Die rhetorische Periode

Die rhetorische Periode ist ein Ordnungsprinzip formaler Sprache, das meine Sicht auf den freien Vers verändert und geschärft hat. Die Ästhetik der Ausgewogenheit von Wiederholung und Variation, aber auch die Freiheit und Flexibilität individueller Musterbildung erzielen eine spezifische Wirkung und üben einen besonderen poetischen Reiz aus.

Die rhetorische Periode

Ich habe früher oft Texte kritisiert, die sich nur durch optische Zeilenumbrüche als Gedichte zu erkennen gaben, sonst aber formal der Prosa entsprachen. Die Kritisierten wandten ein, dass es sich doch um freie Verse handle, aber ich hatte daran stets meine Zweifel. Mit dem Begriff „Vers“ verband ich einen Grad an Formalisierung, der über Prosa hinausgeht; „frei“ bedeutete für mich nur, dass die sprachliche Formalisierung nicht nach dem einheitsstiftenden metrischen Prinzip funktioniert, sondern nach einem fein ausgewogenen Spiel von Wiederholung und Variation, von Dynamik und Pause, Spannung und Entspannung, Regelaufbau und Regelbruch, etc. pp.

In Manfred Fuhrmanns „Antiker Rhetorik“ (im übrigen eine insgesamt sehr empfehlenswerte Lektüre) stieß ich schon vor einigen Jahren auf das formale Prinzip der rhetorischen Periode, das ich für einen wichtigen Aspekt zum Verständnis des freien Verses halte. Das trifft natürlich auch auf den metrischen Vers zu, denn kein zeitliches Ereignis in ihm ist einheitlicher, als die wiederholte Abfolge von Hebung und Senkung. In der rhetorischen Periode haben wir es aber mit syntaktischen Einheiten zu tun, die sich als Kola oder Kommata in einer sehr sorgsam gegliederten Binnenstruktur präsentieren. Zu solchen Kola oder Kommata finden sich Worte, Phrasen und Sätze. Jeder Linguistikstudent wird die hierarchischen Stemma kennen, die sich aus einer Satzanalyse ergeben. Bei einer rhetorischen Periode liegt eine wie auch immer geartete Form von Symmetrie innerhalb dieses Stemmas vor.

Ein Beispiel des Fachbereichs Linguistik der Uni Potsdam:

  1. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Willst du uns mit deiner Tollheit noch lange verhöhnen? Merkst du nicht, dass deine Dreistigkeit vermessen ist?
  2. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?

Inhaltlich haben beide Texte gleichen Gehalt. Formal unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander, wodurch sie eine völlig andere Wirkung entfalten. Sehr deutlich zeigt der zweite Text ein Ordnungsprinzip, das auf der Parallelisierung der syntaktischen Einheiten beruht, ergo der rhetorischen Periode entspricht. Jeder der drei Sätze im zweiten Text ist grammatisch gleich oder sehr ähnlich gebaut. Es handelt sich um drei Fragesätze, die zuerst eine adverbiale Angabe, dann das finite Verb, dann das Subjekt, dann das Akkusativobjekt und zu letzt ein infinites Verb anführen.

adverbiale Angabe finites Verb Subjekt Akkusativobjekt infinites Verb
Wie lange noch willst du unsere Geduld mißbrauchen?
Bis wann soll deine Tollheit uns verhöhnen?
Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich vermessen?

Das Prinzip der Wiederholung ist hier also die Parallelisierung der Phrasen. Variation findet sich im ersten Satz durch die eingeschobene Anrede „Catilina“, in nachfolgenden durch das eingeschobene Partikel „noch“, im letzten durch die Rückbezüglichkeit des Objektes „sich“ und in vielen weiteren, kleinen Details. Doch die Parallelisierung ist nur eine Möglichkeit der syntaktischen Ordnung, weitere könnten die Reihung (a1, a2, a3), der Chiasmus (a1 b1 a2 b2), der Krebs und Spiegelung (a1 b1 b2 a2), die Mehrung (a ab abc), die Identität (a, a, a) und dergleichen mehr sein. Die Einheiten können Phrasen, wie Wortgruppen sein, können einzelnde Wörter betreffen (z.B. in der Aufzählung), können Wortarten betreffen oder ganze Sätze.

Die rhetorische Periode präsentiert sich also formal geschlossen, in ihrer Ordnung aber in sich sehr variabel und flexibel. Pausen entstehen an Nahtstellen, aber die Länge der Pausen ist unterschiedlich, ebenso schwankt die Betonungsstärke der betonungstragenden Elemente. Sie ist reizvoll locker gebunden, wirkt aber weder willkürlich, noch wie ein stechschrittiger Marsch. Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der grammatischen Sachkenntnis (die kann man sich zur Not anlesen, wenn man sie nicht intuitiv mitbringt), sondern in der Sensibilität für Maß und Gewichtung von Einheiten und daraus resultierenden Klangphänomenen, wie Pausen und Betonungen. Die Ästhetik zerbricht hier, wie überall, an einem zu hohen Maß an Wiederholung (daraus folgt Langeweile), ebenso wie an einem zu hohen Maß an Variation (daraus folgt Unordnung).

Von der rhetorischen Periode zum freien Vers

Man kann dieses freie Ordnungsprinzip der rhetorischen Periode über syntaktische Aspekte hinaus weiterspinnen und z.B. auch den Bereich der Phonetik, Semantik und Morphologie mit einbeziehen. Sogar Annäherungen an metrische Prinzipien durch Musterbildung in Silbenzahlen und -längen/Betonungen ist denkbar. Als Beispiel dient der erste Absatz von Friederike Mayröckers „Ode an einen Ort“:

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
Glocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
geschnäbelt ins graue Licht
ätzend den Trauerhimmel
mit Botschaft von Dir zu mir:

Obwohl dieses Gedicht nicht metrisch ist, zeigt schon die erste Zeile ein deutlich höheres Maß an formaler Gebundenheit als jede Prosa. „Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk“ – Hier wird vorallem viel mit dem Reim gearbeitet, die syntaktische Figur schließt sich im Zweiten Teil der Zeile dieser Reimschematik an. Man beachte Zunächst die Häufung an /t/ /ä/ /äu/ und /ü/. Dann folgt die Sequenz „Träume – Hütte – Thron – Türme – Gebälk. Dies ist syntaktisch gesehen eine Reihung, Aufzählung, lautlich ist sie am /o/ von Thron gespiegelt: ä-ü-o-ü-ä. Semantisch wird der Traum zur Spiegelachse, denn die vier folgenden Begriffe sind Lokalitäten (Orte), ebenso wie die „Heimstätte“ am Anfang der Zeile. Es finden sich weitere Klangparallelen zwischen /ei/ und /äu/ und zwischen /äu/ und /ü/. Auch das /h/ wird exponiert. Das harte Gebälk am Schluß sprengt diese Klangkaskade schroff auf, nicht nur durch seinen stimmhaften, gutturalen Anfang /g/, sondern auch und vorallem sein gutturales und stimmloses Ende /k/ (harte Kadenz). Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel dür den freien Vers zu tun, nicht metrisch, nicht prosaisch, sondern ein Ding in der Mitte.

Eine solche formale Strukturierung von Sprache macht den grafischen Zeilenumbruch als Kennzeichnung poetischer Sprache meines Erachtens überflüssig, da die Sprache selbst schon ausreichend poetisch ist, um nicht als Prosa verkannt zu werden (was nicht heißt, dass der Zeilenumbruch keine berechtigte Funktion hätte). Aber hier zeigt sich, warum auch die im Fließtext gedruckten „Petites poèmes en prose“ von Baudelaire auch ohne optische Gliederung durch Zeilenumbrüche immer noch als verses libres zu erkennen sind.

Ich habe mich selbst nie an den vers libre gewagt, weil ich ihn in der Tat für ein Wagnis, ein höchst anspruchsvolles Unterfangen halte. Aber ich habe sehr schöne freie Verse gelesen und mich in Prosatexten schrittweise in der freien formalen Musterbildung probiert. Der freie Vers ist und bleibt ein äußerst interessantes sprachliches Phänomen; die rhetorische Periode hat mir geholfen, mich dafür zu sensibilisieren.

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Quellen:

  • Manfred Fuhrmann, „Die antike Rhetorik“, Artemis & Winkler, 19954, S. 139f
  • Mayröcker zitiert aus: Karl Otto Conrady, „Das grosse deutsche Gedichtbuch“, Athenäum Verlag, 1977

9 Kommentare zu “Die rhetorische Periode”

  1. Frederik Weitz
    April 15th, 2008 08:04
    1

    Wundervoll!
    Die Rhetorik, häufig belächelt und noch häufiger verfemt, bietet Textwirkungen, die man eben doch genießen kann, auch wenn man dann kritisch zu ihr stehen darf.
    Besonders im lyrischen Bereich. Es ist eben immer noch das Muster, von dem aus man die Abschweifungen lieben lernen kann. Solange man das Muster nicht für besser hält als die Abschweifung.

    Und dass du Friederike Mayröcker zitierst, lässt mich einmal mehr aufblühen. Eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen.

  2. LeV
    April 17th, 2008 11:25
    2

    Ich bin ja, das muß ich schon zugeben, eigentlich ein großer Fan von Mustern. Aber natürlich wird ein Marschrhythmus langweilig, wenn er über stupides ram-ta-taa nicht hinaus kommt. Die Sprache bietet so viele Möglichkeiten der Musterbildung, auf verschiedensten Ebenen, mit verschiedensten Mitteln. Man kann sich das als Dichter gar nicht häufig genug vor Augen führen. Meist fühlt man ein sprachliches Muster, bevor man es entdeckt, bevor man ihm einen Namen geben kann. Die Rhetorik, das ist das Witzige, hat für die meisten Entdeckungen schon Namen parat, weil sie sie lange vor mir gemacht hat.

  3. Sebastian
    April 18th, 2008 21:45
    3

    Ich frage mich, ob Goethe & Co. solche Techniken bewusst eingesetzt haben oder ob sie es unbewusst richtig gemacht haben. Gibt es dazu Forschung bzw. Erkenntnisse?

  4. LeV
    April 19th, 2008 11:37
    4

    Als ich das erste Mal von der Sonanten-Hauptsatz-Form hörte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine Kunst nach einem künstlerischen Plan entsteht. Das fand ich völlig absurd. Inzwischen kann ich historische Kontinuitäten viel besser überblicken und finde es eher absurd anzunehmen, die Künstler hätten über Jahrhunderte hinweg einfach nur Glück gehabt (oder musischen Beistand). Woher hätte Shakespeare wissen sollen wie ein Sonett funktioniert, wenn er nicht Dante und Petrarca studiert hätte? Rhetorik gehörte lange Zeit zum Grundschulkanon und jeder Lateinschüler hat sich mit Fragen des Satzbaus beschäftigt. Es mag viel Intuition bei der Entstehung eines Gedichtes im Spiel sein; man muß auch nicht bis fünf zählen, um einen Pentameter zu schreiben, weil man das fühlt, wenn eine Silbe fehlt oder an der falschen Stelle betont wird. Aber wie jeder Handwerker verfeinert auch ein Dichter mit der Zeit seine Technik, und zwar in dem er sich bewußt macht, was er mit seinem Werkzeug anstellt, in dem er reflektiert, was er zustande bringt. Und dies beeinflußt natürlich sein zukünftiges Arbeiten.

    Kenntnis darüber haben wir oftmals sogar von den Künstlern selbst, die in Essays wie „Die Philosophie der Komposition“ (E.A. Poe/“The Raven“) über die Entstehung ihrer Kunst reflektieren und das ist natürlich auch Teil der geisteswissenschaftlichen Forschung.

  5. Frederik Weitz
    April 20th, 2008 14:34
    5

    Muster sind auch etwas absolut sinnvolles. Letzten Endes ist ein Muster immer eine Art Begriff (und sei es ein nonverbaler). Die Beherrschung eines Musters ist notwendig, um zu dem zu kommen, was das Muster nicht beherrscht. Mit anderen Worten: Muster sind Wegsteine auf dem Pfad der Sensibilisierung. Wegsteine wohlgemerkt, nicht Endstationen. Aber wer Muster ablehnt, hat (immer, so jedenfalls meine Erfahrung) schon Muster im Kopf, die er durchsetzen möchte. Und wer Muster benutzt, ist immer schon einen Schritt über das Muster hinaus.
    Auch ich bin ein Fan von Mustern. Je mehr ich sie links liegen lasse, umso mehr komme ich mit ihnen zurecht.

  6. LeV
    April 20th, 2008 18:11
    6

    Schön paraphrasiert, Frederik. Um Muster überwinden zu können, muß man sie aber verstehen. Wenn ich ein Muster begriffen habe, wird es mir langweilig und ich schaffe es, es loszulassen. Aber viele Muster sind, obwohl sie naiv betrachtet sehr oberflächlich sind, doch irgendwie unergründlich und das macht sie einfach interessant für mich. Die Gesetze der Sprache gehören dazu.

  7. Sebastian
    April 24th, 2008 21:46
    7

    Klar, über Sonett und Pentameter habe auch ich was in der Schule gehört (an einem ganz normalen Gymnasium). Was du hier in deinem Post beschreibst, geht aber darüber weit hinaus. Wahrscheinlich müsste man heutige Künstler fragen, ob sie sowas bewusst einsetzen, denn über die Vergangenheit kann man letztendlich nur rätseln.

  8. LeV
    April 24th, 2008 22:50
    8

    Ich finde es eigentlich sehr plausibel, dass heute wie früher Dichter zu der Erkenntnis gelangen, dass sie ein Sprachwerk durch Formung und Selektion ihrer Sprache in seiner Wirkung beeinflussen können, denn das ist ja sehr naheliegend. Im zweiten Band der von Norbert Miller und Harald Hartung herausgegebenen „Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik“ geben Zeitgenossen wie Durs Grünbein u.a. daüber Auskunft. Aber wie man die Rädchen und Schrauben, an denen man als Dichter so dreht, letztlich nennt, ist eigentlich total nebensächlich. Dass man sie benennt, macht nur die Verständigung darüber einfacher und sensibilisiert die Sprachwahrnehmung.

  9. Klaus Krebs
    August 1st, 2011 07:58
    9

    Sehr schön herausgearbeitet. Zu der Frage ob Goethe solche rhetorischen Stilmitteln bewusst eingesetzt hat, kann man bedenkenlos ja sagen. Alleine Faust 2 ist eine Fundgrube von bewusst eingesetzten stilmitteln.

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