Das verletzt meine nicht-religiösen Gefühle

Ich habe gerade einen grandiosen Tweet von @zeitweise gelesen, den ich 10x retweeten würde, wenn ich könnte:

Vielleicht ist es albern, das mal anzusprechen, aber nicht religiös zu sein bringt auch Gefühle mit sich, die man verletzen kann.

Ich finde das gar nicht albern, sondern sehr wichtig, das mal so deutlich ausformuliert zu finden. Mir fehlten für diese Erkenntnis bisher die Worte.

Bedingt durch meine Sangestätigkeit in einem Oratorienchor habe ich es viel mit religiöser Chormusik zu tun. Ich singe Messen, Requien, Oratorien über Heilige, Choräle und geistliche Lieder, einfach weil der Großteil der Chormusik christlichen Ursprungs ist. Ich singe an sich gerne, aber jedes „Credo“, jedes „Stille Nacht, heilige Nacht“, jedes „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ geht mir unglaublich schwer über die Lippen. Ich muß mich oftmals vom textunabhängigen, künstlerischen Selbstwert eines Musikstückes überzeugen oder mich an nicht-religiösen allegorischen Auslegungen christlicher Texte versuchen, um überhaupt guten Gewissens singend partizipieren zu können. Manchmal hilft auch Veralberung, wenn ich anstatt „Ihr aber seid nicht fleischlich“ „Ihr aber seid nicht fleißig“ singe. Ich tue das nicht, um die religiösen Gefühle anderer zu verletzen, sondern aus purem Selbstschutz, um die Integrität meiner Gefühle zu wahren.

An Weihnachten fällt mir das besonders schwer und ich bekomme immer richtig schlechte Laune. Erstens sind die wenigsten Weihnachtslieder musikalisch wertvoll, zweitens sind die meisten schon soo ausgeleiert, dass ich schon allein aufgrund des Wiederholungsfaktors genervt davon bin und drittens sind die meisten meiner MitsängerInnen an Weihnachten immer in so einer Stimmung, die Unantastbarkeit des Weihnachtsfestes verlangt und keinen Widerspruch dagegen dulded (selbst die, die sich nicht für besonders religiös halten). Dann wird meinem Unwillen nicht nur kein Verständnis entgegengebracht, sondern man ist mir sogar Gram, weil ich die Stimmung vermiese. Manche versuchen noch, mich aufzumuntern, indem sie mir erklären, Weihnachten sei ja schon ein sehr verweltlichtes Fest. Das mag ja stimmen, aber anstelle von Jesus Christus dem weltlichen Konsum zu huldigen, finde ich auch nicht prickelnder. Ich persönlich verbinde nichts Schützenswertes mit Weihnachten, außer der Freistellung von der Erwerbsarbeit vielleicht, die man aber meinethalben auch gerne auf einen anderen Tag verschieben darf.

Ich sehe ja ein, dass sich religiöse Menschen ungerne an Weihnachten von mir die Stimmung vermiesen lassen wollen und meine Konsequenz daraus ist, dem Weihnachtsliedersingen einfach zukünftig fern zu bleiben, weil das vermutlich für uns alle auf Dauer gesünder ist. Aber ich finde es schon traurig, dass mir und meinen nicht-religiösen Gefühlen so wenig Verständnis entgegengebracht wird, dass niemand sieht, welch emotionale Belastung es für einen Atheisten bedeuten kann, entgegen seiner Überzeugung „credo in unum deum“ singen zu müssen. Das wäre ungefähr so, wie wenn ich einen Christen zwingen würde, „Christus ist ein Hirngespinnst und an Gott zu glauben, ist Verblendung“ zu singen und ihm, wenn er Unsicherheit zeigt, kumpelhaft auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: „Hey, nimm das nicht so ernst und hör lieber mal auf die schöne Musik!“ Religiöse Freunde von mir haben sich über meine Credo-Aversion schon lustig gemacht, und ich habe mit ihnen gelacht. Aber wenn ich mir das recht bedenke, finde ich das inzwischen eigentlich gar nicht mehr so lustig, weil ich sehe, dass nicht-religiöse Gefühle generell viel unernster genommen werden als religiöse. Wer aber nicht möchte, dass ich mich über seinen Christus-Glauben lustig mache, der sollte sich auch nicht lustig machen über meinen Christus-Nicht-Glauben. Das entspräche meinem ethischen Grundsatz: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andren zu! Dass das meinen Gefühlen als Religionslose gegenüber nicht gelten soll, finde ich unfair. Daher werde ich auch zunehmend zum militanten Radikal-Atheisten, nicht weil ich jemandem seine Religion verbieten will, sondern um mir nicht vorhandene Schutzräume zu erkämpfen, in denen ich vor Religions-Gedöns sicher bin.

11 Kommentare zu “Das verletzt meine nicht-religiösen Gefühle”

  1. ToJe
    April 25th, 2011 14:52
    1

    Auch wenn ich deine Argumentation durchaus nachvollziehen kann, stellt sich mir doch die Frage: Warum singst Du ausgerechnet in einem Oratorienchor, wenn Du mit geistlichen Inhalten möglichst wenig zu tun haben möchtest? Die meisten Oratorien sind nun einmal geistlich (ja, ich weiß, daß es auch „weltliche Oratorien“ gibt, aber die sind eher selten). Das erscheint mir in etwa so sinnvoll, wie als überzeugter Vegetarier zum Spanferkelessen zu gehen…

  2. Tilly
    April 26th, 2011 09:52
    2

    Man kann auch zum Spanferkelessen als überzeugter Vegetarier gehen, weil man dort vielleicht liebe Menschen trifft und das gesellige Beisammensein schön sein kann. In diesem großartigen Oratorienchor wird gern gesungen und das auch ziemlich professionell. Die Musik ist oft wunderbar. Ich kann aber ebenso die Texte oft nicht ertragen. Zum Glück kann ich sie oft auch nicht verstehen, wenn ich als Gast einem Konzert lausche. Das macht es mir wieder erträglicher. Schwieriger stell ich mir das Einstudieren dieser Texte vor, wenn es nicht mit dem eigenen Credo übereinstimmen will. Ein Schutzschild ist dann sicher, in Gedanken andere Texte darauf zu singen. Ich will auch nicht gleich zum militanten Radikal-Atheisten werden. Zumal ich auch noch gegen jegliche Gewalt bin. Dennoch kotzt mich die Verlogenheit vieler kirchlicher Würdenträger so an, dass ich meinen Zorn im Zaume halten muss. Leider gehören viele Redewendungen religiösen Ursprungs derart zum allgemeinen Sprachgebrauch, dass ich sie selbst unbewußt benutze.
    Gruß Tilly

  3. LeV
    April 26th, 2011 13:58
    3

    @ToJe: Na ja, ich bin schon extra nicht in einen Kirchenchor gegangen. Wenn du chorsinfornisch musizieren möchtest, weil du Spaß am Singen hast, bleibt dir kaum eine andere Möglichkeit. Oder fällt dir ein semi-professionelles, chorsinfonisches Gesangs-Ensemble an, das ausschließlich weltliche Musik aufführt? Mir nicht, nicht mal in Berlin und da gibt es echt viele Chöre. Der Löwenanteil an Chormusik ist einfach geistlichen Ursprungs; es gibt m.E. gar nicht ausreichend weltliche Musik, um damit einen regelmäßigen Konzertbetrieb aufrecht zu erhalten. Ich meine, du kannst ja auch nicht jeden Tag „Carmina Burana“ und „9. Sinfonie“ singen, da wirst du ja auch irgendwann blöde. Einziger Ausweg scheint mir ein Opern-Chor zu sein und darüber habe ich in der Tat schon nachgedacht.

    Auf der anderen Seite ist eine „Matthäuspassion“ natürlich schon auch aus rein künstlerischen Gründen aufführenswert und macht auch unabhängig von Jesus Christus Spaß beim Singen.

    @Tilly: Nee, gegen Gewalt bin ich auch. Das meinte ich damit auch nicht.

  4. xipulli
    Mai 18th, 2011 19:00
    4

    Die eine Hälfte einer vernünftigen Antwort ist durchdacht und die sagt erst mal: Ja, Du hast recht, man wird als Atheist von der Gesellschaft vereinnahmt, die sich in bestimmten Oberflächlichkeiten religiös ausnimmt. Für den zweiten Teil (irgendwann lesbar) muss noch ein bischen Hirnschmalz reingesteckt werden. Soweit so gut:

    http://www.thistwistedworld.com/general/blasphemy.jpg

    :), xi

  5. LeV
    Mai 18th, 2011 20:50
    5

    Das Bild ist klasse! 😉

  6. Dissonanz
    Juni 7th, 2011 01:58
    6

    Hallo Lev – ich empfinde sehr ähnlich und ich bin über diese Misstände verärgert, keines Wegs aber überrascht.

    Auch möchte ich es nicht einfach so hin nehmen, doch stellt sich mir oft die Frage, welche lohnenswerten Ergebnisse denn in dieser Gesellschaft zu erzielen wären, die ein aktives Vorgehen gegen die Madenherde schmackhaft machen würden?

    Sie haben die Mehrheit, also haben sie recht. Warum sollte sie im „starken“ Schutze der Mehrheit, deren Beistand und Zustimmung sich die Made sicher sein kann, sich dazu herablassen, zu denken und gar andere Wertvorstellungen zu aktzeptieren? Natürlich spotten die naiven über das nicht Offensichtliche, und erheben sich in ihrer peinlichen, scheinheiligen, verständnissvollen Güte über alle, in dem sie mit ihrem Mitleid gleichzeitig einen höheren Stand, da sie unser weltliches Elend ja durschauen und beklagen, implizieren. Wie also soll man mit Maden ernsthaft kommunizieren? Ein gescheiterter Versuch endet in der Erniedrigung, von den erniedrigten erniedrigt zu werden.

    Dies wissend, beschränkt sich mein Protest daher eher auf Ignoration, Belustigung – begleitet von dem Gefühl, was ein Erwachsener empfindet, wenn er einem Kind den Sieg im Fußball Zweikampf gönnt, um es bestätigt zu wissen, damit man selbst sich dann wieder wichtigeren Dingen zu wenden kann.

  7. LeV
    Juni 7th, 2011 10:20
    7

    Na ja, in dem Teil, dass man überhaupt nur ab einem gewissen Grad der Angenervtheit aktiv wird und den Rest unter „ja, soll’n sie halt“ verbucht, gebe ich dir Recht. Aber der Grad der Genervtheit, wo ich das nicht mehr kann, ist halt ab und an erreicht. Und da widerspreche ich dir bei: Sie haben die Mehrheit, also haben sie recht. Heterosexuelle Partnerschaften sind auch in der Mehrheit und trotzdem lohnt es sich, für die Rechte von Schwulen und Lesben zu kämpfen. Das Thema Minderheitenschutz gegenüber Nicht-Gläubigen wird meines Erachtens viel zu wenig thematisiert – im Gegensatz zum Schutz anderer Minderheiten, wie bspw. Schwule und Lesben. Dabei leben wir theoretisch in einem säkularen Staat. Ich möchte ja niemandem verbieten zu glauben, was auch immer ihm/ihr gefällt – meinthalben eben auch an alte Herren mit Rauschebart und Nachthemd. Ich möchte aber, dass es mir nicht aufgedrängt wird, mir nicht als Argument verkauft wird, weshalb ich etwas tun oder gut finden soll. Das nervt, weil das der Punkt ist, an dem die Freiheit des Gläubigen meine Freiheit als Nicht-Gläubiger beschränkt. Und für meine Freiheit zu kämpfen, fand ich schon immer irgendwie sinnvoll.

  8. slowtiger
    Juli 8th, 2011 17:38
    8

    Exakt mein Fühlen, grad diese Woche. Ob Übersetzen/Neutexten hülfe? Aber schlag das sonem Chorleiter mal vor…

  9. Unschudsvermuter
    März 12th, 2012 16:18
    9

    Ich teile deinen Konflikt, kann aber nicht verstehen, was dein Leben so erschwert.
    Du musst deinen Frieden machen mit den Emotionen der Menschen. Der Glaube ist tief im Unterbewusstsein verankert und entzieht sich damit der Ratio. Glaube erfasst den „einfachen“ Menschen wie den Wissenschaftler. Er manifestiert sich über Institutionen und Wertschöpfer und wird nur durch sie kanalisiert.
    Die unterschiedlichen Glaubensausrichtungen trennen die Menschen mehr, als sie miteinander zu verbinden imstande sind. Sie haben großen Schaden angerichtet und tun es bis heute. Meine Lebenserfahrung lehrt mich (ich bin 70Jahre alt), dass die Toleranzschwelle in Glaubensdingen sehr gering ist (auch wenn das anders vorgegeben wird) und kann, wenn man eine gegensätzliche Meinug vertritt, nur zur Zurückhaltung raten, auch aus Respekt vor Andersdenkenden. Das gilt seit über 2000 Jahren. Das wird sich auch nicht ändern, ebenso wenig, wie wir keine „besseren“ Menschen werden und geworden sind durch die Himmelslehren!

  10. LeV
    März 12th, 2012 20:12
    10

    Ich muß mit den Emotionen der Menschen keinen Frieden machen, denn ich befinde mich nicht im Krieg mit ihnen. Du hast Recht damit, dass man mit gläubigen Menschen schwer über ihren Glauben diskutieren kann, weil er ihrer Ratio nicht zugänglich ist. Das liegt aber nicht daran, dass der Glaube der Ratio von Natur aus unzugänglich wäre, sondern daran, dass Leute Angst haben, ihren Glauben rational zu durchdringen. Sie vermeiden die rationale Konfrontation ihres Glaubens, denn die rationale Konfrontation des Glaubens könnte zu der Erkenntnis führen, dass der Glaube keine tiefere Wahrheit birgt als der Nicht-Glaube. Solche Erkenntnis könnte wiederum zu einer Veränderung der Bewertung des eigenen Glaubens führen und das muss vermieden werden.

    Dass Menschen sich ihrem Glauben (und übrigens meist auch ihren Emotionen) nicht rational stellen wollen, toleriere ich schon mein ganzen Leben, auch wenn es meinem Anspruch an mich selbst und meine Mitmenschen keineswegs gerecht wird und von mir als maximal enttäuschend empfunden wird. Dass aber die Forderung nach Zurückhaltung aus Respekt vor dem Andersdenkenden nicht nur die Gläubigen untereinander betrifft, sondern auch das Verhältnis zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen, darum ging es mir in diesem Artikel. Die historisch und traditionell schwächere Position ist dabei aber nicht die des Gläubigen, sondern im Gegenteil die des Nicht-Gläubigen. Das Andersdenken des Nicht-Gläubigen wurde und wird m.E. zu wenig respektiert, ganz deutlich wird das am Beispiel USA.

  11. Unschuldsvermuter
    März 17th, 2012 19:31
    11

    Hallo LeV,

    ich habe geglaubt, dass du mit Sprache umgehen kannst. Ich habe keinen Zweifel an deiner Friedfertig keit und bin sicher, dass du du keine Krieg führst.
    Sinngemäß bedeutet, seinen Frieden machen, sich abfinden damit wie es ist, weil du die Menschen nicht ändern kannst. Das haben schon andere versucht und sind gescheitert.
    Solange du nicht gesteinigt wirst als Ungläubiger, muss es dir egal sein (es könnte dir woanders noch passieren)!
    Glaube hat nichts mit Wissen zu tun, daher ist es auch abwegig nach Wahrheit oder nach sonstwas zu suchen.
    Ca. 80% der Weltbevölkerung hat spirituelle Gene, du gehörst zu einer Minderheit und die
    lebt auch schon mal gefährlich.
    Also richte dich ein!

Kommentar abgeben: