Kriminalistische Kodikologie
In der Welt der Geschlechterklischees heißt es ja, Frauen läsen gerne Krimis. Das trifft auf mich nicht zu, aber dennoch verspüre ich eine eigenartige Lust an kriminalistischen Tätigkeiten, z.B. dem Untersuchen und Beschreiben mittelalterlicher Handschriften. Bevor es Druckerpressen gab, wurden Bücher mit der Hand geschrieben und sie wurden auch mit der Hand bemalt, geklebt, bestempelt und gebunden. Jedes mittelalterliche Buch ist ein Unikat und hat (ungeachtet des Inhalts) eine Geschichte als archäologisches Objekt. Bei der Untersuchung einer Handschrift geht es darum, diese Geschichte zu erzählen.
Dieser Forschungszweig nennt sich Kodikologie. Das kommt von Kodex, was der Begriff für ein mittelalterliches, handgeschriebenes, zwischen zwei Buchenholzdeckel gebundenes Buch ist. Kodikologie ist eines der Themen meiner mündlichen Prüfung in der Altgermanistik, und ich werde darüber nicht nur allgemein sprechen, sondern auch eine Handschriftenbeschreibung machen.
Mein kriminalistisches Untersuchungsobjekt hört auf den klingenden Namen Ms. germ. oct. 265. Das ist eine Pergament-Handschrift, die in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Man erkennt schon an der Signatur, dass es sich um ein Buch mit deutschen (germ.) Texten im Oktav-Format (oct.) handelt. Aber woher kommt es, wer hat es geschrieben, für wen und wofür wurde es verwendet? Diese Rätsel kann man anhand der Indizien der Handschrift zu lösen versuchen, was nicht immer leicht ist.
In Ms. germ. oct 265 gibt es keine Schreiberkolophone (d.h. Hinweise des Schreibers über seine Person) und auch keine Besitzvermerke, weder aus der Zeit der Entstehung der Handschrift, noch aus späterer Zeit. Aus den (ebenfalls handschriftlichen) Akzessionsakten der Staatsbibliothek kann man ermitteln, dass dieses Buch gemeinsam mit einer italienischen Handschrift im Mai 1856 von einem gewissen Dr. Gerstäcker erworben wurde. Wer Dr. Gerstäcker ist, woher er das Buch hat, in welchem Fach er promoviert ist oder wie er mit Vornamen heißt, das alles ist unklar. Wir müssen also das Buch selbst befragen, um seine Geschichte zu erfahren.
Vermutlich wurde es im niederdeutschen Sprachraum oder von einem niederdeutschen Schreiber geschrieben, denn sein Schreibdialekt ist niederdeutsch. Fachleute behaupten, es handle sich um Ostfälisch, aber ich kann Mittel-Ostfälisch nicht von bspw. Mittel-Westfälisch unterscheiden, also weiß ich nicht, ob das stimmt. (Falls mir jemand die Unterschiede erklären kann, freue ich mich sehr.) Worte wie dag/dach (Tag), grote (Grüße), sprak (Sprache), tyd (Zeit), gave (Gabe), avende (Abend) haben aber deutlich nicht die 2. Lautverschiebung mitgemacht und sind daher jedenfalls nicht hochdeutsch.
Aufgeschrieben sind Gebete und Anweisungen, wie und wann zu beten ist. Außerdem befinden sich an einigen wenigen Stellen zwischen den Textzeilen Noten, die auf geistliche Lieder verweisen. Gerhard Achten war einer der ersten, die sich mit dieser Handschrift näher beschäftigt haben. In einem Ausstellungskatalog von 1980 schrieb er noch, dieses niederdeutsche Gebetbuch stamme vermutlich aus dem Kloster der Augustinerchorherren in Einbeck. Keine Ahnung, wie er ausgerechnet darauf kommt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass eine Frau die Besitzerin, vielleicht sogar Schreiberin des Buches war, denn wird in den Gebeten ein „Ich“ angesprochen, so ist dieses weiblich. Auf Folio 67v heißt es bspw.: „ik arme sunderinne trete to dy myt“. Vermutlich handelt es sich bei dieser Frau sogar um eine Nonne, denn das Gebet auf Folio 100r soll gebetet werden: „na mytage wan du weder up den chor kümpst“. Der Inhalt der Handschrift läßt an den Alltag einer Nonne denken, der aus Gottesdienst, Gebet und Gesang bestand.
Von der Forschung wird diese Handschrift heute zu den „Medinger Gebetbüchern“ gezählt. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Gebetbüchern ähnlichen Inhalts, ähnlichen Formats und ähnlicher Aufmachung, von denen sich einige gewiß dem Kloster Medingen, einem ehemaligen Zisterzienserinnenkloster in der Lüneburger Heide zuordnen lassen. Walther Lipphardt hat spätestens 1987 auf diese Handschriften aufmerksam gemacht und einige von ihnen aufgrund der Musiknotation ins 13. Jahrhundert datiert. Bei den Noten handelt es sich um linienlose Neumen, eine sehr primitive Musikschrift, die auch lange vor dem 13. Jh. modern war. Dass diese frühe Datierung unwahrscheinlich ist, weiß man heute, denn man hat besser datierbare Vergleichshandschriften gefunden, die sich ebenfalls der antiquierten Textura- und Neumenschrift bedienen, die aber aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammen. Dem „Medinger Stil“ liegt also ein gewisser Konservativismus zugrunde.
Eine solche Vergleichshandschrift liegt auch in der Berliner Staatsbibliothek: Ms. germ. oct. 48 ist eine Papierhandschrift mit wenigen Pergamentblättern am Lagenrand. Abgesehen von dem Beschreibstoff gleicht diese Handschrift der Ms. germ. oct. 265 so sehr, dass man annehmen könnte (wie Achten es tut), dass sie in derselben Schreibstube entstanden ist. Achten sortiert sie aufgrund von Lipphardts Erkenntnissen 1987 ebenfalls nach Medingen. Im Papier hat er ein Wasserzeichen entdeckt, das er um 1515/20 datiert. Die erste Papiermühle auf deutschem Boden wurde 1390 von Ulrich Stromer in Nürnberg gegründet, davor ist Papier als Beschreibstoff in Deutschland eigentlich nicht präsent. Oft wurden beim Papierschöpfen kleine Drahtgestelle mit Ochsenköpfen, Blüten oder Buchstaben eingelegt, von denen hinterher ein Abdruck im Papier blieb. Diese Abdrücke (Wasserzeichen) kann man heute mehr oder weniger gut datieren und lokalisieren. Auf Pergament (das sind sehr dünne, gegerbte Tierhäute, z.B. von Kälbern) findet man keine Wasserzeichen, dennoch sind die Ähnlichkeit zwischen 48 und 265 und die Datierung des Wasserzeichens aus 48 auch ein schlagendes Indiz für die Datierung von 265.
Zur Geschichte des Klosters Medingen paßt dieser Befund, denn zwischen den beiden gewaltsam durchgeführten Reformationen, der katholischen ab 1469 durch Johannes Busch und der lutherischen ab 1530 durch Herzog Ernst den Bekenner, widmeten sich die Nonnen der Rückbesinnung auf ihre zisterziensischen Glaubensregeln, der literarischen, musikalischen und kunsthandwerklichen Bildung und Kultivierung. Sie führen eine innere Reform aus eigener Kraft und nach eigener Tradition durch. Es entstanden viele private, meditative Gebetbücher, deren Inhalte an die Frauenmystik der Mechthild von Magdeburg aus dem Kloster Helfta erinnern. Diese Assoziation ist auch deshalb nicht abwegig, weil die Gründerinnen des Klosters Medingen Frauen des Magdeburgischen Bürgertums waren.
Ms. germ. oct. 48 ist im 19. Jahrhundert aus dem Privatbesitz des Berliner Pastors Friedrich Jakob Roloff in den Besitz der Preußisch Königlichen Bibliothek übergegangen. Nachdem das Kloster Medingen nach der lutherischen Reform viel Besitz und Rechte an Salinen und Handelswegen verloren hatte, mußte es alles zu Geld machen, was es konnte. So wurden auch die mit Blattgold und -silber verzierten kleinen Gebetbücher an Geistliche aus der Umgebung verkauft. Zum Glück, muß man sagen, denn 1781 gab es dort einen großen Brand, dem sämtliche Hauptgebäude einschließlich der Bibliothek und ihrer Dokumente zum Opfer fielen. Was aus Medingen überliefert ist, ist heute nicht mehr dort zu finden, sondern in der ganzen Welt verstreut.
Ein bisschen anders ist das beim Kloster Wienhausen, einem anderen Zisterzienserinnenkloster in der Lüneburger Heide. Dieses hat eine ganz ähnliche Geschichte wie das Kloster Wienhausen, auch hier gab es zwischen den Reformen eine Rückbesinnung, Bildungs- und Literarisierungsbewegung der Nonnen, auch hier wurden Bücher geschrieben und gebraucht. Wienhausen und Medingen standen sogar in sehr enger Verbindung, was dieses Unternehmen betraf. Susanne Pothstock, die 1470 zur Äbtissin von Wienhausen gewählt wurde und in den Folgejahren sehr energisch für die Buchbeschaffung im Kloster eintrat, starb 1501 in Medingen. Dorthin war sie auf Anfragen des Bischofs von Werden gereist, um die Medinger Äbtissin, Margarethe Puffen, bei einer ähnlichen, innerlichen Reform zu unterstützen.
Obwohl Ms. germ oct. 48 und inzwischen auch Ms. germ oct. 265 aufgrund ihres Stils den Medinger Gebetbüchern der späten Phase (zw. 1500-1530) zugeordnet werden, schließe ich Wienhausen als Entstehungs- und/oder Gebrauchsort meiner Handschrift nicht aus. Das liegt an folgendem Eintrag einer Anweisung für ein Gebet auf Folio 162v:
In deme vroliken avende dyner alder levesten patronen sanct Alexander myt semen leven broteren: Vrouwe dyn o lonige sele berghan schollede den hochtydelken fest dach dyner alder levesten patronen. wes en gheistliker vroide dynes herren […]
Das Gebet soll am Tag des Heiligen Alexander gesprochen werden. Der Heilige Alexander spielte eine bedeutende Rolle für das Kloster Wienhausen, war vielleicht sogar dessen Patron. Es wäre verständlich, wenn die Nonnen des Klosters diesen Tag mit einem hohen Fest und entsprechendem Gebet begehen würden. Ebenso verständlich wäre es für die Nonnen in Medingen, den Tag des Heiligen Mauritius zu begehen und tatsächlich soll es in Ms. germ. oct. 48 eine entsprechende Passage zum Hl. Mauritius geben (Achten, Gerhard: Das christl. Gebetbuch im Mittelalter, 19872).
Wenn aber das eine Gebetbuch auf Medingen verweist und das andere auf Wienhausen, obwohl sie beide denselben Stil haben – was sagt uns das? Wäre es möglich, dass es DEN Medinger Stil gar nicht gibt, dass beide Klöster, die ja in engem kulturellen Austausch standen, einen ähnlichen Stil hatten. Ebensogut, wie diese beiden Handschriften in Medingen entstanden sein könnten, könnten sie auch in Wienhausen entstanden sein. Eines der beiden Bücher könnte in einem Kloster für den Gebrauch im jeweils anderen geschrieben worden sein. Es ist erstaunlich, dass aus Wienhausen, das ja im 15./16. Jahrhundert eine ähnliche kulturelle Geschichte durchlaufen hat wie Medingen, so wenige Oktav-Gebetbücher überliefert sind, während der Großteil des aus Medingen überlieferten Materials kleine Gebetbücher im Oktavformat sind.
Walther Lipphardt ist z.B. der Meinung, dass die Strophe „help uns o ware pasche lam“ nur in der Medinger Liedtradition zu finden sei. Sie ist in Ms. germ. oct. 265 auf Folio 79v überliefert. Auch wenn Lipphardt sicherlich einen Punkt mit der Feststellung eines konkreten „Gebetbuchstils“ getroffen hat, er irrte sich auch, was die Datierung der Musiknotation betraf. Irrt er vielleicht auch hier? Der Heilige Alexander stört jedenfalls die Idylle von Ms. germ oct. 265 als Medingisches Gebetbuch massiv. Hier wäre noch mehr kriminalistische Arbeit vonnöten (findet man mehr über Alexander, taucht der Hl. Laurenzius in 265 auf, der auch als Schutzpatron Wienhausens gehandelt wird, etc. pp.). Ich habe überlegt, nach Wienhausen zu fahren, und dort ins Archiv zu krabbeln. (Das gotische Kloster in der Lüneburger Heide soll auch so sehr schön anzuschauen sein.) Aber meine Vorstellungen von dem, was ich eigentlich suche, sind noch zu wage, um das sicher zu lenken.
Auch über die Leiche auf Folio 150r in Ms. germ. oct. 48 weiß ich noch so gut wie nichts. Liegt dieser tote Käfer schon lange zwischen den Buchseiten? Wie ist er dorthingekommen? Wer hat ihn beim zuklappen des Buches umgebracht, um ihn für immer dort zu begraben und werden sich meine Nachfolger einst dieselben Fragen stellen?