Neurophysiologie des Hörens

In meinem Seminar zum Thema „Räumliches Hören“ habe ich gestern meinen Vortrag zur Neurophysiologie des Hörens gehalten. Neurophysiologie behandelt die physikalischen, chemischen und biologischen Aspekte der Sinnesorgane und Signalwege im peripheren und zentralen Nervensystem. Es geht also um das, was passiert zwischen dem Erklingen einer Schallquelle und unserem Bewußtsein davon, dass wir etwas hören. Das Thema hat mich als Musikwissenschaftlerin sehr interessiert und offenbar habe ich es geschafft, meinen Zuhörern auch etwas zu vermitteln. Damit außer meinen Komilitonen auch andere Menschen daran partizipieren können, habe ich meinen Vortrag hier mal in einen Blogartikel gegossen. Die Abbildungen entstammen größtenteils drei Büchern, die im Literatur-Abschnitt genauer angeführt sind. Sie werden hier im Sinne wissenschaftlicher Zitation (§63 UrhG) verwandt. Sollte deren Verwendung dem Rechteinhaber dennoch nicht genehm sein, bitte ich um einen kurzen Hinweis auf unbürokratischem Wege.

Gliederung:

  1. Schallwellen (ganz knapp)
  2. Anatomie des Ohres
  3. Auditive Signaltransduktion
  4. Signalwege im PNS und ZNS
  5. Lokalisation von Schallquellen
  6. Literatur
  7. Updates

Schallwellen (ganz knapp)

Schall ist eine physikalische Größe, durch die Luftmoleküle impulsartig verdichtet werden. Dadurch entsteht eine dreidimensionale Druckwelle. Für diese Luftdruckveränderungen ist das Ohr als Organ sensibel. Eine Schallwelle hat mehrere Eigenschaften: die Wellenform, die Phase, die Amplitude (in der Wahrnehmung mit Lautstärke verknüpft) und die Frequenz (in der Wahrnehmung mit Tonhöhe verknüpft). Das Spektrum hörbarer Frequenzen liegt beim Menschen zwischen 20Hz und 20.000 Hz (20kHz). Ältere Menschen hören hohe Frequenzen schlechter, so dass das obere Maximum bei ihnen ungefähr bei 16 kHz liegt. Reine Sinustöne gibt es in der Natur nicht. Geräusche und Töne sind komplexe Wellen, die meist eine Grundfrequenz und eine oder mehrere Nebenfrequenzen unterschiedlicher Intensität ineinander vereinen. Jedes Schallereignis hat also seine ganz spezifische, komplexe Wellenform.

Anatomie des Ohres

Mithilfe des Ohres werden Schallereignisse in elektrische Impulse umgewandelt, die das Gehirn dekodieren (analysieren, verarbeiten, erkennen, erinnern, etc.) kann. Das Ohr wird anatomisch in drei Teile gegliedert: das Außenohr, das Mittelohr und das Innenohr.


Abb.1: Purves 2004, S. 288

Zum Außenohr gehören die Ohrmuschel und der äußere Gehörgang. Die Ohrmuschel ist in besonderer Weise geformt, so dass sie Frequenzen um die 3kHz besonders stark hervorhebt. Diese Frequenzen machen den Großteil der Sprachfrequenzen aus. Zwar liegen Vokale im dreistelligen Frequenzbereich, doch die Konsonanten, insbesondere Plosive, haben Grundfrequenzen im 3kHz-Bereich. Außerdem sorgt die spezielle Form der Ohrmuschel auch dafür, dass die hohen Frequenzanteile einer erhöhten Schallquelle hervorgehoben werden.

Das Mittelohr sorgt dafür, dass die Schallwelle beim Übergang aus der Luft in die Lymphflüssigkeit des Innenohrs nicht abgeschwächt wird. Normalerweise würde die Energie einer Schallwelle beim Übergang von einem Medium mit geringem Widerstand in ein Medium mit größerem Widerstand zu 99% reflektiert werden. Durch die relative Größe des Trommelfells, die bewegliche Aufhängung der drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboß und Steigbügel) und die relative Zierlichkeit des ovalen Fensters in der Cochlea des Innenohrs, wird das Audiosignal sogar noch um das 200fache verstärkt.

Das Innenohr bildet sich aus einer knöchernen Struktur, die das Verstibulum, unser Organ für den Gleichgewichtssinn und die Cochlea oder Gehörschnecke umfaßt. Das Vestibulum bleibt in diesem Vortrag außen vor. Rollt man die Schnecke der Cochlea ab, so hat man es mit einer etwa 35mm langen, konischen Röhre zu tun, die an der Basis breiter und an der Spitzer enger ist. Die Röhre ist mit Lymphflüssigkeit gefüllt und hat drei Gänge.


Abb.2: Kahle 2003, S. 371

Die Abbildung zeigt einen Querschnitt durch die (eingerollte) Cochlea. Zu erkennen sind mehrere Widnungen der Röhre mit ihren drei Gängen. Die flexible Basilarmembran trennt die obere Scala Vestibuli von der unteren Scala Tympani. Beide sind mit Perilymphe gefüllt und an der Spitze miteinander verbunden. Die Reissner-Membran trennt die Scala Media vom oberen Gang ab. Sie ist mit Endolymphe gefüllt. Auf der Basilarmembran, in der Scala Media befindet sich das Cortische Organ, das für die auditive Signaltransduktion verantwortlich ist.


Abb.3: Purves 2004, S. 292

Auffällig ist die große Tektorialmembran, unter der sich die Haarzellen des Cortischen Organs befinden. Zur Mitte der Schnecke gelegen, befinden sich die inneren Haarzellen. Das sind afferente Sinneszellen, die das Audiosignal übertragen und ins Gehirn leiten. Davon abgewandt befinden sich die äußeren Haarzellen, efferente Zellen, die Input aus dem Gehirn empfangen. Solche efferenten Sinneszellen gibt es nur im Ohr, im Auge oder in der Nase fehlen sie. Ihr Zweck und ihre Funktionsweise sind bisher nicht genau bekannt. Man geht aber davon aus, dass sie Einfluß auf die Bewegung der Basilarmembran nehmen und für das „Fine-Tuning“ des Hörvorgangs verantwortlich sind.

Die äußeren Haarzellen stehen an der Basis in drei, mittig in vier, an der Spitze in fünf Reihen. Die inneren jedoch durchweg nur in einer Reihe. Auf jeder Haarzelle befinden sich wiederum drei Reihen dünner Härchen, die sogenannten Stereozilien, die der Zelle ihren Namen geben. Sie Stereozilien sind der Größe nach angeordnet. Die Reihe mit den kürzesten Härchen steht vorn, die Reihe mit den längsten hinten. Betrachtet man die Haarzelle von oben, ordnen sich die drei Reihen halbkreisförmig an.

In jedem Ohr gibt es nur etwa 15.000 Haarzellen. Eine Beschädigung der Haarzellen (z.B. durch laute Geräusche) ist irreversibel und führt zur partiellen Taubheit. Aufgabe der Cochlea und ihrer Haarzellen im Corti-Organ ist es, die Schallwelle in einen elektrischen Impuls umzuwandeln. Dabei zerlegt sie die komplexen Wellenformen in einfache Bestandteile, z.B. einzelne Frequenzen.

Auditive Signaltransduktion

Beim Thema der auditiven Signaltransduktion geht es um die Frage, wie aus der physikalischen Schallwelle ein elektrischer Impuls wird.

Ich erwähnte oben bereits, dass das Mittelohr dafür sorgt, dass die Schallwelle verlustfrei aus der Luft in die Flüssigkeit des Innenohrs übergeht. Durch die Druckwelle des Schalls gerät das Trommelfell ins Schwingen, mit ihm schwingen die Gehörknöchelchen. Dadurch wird die Endplatte des Steigbügels in die Öffnung des ovalen Fensters in der Cochlea gestoßen. Dort kann sie die Lymphe verdrängen, weil die Scala Vestibuli und Scala Tympani miteinander verbunden sind und die Membran des runden Fensters an der Basis der Cochlea flexibel ist. Dadurch geraten auch die Basilarmembran und auf ihr das Corti-Organ ins Schwingen. Diese Schwingungen und die Membranpotentiale der Haarzellen sind der Schlüssel zum Verständnis der auditiven Transduktion.


Abb.4: Purves 2004, S. 293

Die Basilarmembran schwingt in Resonanz mit der Schallwelle. Der maximale Ausschlag bei der Resonanz ist je nach Frequenz lokal auf der Basilarmembran fixiert. Da sie so beschaffen ist, dass sie an an der Basis steifer und dicker, an der Spitze aber dünner und flexibler ist, resonieren die tiefen Frequenzen an der Spitze, die hohen aber an der Basis der Basilarmembran. Bei der dadurch erzeugten topographischen Abbildung des Frequenzspektrums auf der Gesamtlänge der Basilarmembran, spricht man von Tonotopie. Die Tonotopie wird auf dem gesamten Weg durch das zentrale Nervensystem bis hin zum Neocortex bewahrt.

Die Schwingung der Basilarmembran wird vermutlich auch noch aktiv durch die äußeren Haarzellen beeinflußt, so dass es zu einer Verfeinerung der auditiven Wahrnehmung kommt. Phänomene wie der Cocktailparty-Effekt oder Krankheiten wie der Tinnitus könnten dadurch erklärt werden. Wie genau das funktioniert, ist noch unklar.

Die Stereozilien wandeln die mechanische Vibration der Basilarmembran in elektrische Impulse um. Durch die Schwingung der Basilarmembran und der Tektorialmembran werden die Stereozilien der Haarzellen bewegt. Eine Bewegung in Richtung der größten Stereozilie bewirkt eine Depolarisation der Zelle, d.h. ihr Membranpotential wird positiver. Eine Bewegung in Richtung der kleinsten Stereozilie bewirkt die Hyperpolarisation der Zelle, d.h. das Membranpotential wird negativer.


Abb.5: Purves 2004, S. 299

Die Haarzellen ragen in die Scala Media und die darin befindliche Endolymphe hinein. Die Endolymphe ist reich an Kalium-Ionen (K+) und hat gegenüber der Perilymphe in der Scala Tympani ein Ladungspotential von +80mV. Die Haarzelle selbst hat ein negatives Ladungspotential um die -45 bis -60mV.


Abb.6: Purves 2004, S. 297

An der Spitze der Stereozilien befinden sich kleine Kanäle, deren Klappen über feinste Filamente mit der nächstgrößeren Stereozilie verbunden sind. Werden die Stereozilien nun bewegt, straffen sich diese Filamente und öffnen dadurch mechanisch die Klappen der Kalium-Ionen-Kanäle. die positiv geladenen Kalium-Ionen (K+) strömen in die negativ geladene Zelle ein und ändern deren Membranpotential in positivere Bereiche (Depolarisation). Dadurch werden am Körper der Zelle Kanäle geöffnet, durch die zweifach positiv geladene Kalzium-Ionen (Ca2+) in die Zelle einströmen. Durch die Kalzium-Ionen werden die Vesikel in der Haarzelle, kleine Zellbläschen, die die Neurotransmitter enthalten, dazu bewogen, sich mit der Zellmembran zu verbinden. Bei dieser sogenannten Exozytose schütten die Vesikel ihre Neurotransmitter aus, in diesem Falle Glutamat. Die Ausschüttung bewirkt ihrerseits ein Aktionspotential in der angeschlossenen Nervenzelle.

Die Haarzellen reagieren auf Bewegungen von der Größe eines Goldatoms und ändern ihr Ladungspotential innerhalb von 10 Mikrosekunden (10×10^-6 Sekunden). Sie sind sensibler und schneller als alle Sinneszellen der anderen Sinnesorgane. Bis zu einer Frequenz von 3kHz ändern sich die Membranpotentiale sogar phasengleich zur Frequenz. Höhere Frequenzen werden nicht mehr phasengetreu übertragen.

Signalwege im PNS und ZNS

Der elektrische Impuls der Haarzelle wird an die Neuronen im Nervensystem weitergegeben. Das Nervensystem wird anaotmisch in zwei Bereiche gegliedert: das periphere Nervensystem (PNS) und das zentrale Nervensystem (ZNS). Zum ZNS gehören Gehirn und Rückenmark, zum PNS alle anderen Nervenzellen. Beide Systeme bestehen aus Nervenzellen, sogenannten Neuronen.


Abb.7: Eigenkreation nach hyperhighs

Die Neuronen haben einen Zellkörper, der den Zellkern enthält. Am Körper gibt es Fibern, die Signale in die Zelle leiten (Input) und Dendriden heißen. Pro Zelle gibt es aber nur genau einen Ausgang, aus dem Signale aus der Zelle herauskommen, der heißt Axon. Die Neuronen bilden Cluster aus Zellkröpern und Axonen. Im PNS werden die Cluster von Zellkörpern Ganglien und die Cluster von Axonen Nerven genannt. Im ZNS heißen die Körper Nuklei und die Axone Trakte. Zellkröper und Axone sind als weiße und graue Materie deutlich voneinander zu unterscheiden.


Abb.8: Hendelmann 2006, S. 83

Auf der Abbildung sieht man einen Querschnitt durch das Gehirn ungefähr auf Höhe der Ohren. Die dunkleren Strukturen umfassen bspw. den Thalamus und die äußere Rinde des Neocortex. Die weißen Bereiche sind Ansammlungen von Axonen.


Abb.9: Kahle 2003, S. 377

Die direkt an der Haarzelle angrenzenden Neuronen im PNS bekommen einen elektrischen Impuls von der Haarzelle. Das erste Verarbeitungszentrum des Signals sind die Spiralganglien in der Gehörschnecke. Von dort reichen Axone in die Cochlear-Nuklei im Stammhirn. Vorher verbinden sie sich mit den Axonen des Vestibulums zu einer großen Datenautobahn, die da Vestibulocochlearnerv oder 8. Kranialnerv heißt. Kranialnerven sind Nerven, die direkt ins Gehirn eintreten und nicht etwa, wie die Spinalnerven, ins Rückenmark. Sie werden nach der Höhe ihres Eintretens ins ZNS nummeriert. Der 8. Kranialnerv tritt am oberen Ende der Medulla oblongata ins Stammhirn ein. Andere Kranialnerven sind, z.B. der Sehnerv (2. KN) oder der Vagusnerv (10. KN). Insgesamt gibt es 12 Kranialnerven.


Abb.10: Hendelmann 2006, S. 55

Auch das Gehirn wird anatomisch gegliedert. Von unten kommt das Rückenmark, dieses wird zum Stammhirn. Das Stammhirn ist zusammengesetzt aus der Medulla oblongata (unteres Stück), der Brücke (dickere Wulst in der Mitte) und dem Mittelhirn mit seinen beidseitigen Superior und Inferior Colliculi. Das Kleinhirn (Cerebellum) ist nicht an der auditiven Signalverarbeitung beteiligt. Über dem Stammhirn liegt das Diencephalon mit Thalamus und Corpus Callosum. Der Coprus Callosum ist in der Abbildung die weiße Struktur in der Mitte, sie verbindet die beiden Gehirnhälften. Ganz außen liegt das Großhirn, das auch Cortex oder Neocortex genannt wird und der evolutionär jüngste Teil unseres Gehirns ist.


Abb.11: Hendelmann 2006, S. 107

Das Aktionspotential der Zellen tritt über den Vestibulocochlearnerv in die Cochlea-Nuklei im ZNS ein. Dies ist das erste Relay. Von dort führen verschiedene Signalwege in die höheren Verarbeitungszentren. Eines der ersten und wichtigsten ist der Superior Olivary Complex, der eine Querverbindung, den Trapezkörper hat, der beide Seiten miteinander verbindet. Der Trapezkörper hat in sich auch einen Nukleuskomplex. Vom Superior Olivary Complex reicht ein breiter Trakt durch die Brücke in die Inferior Colliculi des Mittelhirns.


Abb.12: Hendelmann 2006, S. 101

Auf dem Brachius des Inferior Colliculum verläßt das Signal das Stammhirn und geht in die mittigen Nuklei des Thalamus (medial geniculate complex). Abgesehen von olfaktorischen Signalen, die über den 1. Kranialnerv ins Gehirn gelangen, wird jedes sensorische Signal über den Thalamus geleitet. Er ist ein obligatorisches Relay für alle Sinneseindrücke. Vom Thalamus wird das Signal an das 1. und 2. Hörzentrum auf dem Neocortex geleitet.


Abb.13: Purves 2004, S. 309

Der auditorische Cortex liegt an der Oberseite des Temporallappens und wird normalerweise vom Parietallappen abgedeckt. In der Abbildung ist der Parietallappen mit einem Instrument angehoben, so dass der auditorische Cortex sichtbar wird. Die Tonotopie der Cochlea ist auch hier erhalten. Neuronen im vorderen Bereich des 1. Hörzentrums reagieren auf tiefe Freqeunzen, Neuronen im hinteren Bereich auf hohe. Es heißt, Musik werde eher in der rechten, Sprache in der linken Hemisphäre verarbeitet. Man hat jedoch herausgefunden, dass sich die Verschaltungen im Cortex sehr gut und flexibel an die konkreten Anforderungen anpassen. Geschulte Musiker werten bspw. konkrete musikalische Ereignisse verstärkt auf der linken Hirnhälfte aus.

Lokalisation von Schallquellen

Wie im Stammhirn die Position von Schallquellen auf der horizontalen Achse ermittelt wird, ist relativ gut erforscht. Beim Menschen werden zwei verschiedene Methoden wirksam. Die erste, die Ermittlung der Phasendifferenz, kommt bei Frequenzen unter 3kHz zur Anwendung. Die zweite, die Ermittlung der Intensitätsdifferenz, kommt bei Frequenzen ab 2kHz zur Anwendung.


Abb.14: Purves 2004, S. 305

Bei Frequenzen unter 3kHz werden die elektrischen Impulse im Gehirn phasengetreu zur Frequenz der Schallquelle weitergeleitet. Spezielle Neuronen in der Medial Superior Olive (MSO) verarbeiten Aktionspotentiale der anteroventralen Cochlea-Nuklei der linken und rechten Stammhirnhälfte. Diese spezialisierten Neuronen sind Koinzidenz-Detektoren; sie feuern genau dann, wenn zwei Signale gleichzeitig auf sie treffen. Jedes Neuron ist für eine Position auf der horizontalen Achse zuständig.

Trifft eine linksseitige Schallwelle auf den Kopf, so erreicht sie das linke Ohr ein wenig früher als das rechte. Das phasengetreue Aktionspotential läuft also auf der linken Seite ein wenig früher los als auf der rechten. Damit die beiden knapp versetzten Signale die spezialisierten Neuronen in der MSO gleichzeitig erreichen können, variieren die Axone, die aus den anteroventralen Cochlea-Nuklei in die MSO projizieren, systematisch in der Länge. Dadurch kommt es zu einer Laufzeitverlängerung des Signals (in diesem Falle des linksseitigen) so dass die Aktionspotentiale das auf die Lokalisation spezialisierte Neuron gleichzeitig erreichen. Feuert das in der Abbildung rechts befindliche Neuron, ist damit die Information einer linksseitig befindlichen Schallquelle verknüpft.


Abb.15: Purves 2004, S. 306

Da die Haarzellen ihr Membranpotential nur in 10×10^-6 Sekunden ändern können, können Frequenzen über 3kHz nicht mehr phasengetreu weitergeleitet werden. Die Lokalisierungsmethode der Phasendifferenz wird also bei höheren Frequenzen unbrauchbar. Ab ungefähr 2kHz wird aber der Kopf zu einer Schallbarriere. Die Schallwellen sind zu kurz, um sich um den Kopf herum zu beugen. Dadurch entsteht auf der der Schallquelle abgewandten Seite ein Schallschatten, d.h. die Schallwelle trifft mit geringerer Intensität auf das Ohr.

Somit können spezialisierte Neuronen in der lateralen Superior Olive (LSO) und den Medial Nuklei des Trapezkörpers (MNTB) die Intensitätsdifferenz der Schallwelle zu Lokalisierungszwecken gebrauchen. Axone der Cochlea-Nuklei projizieren in die LSO und die MNTB. Dies bewirkt eine Stimulation der Neuronen in der diesseitigen LSO. Die Neuronen in den jenseitigen MNTB, deren Axone auch in die jenseitige LSO projizieren, erhalten jedoch den Befehl, ein hemmendes Signal an die jenseitige LSO zu leiten. Ist die Schallquelle ganz links vom Ohr, so sind die Stimulation der Neuronen in der linken LSO und die Hemmung vom rechten MNTB maximal und die linke LSO feuert einen Gesamtstimulus an die höheren Verarbeitungszentren. Je weiter die Schallquelle zur Kopfmitte hin wandert, desto größer wird der diesseitige Hemmechanismus und desto geringer werden die Feuerraten der diesseitigen LSO.

Im Gegensatz zur Retina kann das Corti-Organ seine Eindrücke nicht räumlich abbilden. Es ist aber ganz klar, dass der Mensch trotzdem ein Wahrnehmungsvermögen für Raumklang hat. Daher werden andere, weitere Verarbeitungszentren an der Lokalisation, insbesondere auch auf der vertikalen Achse beteiligt sein. Die wahrscheinlichsten Kandidaten hierfür sind Zentren in den Inferior Colliculi des Mittelhirns und im Thalamus. Eventuell werden hierfür Informationen der Filterung der Ohrmuschel ausgenutzt. Diese ist nämlich so geformt, dass sie die höherfrequenten Anteile des Schalls einer erhöhten Schallquelle stärker herausfiltert, als wenn dieselbe Schallquelle sich am Boden befände. Wie jedoch die Raumklangvorstellung in ihrer Gesamtheit erzeugt wird, ist noch unklar.

Literatur

  • Purves, D. [et al.]: „Neuroscience“, 3rd Edition, Sinaur Associates, Messachusetts, 2004

Diesem Buch sind die meisten der hiesigen Abbildungen entnommen. Ich kann es als Lektüre wirklich nur empfehlen. Es behandelt das gesamte Gebiet der Neurophysiologie mit zusätzlichen Ausblicken auf Themenbereiche der Kognitionswissenschaften. Es ist gut und verständlich geschrieben, so dass auch Nicht-Mediziner damit klarkommen dürften.

  • Kahle, W. [et al.]: „Color Atlas and Textbook of Human Anatomy“, Vol. 3: Nervous System and Sensory Organs; Thieme, Stuttgart/N.Y., 2003

Dieses Buch geht insbesondere auf die anatomischen Aspkete des Nervensystems ein. Ohne Kenntnis der medizinischen Fachbegriffe für Lokalisations- und Strukturangaben von Organen ist man bei der Lektüre anfangs etwas aufgeschmissen. Diesem Buch ist Abbildung 2 entnommen.

  • Hendelmann, W. [ed.]: „Atlas of Functional Neuroanatomy“, 2nd Edition, Taylor & Francis, 2006

Auch dieses Buch behandelt in erster Linie die anatomischen Aspekte, in deren Zusammenhang es aber auch über Signalwege spricht. Liest man nur einzelne Passagen, z.B. zum Auditory Pathway, wird man wenig schlau daraus. Als additional reading ist es aber hilfreich. Insbesondere die Abbildung der Nuklei und Trakte im Stammhirn, die ich hier verwende, habe ich schätzen gelernt, weil man normalerweise nur Darstellungen einzelner Schichten zu sehen bekommt und eine 3D Abbildung das Verständnis doch enorm erhöht.

  • Noback, Ch. [et al.]: „The Human Nervous System. Structure and Function“, 6th Edition, Humana Press, Totowa, 2005

In diesem Buch habe ich vor allem die Einführung genossen, die einen mit den medizinischen Fachbegriffen zur Lokalisierung von Organen im Gehirn vertraut macht. Begriffe wie anteroventral, dorsal oder ipsilateral können einen am Anfang vor ziemliche Probleme stellen. Auch das Internet hilft bei der Recherche nach deren Bedeutung sehr.

Außerdem empfehle ich die 35-teilige Video-Serie auf Youtube von Walid Aziz Basharyar aka. hyperhighs, in der er anhand seiner Zeichnungen den Aufbau des Nervensystems erklärt. Seinen Abbildungen und Erklärungen habe ich meine Zeichnung der Neuronen nachempfunden.

Dieser Wikipedia-Artikel erklärt Begriffe wie anterior, posterior, dorsal, ventral, superior, inferior, lateral, medial, caudal, rostral, etc. so dass man irgendwann auch anatomische Lagebezeichnungen wie anteroventral versteht.

Updates

Ich habe Hinweise auf Unstimmigkeiten von Lesern bekommen.

@Gondlir hat darauf hingewiesen, dass auch die Retina kein räumliches Abbild erzeugt. Im Purves steht aber: „That auditory space can be perceived is remarkable, given that the cochlea, unlike the retina, cannot represent space directly.“ (S. 301) Daraus habe ich gelesen, dass die Retina das kann. Aber wie genau sie funktioniert und was hier eventuell gemeint sein könnte, habe ich mir nicht näher angeschaut. Vielleicht interpretiere ich den Satz auch einfach nur falsch?

@andreasdotorg hat bemängelt, dass eine Reaktionszeit der Zellmembran von 10 Mikrosekunden eigentlich phasengetreues Feuern bis 300 kHz ermöglichen müßte. Da eine Schwingung bei 3kHz eine Periodendauer von 1/3000, also ungefähr 300 Mikrosekunden hat, erschließt sich ihm nicht, weshalb die Zelle nur bis 3kHz phasengetreu feuern kann.

Im Purves steht wiederum: „Hair cells can convert the displacement of the stereociliary bundle into an electrical potential in as little as 10 microseconds; as described below, such speed is required for the accurate localization of the source of the sound.“ (S. 296) Es steht aber auch: „Hair cells still can signal at frequencies above 3 kHz, although without preserving the exact temporal structure of the stimulus: the asymmetric displacement-receptor current function of the hair cell bundle is filtered by the cell’s membrane time constant to produce a tonic depolarization of the soma, augmenting transmitter release and thus exciting VIIIth nerve terminals. (S. 299) Ich verstehe den Satz ungefähr bis „stimulus“, dann hört’s bei mir auf. Warum die Zelle also trotzdem auf 3kHz begrenzt ist, versteh ich auch nicht.

4 Kommentare zu “Neurophysiologie des Hörens”

  1. Gondlir
    Mai 27th, 2010 17:02
    1

    Die Retina repräsentiert immerhin ein zweidimensionales Abbild des dreidimensionalen Raums. Damit kann sie wirklich mehr als die Cochlea. Jedoch natürlich kein räumliches Abbild im engeren Sinne. Das dreidimensionale Sehen geschieht erst im Gehirn, nicht schon auf der Retina. Dabei werden die kleinen Unterschiede zwischen den Abbildern beider Augen im Sinne einer räumlichen Wahrnehmung interpretiert.

  2. LeV
    Mai 28th, 2010 17:20
    2

    Jaja, jetzt wo du es sagst, kommt es mir in die Erinnerung. Dreidimensionales Sehen ist auch nur möglich, wenn man zwei funktionsfähige Augen hat und die Bilder im Gehirn übereinandergelegt werden. Völlig einleuchtend. Was dann aber der Satz zu bedeuten hat, ist mir unklar.

  3. Tilly
    Juni 2nd, 2010 14:23
    3

    Hallo Lev, durch diesen Text kann man sich ja nur bei wissenschaftlichem Interesse durchbeißen. Ich wollte es drucken (mit Word wären es 15 Seiten geworden!), hab es dann doch gelassen. Für einen Blog-Eintrag scheint mir das auch zu lang. Thema scheint mir aber trotzdem so interessant, dass ich mir eine kürzere Ausführung wünschte.
    Beste Grüße Tilly

  4. LeV
    Juni 3rd, 2010 13:03
    4

    Na ja, der Text ist für diejenigen gedacht, die auf dem Gebiet fremd sind, gerne aber mal fundierte Einblicke erhalten wollen. Ich selbst habe daran ein wissenschaftliches Interesse gehabt, da dass ja a) ein Univortrag war und b) in meine Seminararbeit einfließen soll. Niemand muß das lesen, den es nicht interessiert. Und für die Kurzfassung kannst du dir das eingebettete Youtube-Video ansehen. 😉

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