Guillaume de Machaut ~ Messe de Nostre Dame
Dies ist die erste der beiden Reden, die ich für meine Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005 vorbereitete. Sie beinhaltet eine Biographie Guillaumes, eine Werkeinführung in die Messe und die Analyse des letzten Satzes „Ite missa est“. Alle drei Teile sind knapp und sollten lediglich die Grundlage für ein sich entwickelndes Prüfungsgespräch zum Thema bilden.
Guillaume de Machaut (~1300 – 1377)
Das erste Zeugnis, welches wir von der Existenz Guillaumes haben, ist eine päpstliche Bulle aus dem Jahre 1330, in der ihm, dem Gesuch seines Dienstherren, Jean de Luxemboug entsprechend, ein Kanonikat an der Kathedrale von Verdun in Aussicht gestellt wird. Ähnliche Dokumente finden sich aus den Jahren 1332 und 33 die Städte Arras und Reims betreffend. Die Edikte berichten, dass zu Guillaumes Verantwortungsbereichen im Hofstaat des Königs, die Stellen des „clerc, amounier, secrétaire und notaire gehören“. In einer weiteren Schriftrolle von 1335 heißt es, Guillaume diene dem König schon seit 12 Jahren, was uns auf das Jahr 1323 zurückführt.
Um seine Aufgaben zu bewältigen, musste Machaut schon zu dieser Zeit eine außergewöhnlich hohe Bildung mitbringen, die nur innerhalb einer kirchlichen Einrichtung zu erhalten war – in welcher, bleibt unklar.
Ein Dokument aus dem 15. Jh. zählt Guillaume unter den Dichtern der Champagne auf, weshalb heute Machaut oder Reims als Geburtsstadt angenommen werden. Eine frühe Beziehung zu Reims belegt bereits die Motette „Bone Pastor“. Zugleich legt der hohe kompositorische Standart im Stile Philippe de Vitrys die Vermutung nahe, dass Guillaume Zeit in Paris verbracht hat. Der Titel des Magister, der ein abgeschlossenes Studium an der Universität bedeuten würde, ist jedoch äußerst schwach belegt und nie in den Selbstaussagen zu finden.
Dieser Bildungsweg lässt vermuten, dass Guillaume um 1300 geboren ist. Er könnte aber auch jünger oder sogar älter sein. Wie auch immer diese frühe Lebensphase ausgesehen haben mag, sie änderte sich, als Guillaume in den Dienst des Königs trat. Denn dieser pflegte (selbst für einen mittelalterlichen König) viel zu Reisen und in seinem Gefolge pendelte Guillaume zwischen Frankreich, Luxemburg und Böhmen. Er gelangte sogar bis nach Deutschland, Österreich und Litauen. 1323/24 führten ihn diplomatische Reisen an den französischen Königshof nach Paris, wo es zu einem Treffen mit Philippe de Vitry gekommen sein könnte. Die Dichtungen dieser Zeit dokumentieren die Rolle des Dichters am Hof und konzentrieren sich, am Ideal der amour courtoise festhaltend, auf die Darstellung des höfischen Lebens.
In den 1340er Jahren war Johann von Luxemburg von zunehmender Blindheit geschlagen. Ungefähr zu dieser Zeit finden sich erste Zeugnisse von Guillaumes Aufenthalt in Reims, wo er im Jahre 1337 das Kanonikat übernommen hatte. Sein Amt als Kanonikus war mit liturgischen Pflichten verbunden, vor allem mit der Feier des Offiziums. Seine Stellung bot ihm eine materielle Basis für die literarische und musikalische Produktion, so dass in dieser Zeit zunehmend umfangreichere Dits entstanden, die noch immer Bezug auf den Hochadel nahmen.
1346 stirbt Johann von Luxemburg Legenden zufolge sehr glorreich bei der Schlacht von Crécy, in die er blind geritten sein soll. Zur Bezugsfigur wird seine Tochter Bonne, die als Auftraggeberin mit der Handschrift C in Verbindung gebracht wird. In diesem und weiteren Manuskripten, die sich erstaunlicherweise allein dem Werk Guillaumes widmen, sind die wichtigsten Zeugnisse für das musikalische und literarische Schaffen aufgeführt, das „Livre dou Voir Dit“ und „La Louage des Dames“. Um 1372, dem Jahr, in dem Guillaumes Bruder stirbt, entsteht der „Prologue“, ein Vorwort, das den Dichter und Komponisten sein Gesamtwerk reflektieren lässt und neben den Dits wichtige Einblicke in sein Selbstverständnis liefert.
1377 stirbt Guillaume in Reims.
Messe de Nostre Dame
Die Messe de Nostre Dame wird heute aufgrund der Quellenlage (sie erscheint erst im 1370er Manuskript Vg) und stilistischer Begebenheiten auf die 1360er Jahre datiert. Sie fällt damit in die Reimser Phase. Die Annahme, dass es sich um eine Messe zur Krönung Karls V im April 1364 in der Kathedrale von Reims handelt, gilt heute als weitgehend widerlegt. Zwischen dem Tod Johannes II und der Krönung Karls wären weniger als 6 Wochen für den Auftrag und die Komposition geblieben, was angesichts der Reife des Werkes nicht realistisch erscheint. Anne Walters-Robertson legte 2002 ihre Untersuchungen vor, die die These stützen, es handle sich um eine Marienmesse, die im Gedenken der Brüder Machaut jeden Samstag in der Roella der Kathedrale gesungen wurde.
Die Messe ist innerhalb des Oeuvres Guillaumes singulär und bleibt es bis über das Ende des 14. Jh. hinaus auch. Das Erstaunliche daran ist, dass er sechs Ordinarientexte wählt (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus-Benedictus, Agnus Dei und Ite, missa est) und diese zu einem einzigen kompositorischen Gesamtzyklus verbindet. Ob diese innovative Idee tatsächlich von Guillaume stammt, ist heute schwer zu sagen. Quellen könnten verloren gegangen sein und die Sicht auf die Dinge fälschen. Fakt ist aber, dass er wohl einer der Ersten war, der sich an ein solches Projekt wagte.
Für die Vertonung bedient sich Guillaume zweier zeitgemäßer Kompositions-Techniken – des Simultanstils für die wortreichen Sätze (Gloria + Credo) und des Stils der isorhythmischen Motette für die wortärmeren Sätze (Kyrie, Sanctus, Agnus + Ite missa). Jedem der Stücke liegt ein gregorianischer Choral zugrunde, der im Tenor ausgeführt wird. In den ersten drei Stücken steht dieser im dorischen, in den letzten dreien im lydischen Modus. Das Amen des Credos bildet eine Art harmonische Überleitung zwischen diesen zwei Modi. So deuten initialis und finalis (d) des Chorals auf das Dorische, der Rezitationston (c) jedoch auf das Lydische hin.
Das Credo-Amen ist darüber hinaus auch das am stärksten systematisierte Stück des gesamten Zyklus‘. Tenor und Contratenor tauschen in chiastischem Wechsel die rhythmischen Formeln (taleae) und in pan-isorhythmischer Strenge folgen die Oberstimmen diesem komplexen Prinzip. Insgesamt werden nur 8 verschiedene rhythmische Figuren verwandt. Die anderen isorhythmischen Sätze sind bei weitem nicht so streng. Zwar erklingen in den Oberstimmen an Hoquetus-/Synkopen-Passagen immer wieder isorhythmische Formeln, jedoch kommt es nicht nur Ausbildung einer vollständigen Isorhythmie, wie im Amen.
Für die Sätze im simultanen Stil ist wichtig zu bemerken, dass sie durch den Einsatz zweistimmiger, untextierter Gelenkstücke (Passagen, die auf den Einsatz von Instrumenten hindeuten) Teiligkeiten ausbilden. Otto Gombosi wies in den 1940ern eine Strophigkeit des Glorias nach, wobei sich jede Strophe aus einem ouvert (beliebiger Kadenz) und zwei clos (Kadenz auf finalis) zusammensetzt. Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Credo der Messe Nostre Dame und dem der so genannten Messe von Tournai konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Zwar nutzen beide Stücke ähnliche melodische Wendungen und machen beide Gebrauch von Gelenkstücke zur Gliederung, jedoch scheint es sich dabei um gewöhnliche Gesten der zeitgenössischen Musik zu handeln, was die Sache wenig beweiskräftig macht.
Das Prinzip der Isorhythmie möchte ich – mit ihrem Einverständnis – nun am Analysebeispiel des Satzes „Ite Missa est“ erklären.
Ite missa est
Die 21-tönige Choralmelodie im lydischen Modus, die color genannt wird und im Tenor liegt, teilt sich in zwei Abschnitte mit jeweils 10 Tönen, die gleichartig rhythmisiert sind (so genannte taleae). Nach der Abfolge der ersten 20 color-Töne erklingt die finalis.
Diesem Bauprinzip schließt sich der Contratenor an, der eine freie Melodie aus zwei Mal 16 Tönen talea plus finalis wählt. Er verläuft zum Tenor phasengleich, d.h er ist zur gleichen Zeit mit seiner ersten talea fertig, wie der Tenor. Die beiden Unterstimmen bilden das harmonische Fundament, welches am Anfang jeder talea in derselben harmonischen Folge (F-g-a-(C)-F) verläuft.
Die Oberstimmen sind ein wenig freier gestaltet. In den ersten vier Takten verfolgen sie jeweils ein freies rhythmisches Modell. Die darauf folgenden vier sind jedoch isorhythmisch. Auch sie verlaufen phasengleich.
Damit kommt in jeder Phase zu einer Art Spiegelung zwischen den ersten vier Takten der Unterstimmen und den letzten vier Takten der Oberstimmen.