Gönnern, Fähigkeiten, Reisen oder ähnlichem berichten.

Unter den eigenständigen Texten unterscheidet Müller die Reflexions- von der Handlungsautobioraphie, wobei es bei ersterer um die Introspektion und die Darstellung der eigenen Gedankenwelt nach dem Vorbild der „Confessiones“ des Kirchenvaters Augustinus geht, bei letzerer um die Schilderung punktueller oder zeitlich verlaufender Handlungen und Ereignisse. Zusammenhängende Ereignisse können mithin im zeitlichen Verlauf, ähnlich einer Chronik, oder im räumlichen Verlauf, ähnlich eines Reiseberichts, dargestellt werden, wobei es hier verständlicherweise zu Überschneidungen kommt.

Diese Kategorien sind für die Beschreibung mittelalterlicher Selbstzeugnisse an sich hilfreich, jedoch lassen sich nur teilweise Rückschlüsse auf Entwicklungszusammenhänge und literarische Einflüsse aus ihnen ziehen. Hierfür bedarf es einer umfangreicheren Betrachtung, nicht nur des Autobiographischen, sondern auch des Biographischen, des Ich-Romans und des Er-Romans. Im Gegensatz zum Biographischen besteht beim Autobiographischen eine Identität zwischen erzählendem Subjekt und erzähltem Objekt. Vom Ich- und Er-Roman unterscheiden sich Biographisches und Autobiographisches durch den höheren Grad an Authentizität, wobei es unerheblich ist, ob in der ersten oder dritten Person erzählt wird. In mittelalterlichen Selbstzeugnissen sind diese vier Aspekte – erzählendes Subjekt, erzähltes Objekt, Erlebtes und Fiktion – selten sauber voneinander zu trennen. Daher muß das gesamte literarische Repertoire, das den menschlichen Lebensweg thematisiert, für eine Darstellung der Geschichte des Autobiographischen im Mittelalter in Betracht gezogen werden.

Ein autobiographischer Text der Spät-Antike, der inhaltlich größten Einfluß auf das Mittelalter hatte, jedoch nur wenige direkte Nachahmer fand, ist die bereits erwähnte Schrift „Confessiones“ des Augustinus von Hippo. Darin beschreibt der Philosoph und Theologe den Weg bis zu seiner Bekehrung, seine Gedanken zu den Versuchungen, denen er ausgesetzt war und seine geistige Entwicklung. Die „Confessiones“ sind damit der Prototyp dessen, was Müller „Reflexionsautobiographie“ nennt. Gedankengänge zu eigenen Geisteshaltungen finden sich auch in den Schriften Otlohs von St. Emmeram, bspw. im „Liber visionem“, in dem er seine und die Visionen anderer Gläubiger beschreibt. Jedoch handelt es sich dabei nicht um eigenständige autobiographische Texte. Einen eigenständigen autobiographischen Text in lateinischer Sprache verfaßte der Philosoph und Theologe Petrus Abaelardus mit seiner „Historia calamitatum“. Anders als bei Augustinus stehen hier nicht das Gotteslob, die Beichte und die Beziehung des Verfassers zu Gott im Zentrum, sondern die Darstellung seiner philosophischen Lehren und Überzeugungen. Abaelards Selbstzeugnis wird ergänzt durch den in seinem Parakletbuch veröffentlichten Briefwechsel zwischen ihm und seiner Schülerin Heloise. Die Authentizität dieser Briefe ist nicht gesichert. Die Forschung geht heute davon aus, dass der Briefwechsel echt ist, aber für die Veröffentlichung von Abaelard bearbeitet wurde.

Reflexionsautobiographien in deutscher Sprache mehren sich im Hoch- und Spät-Mittelalter im Zuge der Nonnenmystik. Sie gelten der Erbauung, Seelsorge und Anleitung zu einem gottgefälligen Leben und spiegeln das mystische Interesse an der Instrospektion und Gewissenserforschung wider. Beispiele hierfür sind Mechthilds von Magdeburg „Das fließende Licht der Gottheit“ und Heinrich Seuses „Vita“, die eventuell auch von Elsbeth Stagel verfaßt oder ediert wurde. Texte dieser Art sind oft nach einer idealtypischen vita rligiosa stilisiert. Dass es hierfür literarische Muster und Vorbilder gibt, scheint gewiß, da sich nahezu identische Anektdoten in Texten verschiedener Verfasser finden.

Ein nachweislich hoher Grad an Stilisierung findet sich auch in der ersten Handlungsautobiographie in deutscher Sprache, dem „Frauendienst“ Ulrichs von Lichtein. Hier erzählt ein Dichter von seinem Minnedienst. Die geschilderten Reisen des Sängers konnten allerdings inzwischen als fingiert nachgewiesen werden, womit die Grenze zum Ich-Roman überschritten wird. In ähnlicher Weise stilisiert präsentiert sich auch Dantes fingierte Autobiographie „La vita nuova“. Die Schaffung eines Rollen-Ichs zwischen Realität und Fiktion ist Teil der mittelalterlichen Dichter-Kultur. Wie ernst man diese Selbstaussagen der Dichter nehmen kann ist unklar, sowohl wo sie in lyrischen Texten auftauchen (bspw. bei Walther von der Vogelweide oder zahlreich bei Oswald von Wolkenstein), als auch in den Prologen und Epilogen der Epiker, wie Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach.

Eine andere, weniger stilisierte Gruppe der Selbstzeugnisse entwickelt sich im späten Mittelalter aus den zunächst formlosen Haus- und Rechnungsbüchern sowie den Familienchroniken städtischer Bürger, die vornehmlich ökonomisch motiviert und von Familiensinn getragen sind. Das „Puechel von meim geslecht und von abentewr“ des Nürnberger Papierfabrikanten Ulman Stromer ist solch ein Beispiel oder auch die Augsburger Chronik des Kaufmanns Burkhart Zink. Die explosionsartige Zunahme solcher Selbstzeugnisse in der Renaissance hängt sicherlich mit dem von Jacob Burkhard proklamierten gesteigerten Persönlichkeitsbewußtsein der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft zusammen.

Auch autobiographische Reiseberichte nehmen ab dem späten Mittelalter stark an Zahl zu. Eines der frühesten und populärsten Beispiele bietet der Reisebericht Marco Polos, auch Felix Fabris Bericht über seine Reise ins Heilige Land hat starke Verbreitung gefunden. In der frühneuzeitlichen Autobiographie Johannes Butzbachs vermischt sich der Reisebericht mit der Schilderung des Lebenslaufs vom Kindes- bis zum Greisenalter. Derartige Vermischungen, wiederum auf eher stilisierter Ebene, finden sich auch in Dantes „Devina Commedia“, die starken Einfluß vom Reisebericht zeigt.

Als Beispiel für eine Handlungsautobiographie, in der ein eher punktuelles Ereignis geschildert wird, können die „Denkwürdigkeiten“ der Helene Kottanner herangezogen werden. Die Hofdame Königin Elisabeths beschreibt hierin, in der Absicht, sich selbst zu verteidigen, ihre Verwicklung in den ungarischen Thronfolgestreit und Kronenraub. Aber auch von Herrschern selbst sind Selbstzeugnisse aus dem Mittelalter überliefert, bspw. die „Vita Caroli IV“, ein Selbstportrait des des Kaisers Karl IV., der darin von seiner Kindheit, seinen Eltern und seiner Erziehung berichtet. Von Kaiser Friedrich III. ist ein im Jahre 1437 beginnendes Tagebuch überliefert. Die Autobiographie „Weißkunig“ ist hingegen nicht von Kaiser Maximilian I., sondern von einem „ghostwriter“ verfaßt.

Insgesamt zeigt sich schon an diesen wenigen Beispielen die Heterogenität des zur Untersuchung stehenden Materials. Während Autobiographien im frühen Mittelalter sehr rar sind und sich kaum gegenseitige Einflußnahmen und literarische Traditionen aufzeigen lassen, nimmt die Zahl der Selbstzeugnisse im späten Mittelalter stark zu und kann durch den Vergleich eine Idee gewisser Traditionen und Entwicklungstendenzen vermitteln.

Bibliographie

  • Misch, Georg: „Geschichte der Autobiographie“ (In 8 Bänden, Bd. 2.1 und 2.2 zum Mittelalter), Verlag Klostermann, Frankfurt/M., seit 1985
  • Wagner-Egelhaaf, Martina: „Autobiographie“, J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 20052
  • Niggl Günter [Hrsg.]: „Die Autobiographie“, Darmstadt 1989 – darin:
    • Lehmann, Paul: „Autobiographien des lateinischen Mittelalters“, S. 283 – 296
    • Müller, Ulrich: „Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter“, S. 297 – 320
    • Rein, Adolf: „über die Entwicklung der Selbstbiographie im ausgehenden deutschen Mittelalter“, S. 321 – 342

Ein Kommentar zu “Zur Autobiographie im Mittelalter”

  1. Dr. Georg Habenicht
    Februar 16th, 2015 10:14
    1

    Ich hätte Sie gerne namentlich angesprochen, doch finde ich Ihren Namen nicht auf die Schnelle. Was ich hiermit bedaure, denn ich hätte Ihnen namentlich gerne zu Ihrem Blog gratuliert. Ich bin auf der Suche nach wenig bekannten autobiographischen Texten. Können Sie mir da weiterhelfen. Die Sekundärliteratur ist mir bekannt. Mit freundlichen Grüßen, Georg Habenicht

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