trotzdem – trotzdem

Wir saßen neulich bei einem Glas Rioja und Fischfilet am Mittagstisch, als mein Mann plötzlich verwundert bemerkte, dass man das Wörtchen „trotzdem“ einmal vorne und einmal hinten betonen kann. [Trotz-dem‘] es gestern regnete, ging ich spazieren. Es regnete, [trotz‘-dem] ging ich gestern spazieren. [Trotz‘-dem]? [Trotz-dem‘]? Seltsames Wort; ich grübelte. Müßte es nicht eigentlich trotz-des heißen? Trotz des gestrigen Regens ging ich spazieren! Obwohl es gestern regnete, ging ich spazieren. Es regnete, obwohl ich spazieren ging… Nein! das ist nicht sinnig.

Ich hatte mich im Zuge meiner Metrikbemühungen mit den Regeln der deutschen Wortbetonung befaßt und konnte mir demnach sehr gut erklären, warum es einmal [um‘-schrei-ben] und ein anderes mal [um-schrei‘-ben] heißt. Das sind nämlich verschiedene grammatische Phänomene und die Bedeutung ist auch jeweils eine andere. Denn das eine mal schreibt man etwas Existierendes neu und das andere mal sagt man etwas mit anderen Worten. Beim einen mal handelt es sich um ein Derivat des Verbes „schreiben“ mit dem betonten Präfix „um“, das sowohl synthetisch als auch analytisch auftreten kann: Ich schreibe den Roman um. Beim anderen mal handelt es sich um ein Adverb-Verb-Kompositum, das man nicht analytisch verwenden kann: Ich umschreibe es dir mit anderen Worten. (Ich schreibe es dir mit anderen Worten um, geht nicht.) Ähnlich ist es übrigens bei [ü‘-ber-set-zen] und [ü-ber-set‘-zen]. Man kann nämlich ans andere Ufer übersetzen oder einen englischen Roman ins Deutsche übersetzen.

Ich habe auch andere interessante Worte gefunden, bei denen der eigentlich feste Wortakzent von Derivat zu Derivat hüpft, obwohl es sich nicht um ein Fremdwort handelt: [miss-gön‘-nen], aber [Miss‘-gunst] und [wi-der-ru‘-fen], aber [Wi‘-der-ruf]. Auch hier ist klar, das eine ist ein Verb, das andere ein Substantiv. Aber trotzdem?

1. Trotzdem‘ es gestern regnete, ging ich spazieren.
2. Es regnete, trotz’dem ging ich gestern spazieren.
3. Es regnet, aber ich spaziere trotz’dem.
4. Trotz des Regens, ging ich gestern spazieren.

Es macht semantisch keinen großen Unterschied, ob ich [trotz-dem‘] oder [trotz‘-dem] sage. In den ersten beiden Beispielsätzen leiten beide trotzdems einen Nebensatz ein, an dessen Anfang sie stehen. Dennoch kann man im ersten Beispiel ein „obwohl“ einsetzen und im zweiten nicht, es sei denn man ändert die Satzordnung: Es regnete, obwohl ich gestern spazieren ging. Der Sinn ist nicht derselbe und besonders sinnvoll wird dieser Satz auch nicht, aber grammatikalisch ist er einwandfrei. „Obwohl“ ist, ähnlich wie „weil“ oder „dass“ eine Konjunktion, also könnte [trotz-dem‘] im ersten Beispiel auch eine sein.

Um was für eine Wortart handelt es sich aber beim zweiten Beispiel, um ein Adverb, eine Konjunktion? Vielleicht ist es ein Partikel, eine Präpositionen wie im vierten Beispiel wird es nicht sein. Wir kommen hier an die Grenzen der traditionellen Wortartenlehre. Der Umstand, dass die zweite Variante anders betont wird, läßt mich daran zweifeln, dass es sich um dieselbe Wortart handelt, auch wenn die Satzpositionen und Funktionen (am Anfang des Nebensatzes, den sie einleiten) dieselben zu sein scheinen.

Das [trotz‘-dem] im dritten Beispiel würde ich persönlich für ein Adverb halten. Als Adverb betrachtet der Duden Wörter wie „abends“ und „bald“, während er Wörter wie „sehr“ und „ziemlich“ für Partikel hält. Ich hätte auch letztere für Adverbien gehalten.

5. Ich komme bald. (Adverb)
6. Ich komme trotz’dem. (Adverb?)
7. Ich liebe ihn ziemlich. (Partikel?)
8. Ich liebe ihn trotz’dem. (Partikel?)

Ich würde das vorne betonte „trotzdem“ für ein Adverb halten, sowohl in Beispiel 2 als auch 3, denn man kann beide Varianten auch mit dem Wörtchen „bald“ um‘-schrei-ben, was ja ein duden-zertifiziertes Adverb ist.

9. Es wurde dunkel, bald ging ich heim.
10. Es wurde dunkel und ich ging bald heim.

Dass [trotz‘-dem] und [trotz-dem‘] unterschiedlich betont werden, könnte also daran liegen, dass es sich bei dem einen um ein Adverb, bei dem anderen um eine Konjunktion handelt und nur zufällig beide unflektierten Formen gleich aussehen. Wenn mir jetzt noch jemand den Unterschied zwischen Adverbien und Partikeln begreiflich machen könnte, würde der Knoten in meinem Kopf vielleicht platzen. Trotzdem‘ ich keine Ahnung habe, hilft mir das Nachdenken über solche Probleme trotz’dem. So ist das mit den linguistischen Sinnkrisen am Mittagstisch.

8 Kommentare zu “trotzdem – trotzdem”

  1. Felixx
    September 22nd, 2008 23:24
    1

    Bei all diesen Überlegungen habe ich als Beleg guten Deutsches gelernt, wenn man am Satzanfang überall dort auf „trotzdem“ verzichtet, wo es ein „obwohl“ ebenso auch täte.-

  2. LeV
    September 23rd, 2008 14:12
    2

    Ja, nur Grammatik ist kein Beleg guten Deutsches. Ich habe in der Schule auch mal gelernt, ein Satz müsse aus Subjekt, Prädikat und Objekt bestehen. Diese Behauptung ignorierte Sätze wie „Ja.“, die inzwischen den Namen „Nominalsätze“ erhalten haben. Sie existieren und sie funktionieren und Sache der Sprachwissenschaft ist es nicht, zu sagen, dass unsere Sprache verkommt, sondern zu erklären, wie und warum sie funktioniert – auch wenn irgendein Sprachpurist sich hinstellt und behauptet, man dürfe ja nicht…

  3. Mavis Todd
    Dezember 4th, 2008 14:50
    3

    Also das trotzdem‘ lässt sich ersetzen durch obwohl, obgleich, wenn auch oder wenngleich. Das trotz’dem durch dennoch, nichtsdestotrotz oder nichtsdestoweniger. Ich würde denken, dass die beiden trotzdems dann die selben Wortarten sind wie die jeweiligen Synonyme.

    Mein (nichtautoritatives) deutsches Wörterbuch löst das Problem sehr einfach, indem es einfach alle diese Wörter als Bindewörter bezeichnet.
    Der Langenscheidt sagt, dass es sich beim einen (trotzdem‘) um eine Konjunktion und beim anderen (trotz’dem) um ein Adverb handelt – also ganz deiner Vermutung entsprechend.

  4. Andreas
    Dezember 5th, 2008 19:33
    4

    Ehrlich gesagt ist für mein (helvetisch gefärbtes) „Musik“gehör die Verwendung von trotzdem wie im ersten Beispielsatz sehr unüblich, ich würde es immer durch „obwohl“ ersetzen, ich verwende das Wort eigentlich nur als Adverb. Und „ziemlich“ würde ich auch nur als Partikel verwenden, ich halte Beispiel 7. für ungrammatikalisch, besser wäre „Ich liebe ihn ziemlich stark“, „ich habe ihn ziemlich gern“. Als Adverb finde ich die Verwendung von „ziemlich“ ziemlich unziemlich.

  5. pringles
    Dezember 18th, 2008 18:52
    5

    hallo

    ich kann leider überhaupt nicht helfen, aber mir viel auf, das man satzweiterführend bei deinem beispiel:

    6. Ich komme trotz’dem.

    auch noch sagen kann

    ich kam trotzdem sie mir davon abrieten

    was wieder ein gegensatz zur betonung von „trotz“ wäre, da es sich auf das „dem“ bezieht..

    ich kann nicht auf betonungslehre zurückgreifen, aber mein gehör sagt mir, das ich den längeren, oder stärker betonten vokal dehne oder hebe….mehr als den darauf folgenden, oder den zuvor genutzten
    ..inwiefern etwas adverb, oder verb ist, vermag ich nicht zu beurteilen und verzeihung falls mein kommentar verwirrt oder unsinnig erscheint..
    aber so vernehme ich die betonung…
    in der zeit seit der ich schreibe, habe ich mir eingetrichtert, das ein stark betontes wort, durch ein stärker betontes wort an betonung verliert und das die betonung durch die vokallautgebung begründet werden könnte…

    vielleicht liegt die verschiedene betonung in dem moment nicht mehr am wort, sondern am vokallaut?
    meiner meinung nach bestimmt der vokal nämlich das klangbild…*schluck*

    trotz’dem – trotzdem‘

    der hauptakzent liegt auf dem kurz-stark betonten o, das e wird gesenkt…
    umgekehrt liegt die betonung weiterhin auf dem kurzstark betontem o, aber das e hebt an, durch die längere aussprache und überfrachtet das o..
    ich kann das nicht benennen, aber ist das phänemon nicht weitestgehend rein phonologischer natur und bezieht sich auf die satzstellung? hm, soweit…
    glg pringles

  6. pringles
    Dezember 18th, 2008 18:58
    6

    richtigstellung, nicht

    „das ein stark betontes wort, durch ein stärker betontes wort an betonung verliert und das die betonung durch die vokallautgebung begründet werden könnte…“

    sondern,

    das eine stark betonte silbe, durch eine stärker betonte silbe an betonung verliert und das die betonung durch die vokalllautgebung begründet werden könnte…

    verzeihung
    glg pringles

  7. maXces
    Dezember 24th, 2008 16:43
    7

    Hallo LeV,

    Auf dotcom bin ich auf dich und diese Seite gestoßen – leider hat sich unsere Ziet dort nicht überschnitten. Aber nun zum Eigentlichen.

    Danke für diesen lehrreichen Beitrag. Ein paar Dinge, die ich anmerken möchte:

    1. Du gibst an, dass „trotzdem“ eine Konjunktion wie „dass“, „weil“ oder „obwohl“ sein könnte. Wenn trotzdem eine Konjunktion wäre, wäre es wie „und“ oder „aber“ eine koordinierende, nicht aber wie „weil“ oder „obwohl“ eine subordinierende (Subjunktion).

    2. Es schneit, trotzdem fahre ich mit dem Auto.
    Es schneit, dennoch fahre ich mit dem Auto.
    Es schneit, aber ich fahre mit dem Auto.

    Im ersten un zweiten Satz ist die Wortstellung gleich. Trotzdem und dennoch dürften hier also sehr ähnlich sein. Aber wäre eine Konjunktion. Was ich weiß, ist dennoch ein Adverb. Dann könnte trotzdem auch eines sein.

    3. Ich komme trotzdem.
    Ich komme dennoch.
    Würde ich demnach auch als Adverb durchgehen lassen.

    4. „Trotzdem es gestern regnete, … “ Könnte das nicht umgangssprachlich sein?

    5. Ich habe so etwas schon bei „damit“ beobachtet.
    Ich brauche Schuhe, damit ich tanzen kann.
    damit –> xX
    Damit will er mich erschrecken.
    damit –> Xx

    Also dann, ich wünsche dir noch ein schönes Weihnachtsfest.

    Liebe Grüße,
    maXces

  8. LeV
    Dezember 24th, 2008 22:39
    8

    Hallo maXes, es ist ja nun so, dass das Adverb die Problemwortart schlechthin ist. Jede Grammatik gibt dir da eine anderen Lösung und keine davon ist rund. Grammatik ist etwas ähnliches wie ein physikalisches Modell, d.h. ein Erklärungsversuch für bestimmte Vorkommnisse in der Natur. Die Grammatik versucht bestimmte Sprachvorkommnisse zu erklären und dabei ist es egal, ob es sich um normierte oder um Umgangssprache handelt. Wenn man es so will, ist die Umgangssprache sogar die größere Herausforderung. Der Hinweis auf „damit“ ist spannend, ich nehme das mal in meine Sammlung zu beobachtender Sprachphänomene auf. 😉 Grüße, LeV.

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