Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Diesmal habe ich mir Jan-Dirk Müllers „Aufführung – Autor – Werk“ von 1999 durchgelesen, ein Text, der das Spannungsverhältnis mittelalterlicher Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisiert und für eine Neubewertung des Autorbegriffs eintritt, der unserer modernen Auffassung des Urhebers ziemlich entgegen steht. Dies ist vor dem Hintergrund der aktuellen Copyright-Debatte nicht unspannend.
Aufführung – Autor – Werk ~ Jan-Dirk Müller
Die literarische Kultur des europäischen Mittelalters sei primär von der Mündlichkeit geprägt gewesen, führt Müller ein, d.h. Geschichten wurden erzählt, Gedichte vorgesungen und ebenso hätten sich die Texte auch von Mund zu Mund verbreitet. Ab den 12./13. Jahrhundert hätte sich die Konzeption, also die Ideenfindung von Texten, zum Medium der Schrift hin verschoben, was natürlich zu einer Einflußnahme auf die noch immer mündliche Vortragspraxis geführt hätte und umgekehrt. Diese gegenseitige Einflußnahme wird als „das eigenwillige Spannungsverhältnis des mittelalterlichen Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ paraphrasiert. Die Erkenntnis davon habe zu einem Disput unter der versammelten Philologenschaft geführt, der wohl um 1999 herum in unsachlichen Argumenten zu stagnieren drohte. Müller jedenfalls nennt diesen Grund dafür, dass er seinen Aufsatz „Aufführung – Autor – Werk“ verfaßt hat.
Die Philologen auf der einen Seite der Debatte seien Anhänger der sogenannten Lachmannschen Methode (nach dem deutschen Mediävisten und Altphilologen Karl Lachmann). Unter den vielen Varianten, in denen mittelalterliche Texte oftmals der Nachwelt überliefert sind, würden sie den Urtext zu rekonstruieren versuchen, wobei sie von der modernen Annahme ausgehen, es gäbe die einen, ursprüngliche Textfassung und den einen ursprünglichen Autor, der die Autorität über diesen Urtext innehätte.
Da aber auch die schriftlich konzipierten Texte mündlich aufgeführt und entsprechend der Aufführungssituation, z.T. mit Publikumsinteraktion angepaßt worden wären, könne es, so behaupten Müller und die Philologen auf der anderen Seite (u.a. Bumke, Zumthor), keinen Urtext geben und dementsprechend auch keine am Autor ausgerichteten Rekonstruktionsbestrebungen.
Der Lachmannschen Methode stehe die Auffassung der „movence“ (Zumthor) des mittelalterlichen Textes gegenüber, bei der alle überlieferten Varianten gleichberechtigt nebeneinander stünden. Eine Art unkonkreter mündlicher Hypertext stehe über all diesen Varianten. Diese Auffassung sei zum neuen Leitbild der Editionspraxis geworden, was den Poststrukturalisten sehr entgegen gekommen sei. Denn diese lehnten den Autor- und den Werkbegriff als solche ab.
1. Aufführung
Dafür, dass mittelalterliche Texte aufgeführt worden seien, gibt es zwar nur indirekte Belege, bspw. Performanzsignale in den Texten, die den Rezeptionshintergrund einer geselligen Kommunikations aufzeigen. Dies müsse als Grundlage für das Verständnis mittelalterlicher Texte hypothetisch angenommen werden. Dabei sei jede konkrete Aufführung eine reglementierte Form mündlicher Kommunikation. Die Lizenz zur Veränderung von Texten orientiere sich an Texttypus und Gattung. Schriftlich Fixiertes sei dabei verbindlicher, also weniger anfällig für Variation in einer konkreten Aufführungssituation.
Man dürfe sich die schriftliche Überlieferung aber auch nicht als erstarrtes Zeugnis einer konkreten Aufführungssituation denken. Eher sei sie Transformation in ein anderes Medium, in dem sich Spuren von Kommunikationssituationen zeigen können. Dabei könne es sich sowohl um reale, als auch um fingierte Dialoge handeln. Mit zunehmender Verschriftlichung fallen mündliche Elemente, wie bspw. Performanzsignale, zunehmend weg. Dass der Spielraum von Varianz nicht beliebig ist, tangiere die Interpretation des Redeaktes insgesamt, helfe jedoch bei Detailfragen nicht weiter. Da der Redeakt einer konkreten Aufführung nicht gefaßt werden könne, muß die Mündlichkeit mittelalterlicher Texte als Prozess begriffen werden.
2. Autorschaft
Der mittelalterliche Text kenne etwa ab Ende des 12. Jahrhunderts Autorennamen. Dies funktioniere über Zuweisungen in Handschriften, die jedoch meist unsicher sind, da es zu Fehlzuweisungen komme. Dafür macht Müller das Verhältnis vom Vortragenden zum Autor verantwortlich; beide können bspw. durch den Gebrauch der ersten Person (ich, mein, …) miteinander verschmelzen. Die Anerkennung habe im Mittelalter dem Vortragenden gegolten. „Der Verfasser eines Textes erwirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet“, schreibt Müller. Dem Vortragenden obliege es, den Text vollendet und brauchbar dem Publikum darzubringen, weshalb der Wert eines Textes nicht am Urheber festgemacht worden sei.
Originale oder ursprüngliche Texte seien weder herzustellen, noch vor anderen Quellen ausgezeichnet. Die urpsrungsmythische Konnotation von Autorschaft entfällt und entspräche nicht der mittelalterlichen Ästhetik. Der mittelalterliche Autorbegriff sei undeterminiert; nach dem Verfassen ist der Text dem Zugriff des Autors entzogen. Erst seit dem 13. Jahrhundert (Meistersinger) gibt es Versuche, den Zugriff des Autors auszudehnen. Aber erst mit der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert geht die Einführung von Autorenrechten einher.
3. Text
Es gäbe eine Einsicht in die strukturelle Offenheit mittelalterlicher Texte, die nicht mit der Variabilität mündlicher Alltagsrede zu verwechseln sei. Mittelalterliche Texte sind nicht fest, jedoch ist der Grad an Verfestigung bei schriftlichen, mündlich vorgetragenen Texten größer. Je schriftlicher Texte werden, desto abstrakter werden sie vor einer konkreten Vortragssituation. Der Status „kultureller Text“ (J. Assmann) bedeute, ein Text sei nicht so wortwörtlich wie, aber sozialer als ein „heiliger“ Text.
Trotzallem überwiege der Anteil an Festigkeit auch in mittelalterlichen Texten den der Varianz. Es gibt etwas, das alle Varianten gemeinsam haben, weshalb man sie gruppieren kann. Man muß sich fragen, durch welche Parameter in mittelalterlichen Textvarianten Identität gestiftet wird. Was variant sei, trete sehr unterschiedlich in Erscheinung und man könne deshalb unterschiedliche Typen von Varianz herausarbeiten. Eine geeignete Beschreibungssprache, die Varianz nicht an etwas Fixem festmacht, fehle aber.
Müller kristallisiert nun drei Arten von Varianz heraus und macht Vorschläge zum Umgang damit. Da sei 1. Varianz, die zu Textverderbnis führe, d.h. kleine Fehler und Unaufmerksamkeiten der Schreiber und Kopisten. Diese dürfe man ausmerzen. Da seien 2. Texte, die gehaltlose Varianzen aufweisen, also irrelevante Abweichungen. 3. gäbe es bewußt vorgenommene Änderungen, verantwortete Eingriffe. Diese erfüllen die Kriterien für verschiedene Fassungen.
Müller spricht sich abschließend für die Edition von Textfassungen, ergo gegen die Edition von Urtexten aus.
Quelle: Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg.v. N.F.Palmer u. H.-J.Schiewer, Tübingen 1999, S.149-166.