Am Anfang war das Bild?

„Am Anfang war das Bild“ – so kommt es mir häufig vor, wenn ich lyrische Texte lese. Bevor ein Autor den ersten Vers verfasst oder die ersten Begriffe beisammen hat, steht ein initiierendes Element. Wenn ich selber etwas schreibe, so steht am Anfang jeder Verschriftlichung zunächst ein Bild, welches mir vor dem geistigen Auge vorschwebt. Ich visualisiere eine Landschaft oder eine Situation in Bildern, wobei diese Landschaft sich dann in einem Text manifestiert. Manchmal kommt es mir bei der Betrachtung von bildender Kunst so vor, als sei diese Kunst bereits Lyrik. Ich stelle auch immer wieder fest, dass ich einen Text beim Lesen wieder in jenen bildhaften Ursprungszustand visualisierend zurückversetze in dem er in ähnlicher Form im Kopf des Autors vermutlich auch schon manifest war. Der Prozess geht also in beide Richtungen.

Text lesen –> Bild visualisieren
Bild visualisieren –> Text schreiben

Wenn ich bildende Kunst anschaue fehlen eigentlich nur das Lesen und das Visualisieren. Die Visualisierung ist praktisch schon existent in Form einer realen Leinwand. Der Unterschied zwischen dem Eindruck von bildender Kunst und konventioneller Lyrik scheint mir irgendwie sehr klein zu sein (was das Endprodukt im Kopf angeht). Es finden sich meines Erachtens auch Parallelen zwischen abstrakter Kunst und moderner Lyrik. Bei so manch modernem Text sehe ich ein chaotisches Klecksgewirr (nun nicht ironisch gemeint).

Da ich selber nicht in die Köpfe anderer Menschen hineinblicken kann, kann ich nur vermuten, dass euch das ähnlich geht. Aber ich denke jeder Mensch nimmt dies auch wieder ein wenig anders war. Ich persönlich habe jedenfalls durch die Beschäftigung mit der Lyrik eine neue Sensibilität gegenüber bildender Kunst entwickelt, obwohl ich mich mit selbiger kaum beschäftigt habe. Dies könnte auf die ähnlichen Prozesse im Gehirn, beim Lesen und Verarbeiten von Lyrik und beim Betrachten von bildender Kunst, zurückzuführen sein. Geht euch das auch so?

Liebe Grüße
Jonas

8 Kommentare zu “Am Anfang war das Bild?”

  1. LeV
    Oktober 9th, 2008 14:51
    1

    Ich denke, der wesentliche Unterschied zwischen einem Bild und einem Gedicht ist die Entfaltung von Zeit. Auch wenn man, und das unterscheidet Lyrik von Epik, nicht davon reden kann, dass sich ein Gedicht nun in unglaublicher zeitlicher Ausdehnung entfaltet, so wird es doch während der Rezeption erst durch einen Prozess von Dauer in Struktur und Gehalt erfaßt. Es erscheint mir so, dass eine Erzählung, auch wenn sie nicht chornologisch erzählt wird, so doch in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden kann, die auf einem linearen Zeitstrahl einen Anfang und ein Ende hat. In einem lyrischen, sagen wir mal, Bild entfaltet sich die Zeit eher punktuell. Ich stelle es mir wie die Explosion eines sehr massereichen, kleinen Sterns vor, die sich in Form einer Kugel ausbreitet. Damit hat man durch die atmosphärischen Elemente der Lyrik eine Projektionsfläche, die sich dreidimensional ausdehnt. Und während bei der Betrachtung eines Bildes die inhaltliche und strukturelle Gesamtheit quasi gleichzeitig auf die Wahrnehmung trifft (ja, neurologisch betrachtet natürlich nicht), so braucht die Manifestation eines Gedichtes in der Wahrnehmung einen Zeit-Raum.

    Ich denke, dass beim Betrachten von Kunst, egal welcher und mit welchem Sinn immer verschiedene Hirnareale beteiligt sind, das eine mehr, das andere weniger. Ich vermute, dass beim „Betrachten“ von Lyrik Areale beteiligt sind, die auch beim Betrachten eines Bildes eine Rolle spielen (was die Bildlichkeit betrifft). Dass aber ebenso sehr Areale eine Rolle spielen, die beim Betrachten von Musik aktiv sind. Denn die Rezeption von Musik, in der sich Struktur und Inhalt des Werkes in zeitlicher Ausdehnung erschließen, erscheint mir in diesem Punkt der eines Gedichtes sehr ähnlich. Zeit spielt für mich als Dichter eine sehr wichtige Rolle, erscheint mir aber für die Bildende Kunst nicht so ausschlaggebend.

  2. demon17
    Mai 12th, 2009 11:45
    2

    Hier möchte ich widersprechen. Ich denke noch an das Bild von Emil Nolde, vor dem ich im Studium mal nahezu eine Stunde stand. Es kamen immer neue Aspekte zum Vorschein, die auf den ersten Blick übersehen wurden. Wirklich gute Bilder fesseln den Beobachter und verändern seine Perspektive dauerhaft. Im Unterschied zur Lyrik vollzieht es sich halt nonverbal und damit irrational. Es sperrt sich gegen die semantische Rationalisierung des analystischen Verstandes. Dieser ist vielmehr gezwungen selbst kleine Theorien zu formulieren um die Wahrnehmung eines Bildes zu verbalisieren. Sicher das kommt uns bei der Gedichtinterpretation bekannt vor, bedarf aber durch den Wechsel des Mediums vom Bild zur Sprache einer wesentlich höhere Selbstreferenz (Autonomie)des Beobachters. Wenn also nicht die Dauer der Wahrnehmung der entscheidende Unterschied ist. So ist sie im Text geordnet linear-temporär. Die Wahrnehmung eines Bildes, läuft sehr viel chaotischer bzw. individueller ab. Das Auge wandert in alle möglichen Richtungen und schaut hin und her. Der wesentliche Unterschied zwischen Lyrik und Bild ist jedoch, der Prozess als Thema lässt sich kaum darstellen. Während die Sprache für alle möglichen Prozesse Metaphern entwickelt hat, die sich frei variieren, reflektieren, ironisieren usw. lassen, bleibt das Bild immer nur Momentaufnahme, wenn auch eine sinnlich sehr viel direktere als selbst eine Metapher, die doch immer noch auf den Prozess/Filter des Lesens angewiesen ist.

    Auch ist der Zwang zur Abstraktion durch die Schrift wesentlich höher als beim Bild….

  3. LeV
    August 8th, 2009 19:30
    3

    Das widerspricht sich nicht so sehr mit meinen Überlegungen, demon. Natürlich kann man vor einem Bild viel Zeit verbringen, um es zu betrachten. Ich denke aber (da mögen mich die Fachleute eventuell eines besseren belehren), dass ein Maler eines sehr komplexen und detailreichen Bildes die Reihenfolge, in der der Betrachter die Details erfaßt, nicht so einfach zu manipulieren ist, wie in einem Gedicht, das ja eben durch den Lektüreprozess von oben links nach unten rechts erfaßt wird. Natürlich gilt dies auch nur für Texte, die nicht mit konkret abbildenden Elementen arbeiten, sondern das Schriftbild quasi als Träger der Information und nicht als informationellen Selbstzweck betrachten.

    Abgesehen davon ergeht es mir beim Dichten nicht so, wie Jonas es in seinem Text beschreibt. Es gibt nicht immer ein Bild am Anfang, manchmal ist es ein Wort, ein bestimmter Reim, eine schöne Versform. Anlässe für kreative Reflexionen, die in Gedichte münden, gibt es viele, wenn man kreativ ist. Man muß immer zwischen der Lesezeit und der gelesenen Zeit unterscheiden. Also die Zeit, die man benötigt, um ein Gedicht zu lesen und die Zeit, die das Gedicht inhaltlich abdeckt, sind verschieden. Mein These betraf die Zeit, die ein Gedicht inhaltlich abdeckt und die ist eben punktueller, bildlicher, weniger linear, als die Zeit, die ein narrativer Text abdeckt.

  4. dermon17
    August 9th, 2009 08:46
    4

    Was den Zeitraum angeht, den ein Bild abdeckt hast Du sicher recht. Obwohl das Bild eines Hauses zum Beispiel subjektiv eine Ewigkeit abdecken kann. Es ist dann immer auch eine Frage des Motives, so ist es objektiv immer eine Momentaufnahme. Beim Dichten habe ich eigentlich auch selten Bilder im Kopf. Es ist eher ein Gefühl, dieses Heureka-Gefühl. Im Hirn bildet sich eine kritische Spannung, die sich in neuen Formulierungen entlädt, was wiederum ein gewisses Glücksgefühl vermittelt. Dasselbe Gefühl übrigens, wie bei der Theoriebildung, oder dem Verfassen von Prosa, obwohl beim Dichten ja noch mehrere formale Ebenen berücksichtigt werden müssen. Der kreative Prozess baut immer auf einer Menge Erinnerung auf. Aber das ist wohl wieder eine Parallele zu sämtlichen kreativen Tätigkeiten, die eine gewisse kulturelle Kompetenz voraussetzen um intersubjektiv Niveau zu erreichen. Ich denke gerade darüber nach, wie man einen Alexandriner schreibt, ohne sich bewusst mit dem Thema auseinanderzusetzen…

    aber das ist ein anderes Thema. 😉

  5. LeV
    November 2nd, 2009 18:11
    5

    Du möchtest einen Alexandriner schreiben, ohne dich mit dem Thema zu befassen? Aber, dass du einen Alexandringer schreiben möchtest, ist doch schon eine Befassung mit dem Thema. Wie könntest du sonst ein solches Interesse haben? Du mußt dich doch also irgendwie, und sei es oberflächlich, mit dem Alexandriner auseinandergesetzt haben, um ihn überhaupt wollen zu können. Oder verstehe ich dich flasch?

    Ich finde es spannend zu sehen, dass sich früher viele Spannungen in mir in Formulierungen entladen haben, die mich dazu bewegt haben, sie in Gedichte zu fassen. Die Sprache zu beherrschen war beinahe so wie ihre Inhalte (also meine wirren Gedanken) zu beherrschen und das hat natürlich eine Art Glücksgefühl ausgelöst. Seit einem konkreten Meilensein in meinem Leben habe ich nicht mehr das dringende Bedürfnis Gedichte zu schreiben, so wie früher. Ich formuliere nicht mehr um der Formulierung Willen, sondern habe mit dieser Phase quasi abgeschlossen. Inzwischen kann ich Arthur Rimbaud viel besser verstehen. 😉

  6. demon17
    November 2nd, 2009 19:14
    6

    Inzwischen habe ich schon wieder vergessen was ein Alexandriner ist. Zwei Monate nichts geschrieben und es reicht gerade noch für einen braven Fünfheber. Mir fehlte ein bisschen die Muße, aber ich werde wohl balld die Einführung in die Gedichtinterpretation zum dritten Male lesen. Mich reizt es nicht wirklich, das letzte Gedicht hätte auch leicht ein Sonett werden können, aber wozu? 6 Wechselreime und ein Paarreim zum Schluß tun es ja schließlich auch. Also wirklich ich entwickle mich im Schneckentempo, vier Schritte vor und drei zurück …

  7. GEO
    November 5th, 2009 20:00
    7

    @Demon,

    was genau reizt dich denn an der Konstruktion spezieller Versformen? Ich sehe keinen Sinn darin einen Alexandriner als Selbstzweck zu schreiben. Im Grunde sind doch alle Versformen total simpel aufgebaut (Der Reiz kann also doch nicht nur durch die Form gegeben sein). Die Abfolge der Silbenbetonungen (viel gibts da nicht zu variieren), die Anzahl der Silben pro Vers und eventuell (wie beim Alexandriner) noch eine genau definierte Platzierung einer Zäsur nach der soundsovielten Silbe. Für mich persönlich liegt mehr der Reiz darin meinem zu verdichtenden Thema eine passende Form zu geben. Wenn ich zufällig auf dieses durch die Zäsuren verstärkte Wechselspiel dualistischer Elemente (These – Antithese) des Alexandriners angewiesen bin, dann schreibe ich einen Alexandriner. Aber diese Form ist ganz schön Asbach Uralt. Da nehme ich mir lieber eine neutralere Form. Wenn man einen Alexandriner laut liest, merkt man schnell, wie altbacken er klingt (zudem wirkt alles furchtbar sortiert). ;-))

    Grüßchen
    Jonas

  8. demon17
    November 5th, 2009 20:48
    8

    Ein Gedicht stellt für mich die Synthese zwischen Inhalt und Form dar. Insofern kommt der Form eine große Bedeutung zu. Persönlich möchte ich mich entwickeln. Mein Repertoire erweitern, bis ich für verschiedene Gelegenheiten die passenden Formen spielerisch verwenden kann. Dazu gehört Übung. Ich glaube auch nicht, dass sich eine neue Form von selbst ergibt, bei mir jedenfalls nicht. Ich muss es mir vornehmen, sonst verfalle ich immer wieder in dieselben vierzeiligen Strophen mit abab Reimschema und alternierendem Versmaß. Du hast sicher recht, der Alexandriner prägt den Inhalt stark. Er führt zu einer dichotomen Darstellung der Materie, aber das ist ja auch mal ganz interessant. Momentan versuche ich mich jedoch an einem fünfhebigen Daktylus und lasse mich inhaltlich dabei von Georg Trakl inspirieren, von dem zahlreiche Gedichte im Projekt Gutenberg erschienen sind. Was ich damit sagen will, nur durch ständige Übung erlernt man (ich jedenfalls) die Vielfalt an Ausdrucksformen, die uns die deutsche Lyrik zur Verfügung stellt. Was als abstrakte Struktur so simpel erscheint, ist nur schwer ungezwungen mit Inhalten zu vereinbaren. Genau daran liegt aber die Kunst für mich.

    Liebe Grüße

    demon17

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