Als Mediaevistin bin ich ja oft mit der Frage, „Und was kann man damit später mal machen?“, konfrontiert. Eine absolut naheliegende und logische Antwort darauf ist, dass man damit schon jetzt sehr gut besserwisserische Kommentare bezüglich der Aussprache mittelhochdeutscher Liedtexte abgeben kann. Und wer jetzt glaubt, in solche Verlegenheit komme man sowieso nie, der wird sich spätestens dann wundern, wenn er (wie ich derzeit mal wieder) in Chorproben sitzend die Carmina Burana von Carl Orff einstudiert. Diese enthält nämlich neben überwiegend mittellateinischen auch einige mhd. Texte, zu deren Aussprache dann immer viele Experten ihre Meinung kundtun. Diesen will ich mich hiermit anschließen.
Vorbetrachtungen
Das Phonemsystem des Mittelhochdeutschen (einer Sprachstufe in der Zeit von ca. 1050-1350) ist Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion und resultiert aus der sogenannten 2. Lautverschiebung. Im Zuge dieser 2. LV hat sich das Hochdeutsche (im Unterschied zum Niederdeutschen) aus dem westgermanischen Sprachverband abgespalten, was sich an einigen Lautwandelerscheinungen nachvollziehen läßt.
Um die im Folgenden aufgeführten Aussprachekonventionen richtig beurteilen zu können, ist es zunächst wichtig, sich über drei Dinge klar zu werden: 1. Es gab in der Zeit zwischen 1050 und 1350 keine regional übergreifende, mittelhochdeutsche Einheitssprache, sondern eine Sammlung an Dialekten. 2. Alle Mutmaßungen hinsichtlich deren Aussprache basieren auf wenigen Quellen, die diese dialektalen Mundarten mithilfe eines fremden (nämlich des lateinischen) Alphabets exemplarisch fixieren. 3. Diese graphische Fixation folgt in der Rechtschreibung keiner Normierung und variiert nicht nur von Text zu Text, sondern oftmals sogar von Vers zu Vers. Dadurch dass man aber „schrieb wie man sprach“ lassen sich teilweise Rückschlüsse auf das Phonemsystem ziehen. Vieles bleibt dennoch strittig. Thordis Hennings1 schreibt dazu:
Bei der Bezeichnung „Mittelhochdeutsch“ [handelt es sich] an und für sich um einen Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Schreibdialekte in sich vereint. Aber bis zum Zenit der höfischen Dichtung um die Wende vom 12./13. Jh. entwickelte sich so etwas wie eine überregionale höfische Dichtersprache, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dialektale Besonderheiten stark zurückgedrängt werden. Diese mhd. klassische „Einheitssprache“ beruht vor allem auf allemannischer und ostfränkischer Grundlage.
Hennings Aussage muß relativiert werden. Der Eindruck von Einheit entsteht in der Retrospektive evtl. nur aufgrund der Überlieferungslage höfischer Dichtung und den daraus erwachsenen Interessenschwerpunkten der historischen Sprachwissenschaft. Er muß sich bei eingehender Betrachtung ripuarischer und thüringischer Quellen der geistlichen oder bürgerlichen Literatur nicht zwangsläufig bestätigen. Für unsere Carmina Burana ist dies nur von marginaler Bedeutung. Denn die Handschrift des Codex Buranus wurde im bairischen Sprachraum, also in unmittelbarer dialektaler Nähe zum Alemannischen und Ostfränkischen niedergeschrieben und enthält Texte, die u.a. Walther von der Vogelweide zugeschrieben werden, der ebenfalls in diesem Sprachraum tätig war.
Es kann demnach nicht vollkommen verkehrt sein, sich mit der Aussprache der mittelhochdeutschen Liedtexte der Carmina Burana an den von Sprachhistorikern aufgestellten Konventionen für das „klassische“ Mittelhochdeutsch zu orientieren. Hierbei gilt, dass sich im gesamten oberdeutschen Sprachraum (alemannisch, bairisch, ostfränkisch und südrheinfränkisch) die 2. Lautverschiebung vollständig vollzogen hat. Man sagt dort auch heute noch ich und Apfel und nicht wie im niederdeutschen Berlin ick und Appel.
Zur regionalen Verteilung der hochdeutschen Mundarten s. Karte südlich der Benrather Linie. (Quelle: Uni Wien)
Aussprache des Mittelhochdeutschen
Die meisten mittelhochdeutschen Textausgaben sind (wenn auch mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Akribie) in ihren Schreibweisen normalisiert, so dass sich die phonetische Ausführung von Silben und Worten aus der graphischen Umsetzung „ablesen“ läßt. Ich erkläre die Aussprache deshalb zunächst an den üblichen Graphemen, später dann an den Texten der Carmina selbst.
- /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /ä/, /ö/, /ü/: Kurze Vokale sind beim Sprechen deutlich von langen zu unterscheiden. Durch die Existenz kurzer, offener Tonsilben unterscheiden sich das Mhd. geradezu charakteristisch vom Neuhochdeutschen. Es heißt im Mhd. tac [tack], nemen [nemmen], vil [fill], loben [lobben] und tugent [tuggent]. Ebenso verhält es sich mit den kurzen Umlauten.
- /â/, /ê/, /î/, /ô/, /û/, /æ/, /œ/, /iu/ (iu = langes ü): Im Unterschied dazu gibt es einige lange Vokale, die in den meisten Ausgabe durch Zirkumflex ^ gekennzeichnet sind. Fehlt diese Kennzeichnung (wie oftmals in unserer Notenausgabe der Carmina Burana) muß man auswendig wissen, welche Worten lange Vokale enthalten. (Tipp: Die kurzen Vokale überwiegen.) Es heißt im Mhd. dâhte [daachte], gelêret [gelehret], mîn [mien], sô [soo] und ûf [uhf]. Die langen Umlaute werden als Ligaturen geschrieben und sind daran zu erkennen, wobei die Kombination /iu/ für das lange /ü/ steht. Es heißt im Mhd. swære [ßwääre], hœren [höören] und triuwe [trüüwe].
- /ei/, /ou/, /öi/, /ie/, /uo/, /üe/: Die Diphtonge sind deutlich zweitonig zu sprechen, verschmelzen aber zu einer Silbe. Dabei liegt die Betonung auf dem ersten Vokal und fällt nach hinten ab, ähnlich wie es im heutigen Bairisch gesprochen wird. Es heißt im Mhd. ein [éyn], schouwe [schóuwe], vröide [fröide], dienest [díenest], buoch [búoch] und süeze [süeße].
- /h/, /lh/, /rh/, /ht/, /hs/: Das Graph /h/ ist im Anlaut und zwischen Vokalen ein zum Nhd. identischer Hauchlaut (wie in Herr und sehen). In den Kombinationen /lh/, /rh/, /ht/ und /hs/ versteht es sich jedoch als gutturaler Reibelaut. Damit ist evtl. immer der velare Ach-Laut [x] gemeint. In Verbindung mit vorderen Vokalen (e, i, ü) und Sonanten (l, r) könnte es aber schon zu einer Palatalisierung als Ich-Laut [ç] gekommen sein. Der durchgehend velare Gebrauch ist heute nur in der Schweiz, jedoch nicht im bairischen Sprachraum üblich. Ob er es damals war, ist unklar.
- /z/: Das Graph /z/ wird im Anlaut und nach einem Konsonanten als Frikativ [tz] gesprochen, z.B. in zuo [tzuo] oder herze [hertze]. In den übrigen Fällen steht es für ein stimmloses /s/, dass dem nhd. /ß/ oder /ss/ entspricht, wie in daz [daß] oder wazzer [wasser].
- /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/, /sw-/: Das Graph /s/ wird in den Kombinationen /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/ und /sw-/ nicht palatalisiert, es gibt also anders als im Nhd. hier keinen Zischlaut. Es heißt im Mhd. spil [ßpill] und swære [ßwääre].
- /w/: Bezüglich der Aussprache des Graphs /w/ (=/uu/, /vv/) gibt es zwei Meinungen. Die eine Schule möchte es als dentalen Reibelaut wie nhd. Wasser hören, die andere als Halbvokal [ɥ] wie im engl. water. Ich persönlich schließe mich wegen der Weiterentwicklung des /w/ im Nhd. dieser zweiten These an, da mhd. frouwe im Nhd. nicht zu Fraw, sondern zu Frau geworden ist.
Mhd. Texte der Carmina Burana
Man erkennt, dass unsere Notenausgabe2 der Carmina Burana keine wissenschaftlich normalisierten Texte enthält. Der Gebrauch des Graphs /h/ in Endpositionen wechselt mit /ch/, einige lange Vokale sind durch Zirkumflex gekennzeichnet, auf anderen fehlen die Längenzeichen, Elisionen (bes. Vokalhiats und stumme e’s) sind nicht gekennzeichnet und in der 2. Strophe von „Chume, chum, geselle min“ ist noch ein Abkürzungszeichen (die Tilde über dem n) übernommen, das in ein Dentalsuffix aufgelöst werden muß.
Ich habe die langen und kurzen Vokale der wichtigen Wörter mit dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Niemeyer3 abgeglichen, um hier eine Sicherheit hinsichtlich ihrer Aussprache zu bekommen. Das /eu/ in freudenriche ist der normalisierten Form von vröide/vröude angepaßt und wird auch so gesprochen. Ich speche alle /w/ als Semivokale, alle /ch/ hinter vorderen Vokalen als Ich-Laut – das kann man aber halten, wie man will. Um sich die mp3s anzuhören, reicht es, in der Flashanimation auf den Play-Button zu klicken.
7. Floret silva
Floret silva undique,
nah mime gesellen ist mir wê.
Gruonet der walt allenthalben.
wâ ist min geselle alse lange?
der ist geritten hinnen.
owî, wer sol mich minnen.
[nach (x) miem (i lang, e stumm) gesellen ist mirr (i kurz) weh
gru-onet (Diphtong, aber o unbetont) der walt allenthalben
wa ist mien (i lang) geselle allse lange
der ist geritten hinnen
owie, wer soll mich minnen]
[audio:floret-silva-undique.mp3]
8. Chramer, gip die varwe mir
Chramer, gip die varwe mir,
die min wengel roete,
da mit ich die jungen man
an ir dank der minnenliebe noete.
Seht mich an, jungen man!
lat mich iu gevallen.
Minnet, tugentliche man,
minnecliche frouwen!
minne tuot iu hoch gemuot
unde lat iuch in hohen eren schouwen.
Wol dir, werlt, daz du bist
also freudenriche!
ich will dir sin undertan
durch din liebe immer sicherliche.
[Kramer (a lang) gipp di-e (diphtong) farwe mirr
di-e mien wengel röte (ö lang)
da mit ich di-e jungen mann
ann irr dank der minnenli-ebe (kurz) nöte (ö lang)]
\\ (oder „aan irr dank“, wenn „gegen ihren Willen“)
[Seht mich an, jungen mann
latt mich ü (ü lang) gefallen]
[minnet tuggentliche (u kurz) mann
minnecliche frouwen
minne tu-ot ü (lang) hoch gemu-ot
und (e stumm) latt üch (ü lang) in hohen (o lang) ehren (e lang) scho-uwen]
[woll (o kurz) dirr wärlt daß du bist
allso fröidenrieche (-rieche i lang)
ich will dirr sien undertann
durch dien li-ebe immer sicherliche]
[audio:chramer-gip-die-varwe-mir.mp3]
Swaz hie gat umbe
Swaz hie gat umbe,
daz sint allez megede,
die wellent an man
alle disen sumer gan!
[ßwaß hi-e gaat (a lang) umbe
daß sint alleß megede (e kurz)
di-e wellent aan (a lang) mann
alle disen (i kurz) summer (u kurz) gaan (a lang)]
[audio:swaz-hie-gat-umbe.mp3]
Chume, chum geselle min
Chume, chum, geselle min,
ih enbite harte din.
Suzer rosenvarwer mund,
chum uñ mache mich gesunt
[Kumme, kumm (u kurz) geselle mien (i lang)
ich enbiete (i lang) harte dien (i lang)]
Sußer (u lang) rosenfarwer (o lang) munt (u kurz, t scharf)
kumm und (mit nd) mache mich gesunt]
[audio:chume-chum-geselle-min.mp3]
10. Were diu werlt alle min
Were diu werlt alle min
von deme mere unze an den Rin,
des wolt ih mih darben
daz diu chünegin von Engellant
lege an minen armen.
[werre dü wärlt alle mien (i lang)
von demm (e stumm), meer-unß (elang, hiat) an denn Rien (i lang)
des wollt ich mich darben
daß dü (ü lang) künneginn (ü kurz) von Engellant (ng nasal)
legge (e kurz) an mienen (i lang) armen]
[audio:were-diu-werlt-alle-min.mp3]
Eselsbrücke
Als kleine Eselsbrücke bezüglich der /i/-Längen kann man sich merken, dass alle mhd. /i/ lang gesprochen werden, wenn ihre nhd. Entsprechungen zu einem /ei/ geworden sind. Also mhd. mîn wird nhd. mein, deshalb ist das /i/ im mhd. Wort ein langes /i/, ebenso mhd. vröidenrîche → nhd. freudenreich. Das /i/ ist hingegen kurz, wenn im nhd. Wort noch immer ein /i/ (kurz o. lang) steht.
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- Thordis Hennings: Einführung in das Mitelhochdeutsche. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, NewYork, 2003
- Carl Orff: Carmina Burana. Cantiones Profanae. cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis, Klavierauszug von Henning Brauel [ed.], Schott 1996, ED 2877
- Beate Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Christa Hepfer u. Wolfgang Bachofer (Co.-Red.), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 20014