Psalmtöne von einem Atheisten erklärt

Liegt es daran, dass ich Atheist bin und nie die Erfahrung praktischer Kirchenmusik gemacht habe? Jedes Mal, wenn ich mich wissenschaftlich mit Kirchenmusik befasse, habe ich enorme Mühe, zu verstehen, was hinter den Begriffen steht, die da verwendet werden und gucke wie die Sau ins Uhrwerk. Aktuell wurmen mich Monteverdis „Marienvesper“ und die Fragen nach der Auswahl der Psalmen und Antiphone, nach der Melodie der Psalmen und Antiphone, nach den Psalmtönen und Modi. Verkompliziert wird das ganze dadurch, dass die Liturgie (meint das die Texte, die Melodien oder die Riten?) um 1610 nicht dieselbe war wie heute und dass es damals regionale Unterschiede gab. Für einen aktiven Kirchengänger mögen diese Fragen lächerlich sein. Aber mich beschäftigen die jedes Mal auf’s Neue und ich bin immer froh (und möchte das teilen), wenn ich da neue Erkenntnisse gewinne. Diesmal bin ich der Frage: Was sind Psalmtöne und welchen Bezug haben sie zu den Kirchentönen?, ein Stück weit näher gekommen.

Kurzer Abriß: Eine Vesper ist ein abendlicher Gottesdienst. Der kann von den Klerikern allein oder von der gesamten Gemeinde gefeiert werden. Dabei erklingen vor allem Psalmen, die können rezitiert oder gesungen werden. Zur Zeit Monteverdis (also um 1610) waren es wohl 5 Psalmen pro Vesper, die jeweils von einem passenden Antiphon eingerahmt wurden. Die Auswahl der Psalmen- und Antiphontexte richtete sich entweder nach dem Kirchenjahr (Proprium de Tempore) oder nach der/dem Heiligen, die/der Anlaß zum Feiern des Gottesdienstes gibt (Proprium Sanctorum).

Wenn man diese Psalmen und Antiphone singen will, ohne da jetzt groß etwas auszukomponieren, so psalmodiert man die Psalmen mithilfe der Psalmtöne und intoniert die Antiphone als gregorianische Choräle. Gregorianische Choräle sind alte, tradierte, feststehende Melodien in den sogenannten Kirchentönen oder Modi. Die Kirchentöne sind diatonische Leitern, die die Oktave in Halb- und Ganztonschritte teilen. Sie liegen diesen Choralmelodien als Tonvorrat zugrunde. Ähnlich wie man sagen kann, die Melodie von „Alle meine Entchen“ steht in C-Dur, kann man sagen, die Melodie von Choral X steht im Modus Y. In den meisten zeitgenössischen Theorien gibt es 8 solcher Modi. Alle beginnen/enden mit einem anderen Ton und haben die 2 Halbtonschritte an unterschiedlichen Positionen der Leiter.

Dementsprechend gibt es 8 Psalmtöne. Die haben ebenfalls die Kirchentöne zur Grundlage. Aber es sind keine feststehenden Melodien, wie die Choräle, sondern lediglich Melodiemodelle. Über diesen Melodiemodellen wird der gesungene Vortrag des Psalmtextes quasi improvisiert. Denn es ist so, dass ein Psalm (das ist ein feststehender, tradierter, liturgischer Text) aus verschieden vielen Versen besteht und jeder Vers zählt je 2 Halbverse. (Die Verse müssen weder Reim, noch Metrum haben, nur eine Zäsur in der Mitte ist obligat.) Beim Psalmodieren, also beim gesungenen Vortrag eines Psalms, wird jeder Silbe des Verses genau ein Ton zugeordnet – der Vortrag ist also syllabisch. Diese Psalmtöne als Melodiemodelle sind immer gleich aufgebaut – die haben eine Anfangswendung, eine Mittelkadenz und eine Schlußkadenz – außerdem gibt es einen Rezitationston. Die Silben des Psalms werden nun so auf die Formel aufgeteilt, dass der Versanfang auf die Anfangsformel fällt, die Zäsur zwischen den beiden Halbversen auf die Mittelkadenz und der Versschluß auf die Schlußkadenz. Alle übrigen Silben, die nicht auf eine solche Formel fallen, werden auf den Rezitationston gesungen. Wie oft der Rezitationston also hintereinander erklingt, ist abhängig davon, wieviele Silben der Psalmvers hat. Der Rezitationston liegt meist eine Quinte oder Quarte über dem Grundton des zugrunde liegenden Modus (was im Übrigen vermutlich die Keimzelle unserer Funktionsharmonik/unseres Quintenzirkels ist).

Was mir heute dabei geholfen hat, diese zuvor schon bekannte Theorie endlich praktisch zu begreifen, war eine Visualisierung der Psalmtöne in Form von Noten. Diese habe ich auf der Seite Sancta Missa – Gregorian Chant gefunden. Dort gibt es nämlich einen Link zu den Psalmtönen und ein PDF [0.06MB] zum Download, das die 8 Psalmtöne (plus den tonus peregrinus) in notierter Form aufzeigt. (Ich empfehle jedem, der sich mit Psalmen befassen muß und das nicht schon mit der Muttermilch aufgesogen hat, da mal einen Blick drauf zu werfen, das ist echt erhellend!) Jeder Psalmton hat eine Anfangsformel (Intonatio/Initium), eine Formel für Atempausen (Flexa), eine Formel für die Mittelzäsur (Mediatio) und mehrere Schlußwendungen (Terminatio) mit je versch. Schlußtönen (Finalis). Die Formeln für die 8 Psalmtöne bauen auf dem Tonvorrat der 8 Kirchentöne auf. Die Varianten für die Schlußformeln sind deshalb so zahlreich, weil es traditionell das Bestreben gab, den Schlußton des Psalms mit dem Schlußton des Antiphons in Übereinkunft zu bringen. Durch die Schlußvarianten gab es mehr Flexibilität bei diesem Vorhaben. Gesangspraktisch ist das auch total sinnvoll, weil der Folgesänger damit leichter seinen Anfangston findet und Melodien von Psalm und Antiphon dadurch akustisch besser zusammenpassen.

Kurzer historischer Exkurs: Das spannende ist, dass es die Melodieformeln der 8 Psalmtöne schon vor den gregorianischen Chorälen gab (das hat Wurzeln in der jüdischen Tradition). Die Choralmelodien haben sich aus diesem improvisierten, formelhaften, flexiblen Psalmgesang (= Psalmodie) zu feststehenden Melodien entwickelt und das hört man auch. Insgesamt ist diese mittelalterliche Kirchenmusik, in deren Zentrum der gregorianische Choral steht, ja eine an die Sprachmelodie und den formalen Aufbau der vorgetragenen Sprache angepaßte. Insofern erschien es wohl auch unnötig, einen Rhythmus zu notieren, weil der ja von der Sprache vorgegeben war. Neumen (zeitgenössische Quadratnotation ist auch eine Neumenschrift), in denen der gregorianische Choral notiert ist, kodieren nur Tonhöhe und Intonation, nicht aber musikalischen Rhythmus. Rhythmus ist erst seit dem mehrstimmigen Gesang zunehmend ins Blickfeld gerückt.

Fazit: Man wählt also für die Vesper einen Psalm, der textlich zum Kirchenjahr oder zum Heiligenfest paßt (wofür es gewisse Kompendien gibt, die vorgeben, was liturgisch passend ist). Dann wählt man einen textlich zum Psalm und Kirchenjahr oder Heiligenfest passenden Antiphontext. Wenn man singend vortragen will, betrachtet man sich die Choralmelodien, die für dieses Antiphon tradiert sind und schließlich wählt man zu dieser Melodie passend den Psalmton und die zur Finalis des Antiphons passende Schlußwendung. Nun ist aber in Monteverdis „Marienvesper“ kein einziges Antiphon vertont, sondern lediglich fünf (mehrstimmige) Psalmvertonungen finden sich in dem Druck. Diese fünf Psalmvertonungen verwenden die Psalmtöne (!) und geben damit auch eine Schlußwendung und einen Finalton vor. Damit besteht die Aufgabe, nicht die Psalmmelodie dem Antiphon anzupassen, sondern umgekehrt, das Antiphon passend zum Psalmton zu finden, was ungleich schwieriger ist, weil ja der feststehende Choral eines Antiphons nur begrenzt flexibel ist. Es ist ein bis heute ungelöstes Problem, zu den von Monteverdi in seiner „Marienvesper“ vertonten Psalmen textlich und melodisch passende Antiphone zu finden. Es gibt entweder nur textlich passende Antiphone mit melodisch unpassendem Choral oder nur melodisch passende Choräle von textlich unpassenden Antiphonen. Das ist ein aufführungspraktisches Dilemma!

Die nächste ungelöste Frage für den sich mit Kirchenmusik befassenden Atheisten ist: In welchen Büchern sucht man nach liturgisch/melodisch passenden Antiphonen und gab es diese Bücher schon 1610 so in der Form? Jeffrey Kurtzmann, der ein umfangreiches Buch zu Monteverdis „Marienvesper“ geschrieben hat, meint dazu: Breviarum Romanum, in einer Fassung vor der Reform Pius X. 1911 oder ein Liber usualis in einer Fassung nach dem trentiner Konzil (1545 – 1563) und vor dem 2. vatikanischen Konzil (1962 – 1965). Was ist mit dem Proprium de Tempore/Sanctorum, dem Graduale und dem Stundenbuch, fragt sich da der Atheist. Und wie zur Hölle übersetzt man „Common of the Virgin“, das an anderer Stelle von Kurtzmann als Quelle für die Antiphonauswahl genannt wird.

7 Kommentare zu “Psalmtöne von einem Atheisten erklärt”

  1. DrNI
    November 27th, 2010 12:30
    1

    Ich kannte die 8 Modi bisher als „Kirchentonleitern“, sie sollten in jedem nicht ganz schlechten Buch über Jazz erläutert sein, z.B. „Das Jazz-Piano Buch“ von Mark Levine.

    Ansonsten ein interessanter Post, der eine mir komplett fremde Welt mit ihren eigenen Systemen vorstellt.

  2. LeV
    Dezember 17th, 2010 16:57
    2

    Kirchentöne und Modi sind dasselbe. Aber wenn man wissen will, welche praktische Bedeutung und welchen Charakter die im Mittelalter, der Renaissance und dem Barock hatten, wird man wohl in historische Abhandlungen schauen müssen. In der Jazz-Musik werden die nämlich anders verwendet. Außerdem kennt man dort Lokrisch und Hypolokrisch, einen 13. und 14. Modus, der aber überhaupt nicht historisch ist. Finalis und Tenor haben da ein Tritonus-Verhältnis! Glareanus und Zarlino haben schon im 15. und 16. Jahrhundert ihren Theorien, das Äolische (quasi Moll) und das Ionische (quasi Dur) mit jeweiligen Plagaltonarten hinzugefügt. Einen schönen Überblick gibt es auf http://de.wikipedia.org/wiki/Kirchentonart

  3. Hans Lang
    Januar 11th, 2011 12:18
    3

    fuer psalm 104 suche ich nach einer melodie.

    ….

    Sie alle warten auf dich,
    ihre Nahrung zu geben zu deren Stunde.
    Du gibst ihnen, sie lesen auf,
    du öffnest deine Hand, sie ersatten an Gutem.
    Du birgst dein Antlitz, sie werden verstört,
    du ziehst ihren Geist ein, sie verscheiden
    und kehren zu ihrem Staub.
    Du schickst deinen Geist aus, sie sind erschaffen
    und du eneuerst das Antlitz des Bodens.

    deutsch von buber/Rosenzweig

    Hast Du eine Idee?

  4. LeV
    Januar 21st, 2011 18:21
    4

    Na ja, die Psalmtöne sind ja für lateinische Verse gedacht. Ich hab das nicht überprüft, aber ich denke, die funktionieren nicht gleich. Insofern sind Psalmtöne hier vermutlich unpassend. Aber befrage doch mal Google dazu!

  5. CFcor
    November 21st, 2011 10:14
    5

    Das Brevier (breviarium romanum) ist nichts anderes, als eine Kurzfassung des Stundenbuches für zunächst reisende Mönche, später für alle Kleriker.

  6. LeV
    November 21st, 2011 10:48
    6

    @CFcor: Ah, vermutlich heißt es deswegen „brevis“. Ich denke, das Problem ist sowieso, dass bei den liturgischen Texten hundert Textfassungen und hundert Zusammenstellungen existierten und vermutlich jede Kirche da ihre eigene Version hatte. Dass eine Version dann sogar einen eigenen Namen gemäß Funktion oder höchstpäpstlichem Erlaß hatte, war vermutlich auch nicht Gang und Gäbe und eher so ein Versuch, Einheitlichkeit zu suggerieren, wo sie nicht herrschte.

    @Hans Lang: Nein, hab ich nicht.

  7. thegep
    März 13th, 2015 19:52
    7

    Sehr alter Beitrag, aber ich bin erst jetzt darauf gestoßen. Tatsächlich ist es aber so, dass die liturgischen Gesänge in einem weiten Geltungsbereich durchaus einheitlich existierten (bzw. im Prinzip auch noch heute existieren). Dabei muss man festhalten, dass die Gesänge ursprünglich aus den Klöstern und somit aus den verschiedenen Orden stammten. Die Singweise der Benediktiner hat sich für die römisch-katholische Kirche als „Standard“ durchgesetzt. Die anderen Orden durften und dürfen ihre eigenen Traditionen weiter pflegen. Alle Gesänge werden in verbindlichen Büchern (für die verschiedenen Gottesdienstformen wie Messen und Stundengebete jeweils eigene) festgeschrieben und gelten weltweit. Allerdings haben örtliche (diözesane) liturgische Besonderheiten und Eigenheiten ebenfalls Platz in diesen Vorschriften und dürfen abweichend auch verwendet werden.
    Übrigens heißt es „die Antiphon“ und im Plural „die Antiphonen“ (das Wort wird also nicht gleich verwendet bzw. flektiert wie „Telefon“ oder „Mikrofon“).

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