Essay: Der gemeine Theoretiker

Viele Dichter glauben an eine große Kluft zwischen der Theorie der Dichtkunst auf der einen und der dichterischen Praxis auf der anderen Seite. Ich bin Dichter und Wissenschaftler zugleich und halte die Phobie einiger Kollegen für übertrieben. Diesen Essay (ein Debüt) schrieb ich zur Verteidigung gegen Beschimpfungen in einem Gedichteforum. Es ist ein Plädoyer für die Theorie (des Dichtens).

Der gemeine Theoretiker
Ein kurzer Versuch über das moderne Feindbild des Theoretikers und seiner Theorien

Das Feindbild, welches heute gegen den gemeinen Theoretiker zum Schaden der Verbreitung bildenden Gedankenguts von der weniger gebildeten Masse erschaffen wurde, speist sich aus dem modernen Irrglauben, selbiger wäre ein von Natur aus bösartiger und von verleugneten Selbstzweifeln behafteter Charakter, der in gemeiner Absicht sein unsinniges Leben dadurch mit Sinn zu füllen sucht, dass er kryptische Worte fremdartiger Herkunft erspinnt, welche angeblich Phänomene der praktischen Fachebene bezeichnen, die real eigentlich überhaupt nicht existieren, bzw. die für die praktische Fachebene real eigentlich völlig unwichtig und uninteressant sind, wie z.B. Wörter wie “Metrik”.

In seiner üblen Bösartigkeit verbündet er sich mit Gleichgesinnten, um sich mit ihnen in dieser kryptischen und unsinnigen Sprache zu unterhalten und das allein aus dem Grund, weil er weiß, dass Leute, die diese Sprache nicht verstehen, sich in ihrer vermeintlichen Unbildung mies, minderwertig und ausgeschlossen fühlen.

Darüber freut sich der gemeine Theoretiker und um den Hohn und Spott über die vermeidlich ungebildete Menschenklasse komplett zu machen, veröffentlicht er nicht nur wissenschaftliche Traktate, sondern auch Einführungen in und Leitfäden für sein Wissensgebiet, welche die kryptische Sprache und die Bedeutung ihrer Wörter erklären, obwohl er genau weiß, dass das sowieso keiner außer Gleichgesinnten lesen will. Um sich selbst besser, schlauer und vor allem elitärer zu fühlen, klopft sich die Gruppe der gemeinen Theoretiker für ihre Schriften gegenseitig auf die Schultern und verweist in weiteren Schriften immer wieder aufeinander.

Dies Verhaltensmuster hat sich der gemeine Theoretiker von den ollen Griechen und Römern abgeguckt, also nicht einmal selbst erdacht, sondern von gemeinen Urvätern der modernen Theorie geklaut. Diese haben schon zu ihren Zeiten zahlreiche Traktate geschrieben, in denen sie fiese Wörter wie bspw. “Choliambus” benutzten, was griechisch für eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben steht, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde.

Dass es diese Folge in Wirklichkeit gar nicht gibt, beweist schon der Fakt, dass sie in den Versen gerade der Dichter auftaucht, die höchst selbst die Theorien über solche Silbenmuster erfunden haben. Natürlich benutzen sie und ihre Nachfolger diese Muster in ihren Versen ausschließlich, um den vermeidlich ungebildeten Leser zu ärgern und nicht etwa aus ästhetischen oder effektiv sprachpraktischen Gründen, wie sie selbst immer behaupten. Denn dass ihre Dichtungen weder schön, noch besonders kommunikativ sind, beweist ja allein der Fakt, dass Dichter wie Hipponax oder Glaukon und ihre Nachfolger heutzutage eh nicht mehr gelesen werden.

Der gemeine Theoretiker erfindet in der Theorie streng-gesetzliche und vor allem normative Regeln, deren genaues Befolgen in der Praxis er bis aufs Messer verteidigt. In seiner arroganten Art will er jedem seine offensichtlich allgemeingültige und richtige Meinung aufzwängen, während er die Meinung Andersdenkender rein gar nicht gelten lässt, da sie seine eigene ja nicht widerlegen können. Ihn seine Standpunkte durch vernünftige und argumentative Kritik überdenken zu machen, ist bei seinem Starrsinn natürlich völlig hoffnungslos. Immer wieder finden sich bspw. gemeine Physiker, die wie aufgeschreckte Hühner im Kreis umherspringen, wenn man ihnen am experimentellen Beispiel erklärt, dass eine Feder keineswegs genauso schnell zu Boden fällt, wie ein Amboss und dass der luftleere Raum, auf den sie beharren, in der Realität ja gar nicht existiert.

Bei soviel Sturköpfigkeit bleibt dem engagierten Theorie-Kritiker natürlich nur noch die Möglichkeit, seinem Frust über das eigene, durch das bösartige Verhalten des gemeinen Theoretikers hervorgerufene Minderwertigkeitsgefühl durch wahllos dahingeworfene Beschimpfungen und unüberlegte Anklagen gegen selbigen Ausdruck zu verleihen. Denn der Theoretiker ist kein Mensch mehr, weshalb auch das ab und zu bei ihm durchkommende menschliche Verhalten (z.B. durch Ernüchterung hervorgerufene Frustration) keinesfalls entschuldigt werden darf.

So stellt es sich vermutlich für einen Menschen dar, der sich plötzlich mit Wissen über ein ihm noch nicht so vertrautes Fachgebiet konfrontiert sieht. Dieses Wissen erscheint ihm unendlich und unerreichbar zu gleich, deshalb erschreckt es ihn und er fürchtet den Theoretiker, der damit so souverän umgehen kann und natürlich auch seine Theorien.

Mal im Ernst…

Tatsächlich ist der gemeine Theoretiker ein wissbegieriger Mensch, ein Philosoph, der das Wissen liebt, dessen Denken und Handeln von dem unbeirrbaren Trieb, Erkenntnisse über das Wie? und das Warum? der Welt und ihrer Bewohner zu erlangen, geleitet wird.

Der gemeine Theoretiker ist zudem meist ein sehr begeisterungsfähiger Mensch, dessen Drang, sein Wissen, welches auf Erfahrungen mit und Hinterfragung von Phänomenen der Praxis beruht, in Schriften und Reden mitzuteilen und zu vermitteln, von dem sehnlichen Wunsch geprägt ist, die Allgemeinheit der Rezipienten für die Ästhetik und die Effizienz praktischer Phänomene stärker zu sensibilisieren, damit sie, wie er, in den tiefen und vollen Genuss eben dieser Phänomene kommen können.

Um Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt und ihrer Phänomene zu erhalten, hat der gemeine Theoretiker diverse Methoden gefunden. Er entwickelt z.B. Modelle, welche die Realität der Welt in idealisierter Weise abbilden und für den Nachweis bestimmter Gesetzmäßigkeiten besonders geeignet sind. Der Physiker sagt also: “Nehmen wir mal an, dieser fluffige Körper befindet sich in einem luftleeren Raum, dann fällt er mit genau derselben Geschwindigkeit zu Boden, wie dieser massive hier.” Natürlich befindet sich der Körper nicht in einem luftleeren Raum, aber die Erkenntnisse die man aus dieser hypothetischen Annahme (die inzwischen übrigens durch zahlreiche Experimente bewiesen ist) über die Beschaffenheit von Welt gewinnt, sind enorm.

Der Theoretiker, der sich erst einmal eine auf Erfahrung und Untersuchung von Praxis und Theorie basierende (Er-)Kenntnis erworben hat, will diese mit Gleichgesinnten teilen. Er benutzt Fachausdrücke, deren Bedeutung auf die Gesamtheit seines Modells perfekt abgestimmt sind. So muss er sich nicht jedes Mal des langen Satzes: “Eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde”, bedienen, um jemand anderem klar zu machen, dass er in einer Dichtung einen Choliambus entdeckt hat. Fachworte sind also sehr viel präziser (Choliambus schließt nämlich auch noch bestimme auffällige Zäsuren mit ein), knapper und effizienter und damit auch verständlich für einen, der mit diesen Fachtermini umgehen kann.

Natürlich sind Theoretiker nicht immer einer Meinung, denn sonst wäre schnell alles ausdiskutiert und die Menschheit wäre bereits vollkommen sicher, dass sie um jegliches Geheimnis der Welt genau Bescheid wüsste. Dem ist nicht so. Deshalb muss jede Theorie auch immer wieder von Neuem kritisch in Frage gestellt werden und die verschiedenen Theoretiker müssen gemeinsam versuchen, einen Konsens über die wahrscheinliche Beschaffenheit von Welt zu finden.

Von Wissenschaft und Theorie ist übrigens niemand ausgeschlossen, der nicht ernsthaft an solchen Fragen interessiert wäre. Sich Fachwissen und korrekte Fachtermini anzugewöhnen, um mitdiskutieren zu können, das sind grundsätzliche Dinge, die die kritische Hinterfragung einer These überhaupt erst ermöglichen. Es ist nicht unmöglich dies zu erlernen. Anhand des fachlichen Austauschs kann sich der Theoretiker weiterbilden und neue Perspektiven kennenlernen. Da er möglichst viel von einem Aspekt verstehen will, wird sich der gemeine Theoretiker nicht scheuen, jegliche Verständnisfrage zu stellen. Und da er auch verstanden werden will, wird er sich sicherlich nicht verweigern, jedem Fragenden, der ein Fachwort oder einen konkreten Inhalt nicht versteht, diese/n so zu erklären, dass auch ein Unkundiger es/ihn verstehen kann. Denn Fragen beweisen Wissensdurst.

Wer aber zu scheu oder zu eitel ist, seiner Unwissenheit durch Fragen Ausdruck zu verleihen, dem kann kein Theoretiker in Bildungsfragen weiterhelfen.

Mar. 2004

Kommentar abgeben: