Archiv für die Kategorie 'Literatur'

Deutsche Metrik – so funktioniert’s

Samstag, 10. Mai 2008

Immer wieder wollen User von mir wissen, wie man das Metrum von Gedichten bestimmt oder wie man selbst metrische Verse schreiben kann. Das ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst einmal begriffen hat, was es mit der Metrik überhaupt auf sich hat. Metrisch ist eine (deutsch-)sprachliche1 Äußerung nämlich dann, wenn sie eine regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben aufweist. Und wer den Rhythmus nicht sowieso schon im Blut hat, der kann sich leicht über die Theorie eine Brücke bauen. Wie das funktioniert, möchte ich in diesem Post erklären. Sieben praktische Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene sollen dabei helfen. (mehr …)

Suchanfrage vom 14.04.08

Montag, 14. April 2008

Bei Blicken in meine Blogstatistik sorgen die Suchanfragen, mit denen Leute auf meine Seite gefunden haben, immer für die meiste Erheiterung. Ab und an sind da aber auch interessante Fragen formuliert, zu denen ich mich einfach äußern muß. Wo, wenn nicht hier?

Die anonyme Suchanfrage des heutigen Tages lautet:

Wie ist das Metrum vom Erlkönig?

Das Metrum der Goethe-Ballade ist nicht homogen, weshalb es etwas schwierig zu bestimmen ist und zumindest nicht durch einen einzigen Musterbegriff gefaßt werden kann. Dazu die ersten beiden Verse:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.

(Betonte Silben sind unterstrichen.)

Hier wird deutlich, dass die Zahl der zwischen den Hebungen befindlichen Senkungen zwischen 1 und 2 variiert. Die Analyse der Folgeverse zeigt, dass diese Variation nicht regelmäßig ist, sondern spontan auftritt. Ich würde das Metrum daher als ein heterogenes, überwiegend iambisches mit daktylischen Einschüben bezeichnen. Diese analytisch-trockene Erkenntnis macht aber erst dort Sinn, wo sie in Bezug zu der Wirkung gesetzt wird, die ein solches Metrum erzielt. Geradezu bildhaft ahmt es nämlich den holprigen, aufgeregten Galopp des Pferdes nach, auf dem Vater und Sohn durch die Nacht preschen!

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Künstler gleich Gott

Freitag, 07. März 2008

„Künstler gleich Gott. Literarische Emanzipation bei Frauenlob“ ist die kurze Erläuterung einer These, die ich in meiner mündlichen Zwischenprüfung in Altgermanistik zur Disposition stellte. Für mich war sie vor allem deshalb spannend, weil es hier um ein neues Künstlerverständnis, nämlich den Dichter als Handwerker, geht. Da die Prüfung nur 20 Minuten dauerte und noch vier weitere Thesen zu besprechen waren, reichte die Zeit nicht für eine Vertiefung meiner Ausführungen. Aber es wäre schade, wenn ich mir all diese Gedanken gemacht hätte, um sie dann für mich zu behalten. Deshalb nun hier die Argumentation.

Künstler gleich Gott.
Literarische Emanzipation bei Frauenlob

„Frauenlobs Marienleich offenbart eine literarisch-künstlerische Emanzipation, die einhergeht mit einer individualisierenden, selbstbewußten Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott.“

Nachdem ich mich aufgrund meiner Zwischenprüfung eingehender mit Heinrich Frauenlob (= Heinrich von Meißen) und seinem Marienleich befaßt hatte, war ich zu der Auffassung gekommen, dass darin eine literarische Emanzipation zum Ausdruck kommt, in der sich ein neues Selbstverständnis des Dichters als schöpfendem Künstler offenbart.

Wir befinden uns mit dem Marienleich in einer Zeit um 1300. Aufgrund von Anspielungen in diversen Schmähschriften, die Frauenlob als Kind oder junges Meisterlein bezeichnen, nimmt man an, dass es sich um ein Jugend- oder Frühwerk des deutschen Dichter-Komponisten handelt. Das auffälligste und charakteristischste Merkmal, das wohl auch die zahlreichen Kritiker auf den Plan rief, ist die manirierte Rhetorik des Textes. Sie äußert sich in einer Fülle von schwer zugänglichen Bildern, Stilfiguren und Tropen und in diesem Falle auch in der Wahl einer komplexen und hochanspruchsvollen Bauform. Hier ist ein kleiner Auszug aus dem um die 500 Verse umfassenden Poem. Maria spricht:

ich binz, ein acker, der den weize zîtic brâhte her,
dâ mit man spîset sich in gotes tougen;
ich drasch, ich muol, ich buoc lind unt niht harte,
wan ich mit olei ez bestreich:
des bleip sîn biz sô suoze weich;
ich binz, der tou, dem nie entweich
diu gotheit, sît got in mich sleich.
mîn schar gar klâr var.
er got, si got, ich got: daz ich vor niemen spar.

(Verse 12, 25-33)

Dieser Sprachstil wird in der Literaturforschung „geblümter Stil“ genannt und er entspricht ungefähr dem hohen Stil der lateinischen Oratores, der in Lob- und Festreden gepflegt wurde. Hier finden sich linguistische Spitzfindigkeiten wie Genitivattributionen, Spiegelsymmetrie syntaktischer Kola, Parallelführungen oder seltene Wortwahl. Nun ist im gesamten Mittelalter Latein die Bildungssprache, also die Sprache der Bildungselite, die im Gegensatz zur Volkssprache nicht jedem zugänglich war. Durch die Ausschmückung der Volkssprache, wie sie im Marienleich offenbar ist, und ihre Anpassung an die lateinische Sprachästhetik passiert zweierlei: Auf der einen Seite kommt es zu einer Hermetik, da Frauenlobs Werke so nur noch einigen wenigen, speziell gebildeten Menschen zugänglich sind. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu einer Aufwertung der Volkssprache, wodurch eine Elite kultiviert wird, die die Volkssprache als Literatursprache kennen und schätzen lernt.

Dies birgt ein emanzipatorisches Moment, das in den Literaturen gesamt Mitteleuropas zu beobachten ist. Frauenlobs florentiner Zeitgenosse Dante Alighieri verfaßte italienische, von musikalischer Vertonung losgelöste Sonette und schrieb eine Abhandlung, „De vulgari eloquentia“, über die Angemessenheit der Volkssprachen (wohlgemerkt auf Latein). Meister Eckhart, ein deutscher Mystiker derselben Zeit, predigte in der Volkssprache, um auch dem einfachen Volk die Gottesmysterien verständlich zu machen. Ein Nachfolger Frauenlobs, der französische Dichter-Komponist Guillaume de Machaut, veranlaßte wohl die Sammlung und Konservierung seiner volkssprachigen Dichtungen. Dessen Schüler Eustache Deschamps erspinnt die Gesellschaft der boehmen Fumeurs und seine Zeitgenossin Christine de Pizan verfaßt eine Schrift in der sie die Darstellung der Rolle der Frau im berühmten „Roman de la Rose“ kritisiert. Die Volkssprache, sei es das Italienische, Französische, Englische oder Deutsche, wird mit der Lateinischen Sprache auf Augenhöhe gehoben und damit salonfähig gemacht.

In diesem Zusammenhang scheint auch der Dichter ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Konrad von Würzburg, ein Vorbild Frauenlobs, schrieb um 1250 die „Goldene Schmiede“, ein fast 2000 Verse umfassendes Mariengedicht von besonderem Reichtum. Obwohl die Gottesmutter mit Worten nicht hinlänglich gelobt werden könne, wie der Dichter anmerkt, wolle er in der Schmiede seines Herzens ein Loblied auf sie schmieden. Obwohl die „Goldene Schmiede“ ein Bravourstück ist, hält es der Dichter für nötig, seinen Namen in den Text einzuflechten, um auf dessen gekonnte Fertigung durch einen befähigten Künstler hinzuweisen. Eine solche Etikette braucht Frauenlobs Marienleich nicht mehr. Allein dessen Maniriertheit reicht aus, um jeden Zweifel an seiner Kunstfertigkeit auszuräumen. Beide unterstreichen ihre Künstlerauffassung aber durch bewußt gewählte Metaphern, die den Dichter als Handwerker darstellen. Während er bei Konrad Schmied ist, ist er in einem Spruch Frauenlobs Zimmermann:

Ja tun ich als ein wercman, der sin winkelmaz
ane unterlaz
zu sinen werken richtet,
uz der fuge tichtet
die höhe und lenge: wit und breit,   alse ist ez geschichtet;
und swenne er hat daz winkelrecht    nach sinem willen gezirket,
darnach er danne wirket, als man wirken kann.

(V.13.1-7)

Bei beiden tritt hier das Moment des „Wirkens“ zutage. In der Darstellung Marias geht Frauenlob aber weiter als Konrad. Nicht ihre Vermittlerposition zwischen Mensch und Gott ist zentrales Thema, sondern ihre Stellung als Zwitterpersönlichkeit zwischen Göttlichem und Menschlichem. Immer wieder wird im Zirkelschluß die von Gott geschaffene Maria in ihrer Eigenschaft als Gottesgebährerin stilisiert. Durch Maria ist Gott Mensch geworden. Dieser Schöpfungsakt scheint sie selbst gottgleich zu machen, was im Text durch ihre in exakter mathematischer Mitte positionierte Äußerung „ich got“ auch explizit geäußert wird.

Diese Darstellung Marias offenbart eine völlig neue Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott, das nicht mehr nur von der Menschwerdung Gottes, sondern auf einmal auch von der Gottwerdung des Menschen ausgeht. Diese vollzieht sich durch den Schöpfungsakt, der schöpfende Mensch rückt in die Nähe Gottes. Als in besonderer Weise schöpfender Mensch gilt sowohl Konrad als auch Frauenlob der wirkende Dichter. In seiner Meisterschaft ähnelt der dem höchsten Meister, dem schöpfenden Gott. Jahre später werden sich die Meistersinger an diesem Künstlerideal orientieren und sich zu Hauf auf Frauenlob, den Gründer der ersten Sängerschule, berufen.

März 2008
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Quelle: Barbara Newman, Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and His Masterpiece, Penn State University Press, 2007

Lai, Leich [poet. Formprinzip]

Sonntag, 27. Januar 2008

Gerade bereite ich mich auf eine Arbeit zu altfranzösischen Lais und eine mündliche Prüfung zu mittelhochdeutschen Leichen vor und habe deshalb den Kopf voller Ideen zu dieser unstrophischen, lyrischen Gattung. Aber jeder, dem ich davon erzähle, fragt erst einmal: „Leich, hä, was’n das?“ Dieser allgemeinen Unwissenheit soll hiermit Abhilfe herbeieilen.

1. allgemeine Einführung
1.1 Definition

„Die Bezeichnung lai/leich ist im Mittelalter ein Sammelbecken für monodische Werke in den Volkssprachen, die sich der Gleichstrophigkeit entziehen; Kontrapart bildet das Liedprinzip“, heißt es im MGG2 Artikel von Christoph März. Diese kurze Definition faßt die grundlegenden Prinzipien des poetischen Phänomens, das hier zur Disposition steht, ganz treffend zusammen, wie ich finde. Es gibt aber noch weitere Phänomene, die mit dem Begriff in Verbindung gebracht werden.

1.2 Lai-Arten

Dazu gehören zunächst die um 1160 von Marie de France verfaßten, märchenhaften Erzählungen in achsilbigen Reimpaarversen. Zu diesen ist keine Musik überliefert, Hinweise im Text und ein leeres Notensystem in einer der Quellen verweisen aber auf die Existenz von dazugehöriger Musik. Da Marie selbst sagt, sie hätte bretonische Vorlagen niedergeschrieben, wird diese Art des Lais auch lai breton genannt. Eine andere Bezeichnung ist lai narrativ. Ebenfalls in Richtung Bretagne und König Arthus weisen die strophischen Lais, die in diversen Romanen, allen voran dem Tristan en prose, als kurze Liedeinschübe den Helden der Geschichte in den Mund gelegt werden. Diese Lais sind metrisch und melodisch sehr einfach gebaut und man nennt sie lai arthurien. Die aufgrund ihrer Überlieferungslage für die Wissenschaft interessantesten Lais sind aber die lais lyriques, die im deutschsprachigen Raum auch leiche genannt werden. Sie nehmen als verhältnismäßig lange und komplexe lyrische Gattung schon im Repertoire der Troubadours, Trouvères und Minnesännger eine Sonderstellung ein und gelten wohl besonders im 13. Jahrhundert als Königsdisziplin der Lieddichtung.

Es gibt weitere Phänomene, die in dieser oder jener Quelle mit dem Begriff bedacht werden, die wichtigstens und häufigsten sind jedoch die drei oben genannten, allen voran das lyrische Lai.

1.3 Etymologie und Terminologie

Es gibt diverse Thesen zur Etymologie des Begriffs lai/leich, zum Beispiel von Ferdinand Wolf, Richard Baum oder Hermann Apfelböck, die den Begriff aus dem keltischen, germanischen, bretonischen oder lateinischen herleiten. Angeführt werden dabei das altirische loîd/laîd (Lied, 9.Jh.), das gotische laikan (springen, tanzen, bewegen), das althochdeutsche leih (Gesang, Melodie), das angelsächsische laic, lac (Gabe) und das mittellateinische laicus/laice. Obwohl beides nicht denselben Weg gegangen sein muß, vermischen einige dieser Thesen die Wort- und die Sachgeschichte miteinander. Weder über das eine, noch über das andere gibt es aber bisher einen wissenschaftlichen Konsens.

Denn als Gattungsbegriff taucht lai zuerst um 1140 in den Chansonniers der provenzalischen Troubadours auf. Darin tragen einige Stücke Titel wie „Lai Markiol“, „Lai non par“, etc. Im Norden Frankreichs findet sich der Begriff zuerst 1155 in Waces „Roman de Brut“. Marie de France rückt mit ihren 12 narrativen Lais den Begriff erstmals in bretonischen Kontext, in dem er in weiteren epischen Werken ab 1200 und 1210 auch in provenzalischen und mittelhochdeutschen Quellen zu finden ist. In diversen althochdeutschen Glossen findet sich der Begriff bereits ab dem 10. Jahrhundert im musikalischen Kontext, z.B. bei Notker („lied unde leicha“). Im deutschen Sprachraum lassen sich die frühesten Leiche um 1175 datieren.

1.4 Probleme bei der Definition

Die Definition des Begriffs ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Im Mittelalter werden unterschiedliche Phänomene lai genannt, die wiederum aber auch diverse andere Namen tragen können. Die Thesen zur Etymologie bringen nicht wirklich weiter und liefern allenfalls Spekulationen über das Ding an sich, das nicht zuletzt auch deshalb schwer zu fassen ist, weil es das Prinzip einer individuellen Formenphysiognomie verfolgt und darob ganz unterschiedliche Erscheinungen ausgebildet hat. Auch die Annäherung über ähnliche Formen, wie Sequenz, Planctus, Conductus, Descort, u.a. ist schwierig, weil diese ebenfalls nicht klar umrissen sind.

2. zeitlich-regionale Entwicklung
2.1 Lais als Volkspoesie

Bereits 1841 entwickelt Ferdinand Wolf die These, das Lai sei seinem Wesen nach eine Gattung der Volkspoesie und entwickle sich erst später zu einer höfischen Kunstform. Obwohl diese Behauptung aufgrund fraglicher Prämissen relativiert werden muß, stützt sie sich doch auf einige interessante Beobachtungen. Die (provenzalischen) Lais, welche heute als zur ältesten Schicht gehörig ausgemacht werden können, sind allesamt anonym überliefert. Sie weisen größtmögliche Formenvielfalt auf, sind weniger lang, dafür repetitiver und metrisch, wie melodisch einfacher gebaut als ihre mit Namen überlieferten provenzalischen und altfranzösischen Nachfolger. Erst im Verlaufe der Zeit entwickelt sich eine Tendenz zur Musterbildung heraus, bis das Lais im 14. Jahrhundert bei Guillaume de Machaut seine endgültige, normative Form erhält.

In eine ähnliche Richtung weist Bruno Stäblein mit seiner These zum descort. Der Begriff taucht im Provenzalischen irgendwann als Selbstbezeichnung in Stücken auf, die nach formalen und inhaltlichen Kriterien durchaus Lais sind und auch im selben Kontext überliefert werden. Stäblein behauptet, dies geschähe zur Abgrenzung der Troubadours-Kunst vom volkspoetischen Lais. Im altfranzösischen Sprachraum werden beide Begriffe aber synonym verwandt. Einziges distinktes Merkmal ist, dass Descorts inhaltlich ausschließlich um die „amour courtois“ kreisen (während Lais auch religiöse Topoi verfolgen) und in keinem Fall anonym überliefert sind.

2.2 Lais/Leiche vor 1300

Einen Konsens über die Entstehungsdaten einzelner Lais vor 1300 gibt es nicht, da diese größtenteils alle in denselben Quellen überliefert sind und man allein aufgrund kompositorischer Unterschiede keine handfesten Aussagen machen kann. Den Versuch einer Chronologie unternimmt David Fallows in seinem New Grove Artikel zum Lai, wobei er verschiedene Thesen der Lai-Forschung zusammenträgt. Es sind mehr altfranzösische Lais vor 1300 überliefert als provenzalische, was aufgrund der Quellenlage nicht verwundert. Es läßt sich feststellen, dass weniger Lais vor 1200 überliefert sind, die meisten aus der Zeit vor 1300 stammen und nach 1300 nur noch wenige komponiert werden.

2.3 Lais im Fauvel und bei Machaut

Zu diesen späten Beispielen gehören die vier französischen Lais im Roman de Fauvel, sowie die 19 Lais von Guillaume de Machaut. Im Register des Roman sind unter der Kategorie „proses et lays“ 27 Titel aufgeführt, davon drei französische und 24 lateinische Stücke. Aber das Register ist nicht nur an dieser Stellle fehlerhaft und so finden sich insgesamt 31 Stücke, die in diese Kategorie passen, von denen vier französische Lais sind; eines davon bezeichnet sich selbst als descort. Die restlichen Stücke sind lateinische Conductus oder Sequenzen („proses“), die dem Lai-Prinzip folgen, eines davon ist ein Kontrafakt des provenzalischen Lai Markiol. Die vier Lais gehören zum Modernsten, was der Roman musikalisch zu bieten hat und verweisen musikalisch bereits auf den Stil der Ars Nova, weshalb Leo Schrade Philippe de Vitry als Verfasser annimmt. Er glaubt, dass mindestens 3 der Stücke auch Guillaume de Machaut bekannt gewesen sein müssten, da sich direkte Einflüsse auf seine Lais nachweisen lassen. Während die Fauvel-Lais formal relativ flexibel bleiben, erhält die Gattung bei Machaut normativen Charakter und es kommt zur Ausbildung einer form fixe.

2.4 Kontinuität

Obwohl der Machaut-Schüler Eustache Deschamps in seiner Art de dictier (1392) beahuptet, Lais seien durchaus üblich, erscheint die Gattung im Roman de Fauvel und bei Machaut seltsam isoliert. Es ist fraglich, ob dies aufgrund einer schlechten Überlieferungslage zustande kommt oder weil das Lais einfach nicht zum üblichen Liedrepertoire der Zeit gehörte. Von keinem Zeitgenossen Machauts sind monodische Werke überliefert, allerdings ist auch kein Zeitgenosse so umfangreich überliefert wie Machaut. Die Melodien aus dem französischen Chansonrepertoire datieren nicht nach 1250 und so kommt es bis 1317, dem vermuteten Entstehungsjahr des musikalisch interpolierten Roman de Fauvel, zu einer Überlieferungslücke. Diese kann aber geschlossen werden, wenn man auf den deutschen Sprachraum ausweicht. Hier stammen zeitlich und stilistisch zwischenzuordnende Leiche von Hermann Damen und Heinrich von Meißen (Frauenlob). Aus der Zeit nach Machaut sind Lais nur noch aus dem Dichterzirkel um Eustache Deschamps, Christine de Pizan und Froissart überliefert. Diese sind allerdings nicht mehr musikalisch konzipiert, sondern rein literarisch. Somit steht Machaut mit seinen Lais in gewisser Hinsicht am Ende der Gattungsgeschichte.

3. poetische Form
3.1 allgemeine Prinzipien

Es gibt fast kein Lai, das dem anderen gleicht, jedes besticht durch individuelle Gestaltung und erschafft seine Regeln quasi aus sich selbst heraus. Das Gattungsprinzip, das sie alle miteinander verbindet ist die individuelle Formenphysiognomie, die in einem Verzicht auf Strophigkeit und sonstig regelhaft gesetzte Wiederkehr ihren Ausdruck findet. Jeder Vers ist unterschiedlich lang und verwendet andere Reimworte, kleinere Motive und Phrasen werden aber stetig wiederholt und variiert, bevor neues Material eingebunden wird, was zu einer oft komplexen, metrischen Binnenstruktur führt. Dies ist das zweite grundlegende Prinzip, welches in der Forschung mit „fortschreitende Repetition“ beschrieben wird. (Auch wenn es keine Strophen in dem Sinne gibt, handelt es sich formal um alles andere als „Prosa“. Größere Formabschnitte werden Versikel genannt.) Außerdem kommt es oft zur Verschleierung von Zäsuren und Kadenzen und zu Enjambements über die Versikelgrenzen hinaus. Die Enddifferenzierung in ouvert- und clos-Kadenzen, die Ausbildung paariger Komplexe (Doppelversikel), die Wiederaufnahme des Anfangs am Ende und die 12-„Strophigkeit“ werden im Verlaufe der Zeit formbestimmend. In den Melodien der Lais dominiert der G-Modus, während in den mhd. Leichen oft ein Terzengebäude über D oder F anzutreffen ist.

3.2 Verwandte Formen

Wegen dem doch etwas befremdlichen Prinzip der Unstrophigkeit ist das Lai immer wieder mit anderen Formen Verglichen und in generische Verbindung gebracht worden. Das ist zunächst der schon descort, von dem eigentlich ausgegangen wird, dass er unter das Lai zu subsummieren ist. Eine Identität wird auch zwischen dem frz. Lai und dem dt. Leich angenommen, obwohl der Begriff im dt. (vor 1210 bei Gottfried v. Straßbourg, der es aus dem frz. entnimmt) nie in Verbindung mit epischen und nur selten mit strophischen Werken steht.

Auch wurde immer wieder die Nähe zu lateinischen, unstrophischen Gattungen wie der Sequenz, dem Plactus und dem Condutus hingewiesen und in der Tat gibt es unter den frühen Lais einige Kontrafakturen, bzw. melodische Abhängigkeiten zu lateinischen Sequenzen und Plactus. Wobei hier nicht eindeutig ausgemacht werden kann, ob die volkssprachigen oder die lateinischen Stücke Vorlage waren. Bei Fauvel sind die lateinischen Strücke der Kategorie „proses et lays“ größtenteils Condutus. Allen gemeinsam ist der Verzicht auf regelhafte Wiederkehr metrisch-musikalischer Strukturen.

3.3 Beispiele

Ein durchaus kunstvolles Beispiel sind das erste und zweite Versikel des Lai des Hellequins „En ce douce temps d’esté“ aus dem Roman de Fauvel:

En ce douce temps d’esté, tout droit ou mois de may,
qu’amours met par pensé maint cuer en grant esmay,
firent les herlequines ce descort dous et gay.
Je, la Blanche Princesse, de cuer les em priai
et vous qu’em le faisant deîssent leur penser,
se c’est sens ou folie de faire tel essay
com de mettre son cuer en par amours amer.

Je, qui suis leur mestresse, avant le commencai
et en le faisant non de descort li donnay,
Quar selon la matere ce non si li est vrai.
Puis leur dis: „Mes pucelles, moult tres grant desir ai
qu’en fesant ce descort puissons tant bien parler
qu’on n’i truist que reprendre, que pour verité sai
que pluseurs le voudront et oir et chanter.“

I.) (Longa- Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:3:9)
A 6 | 6a
B 6 | 6a
A 7_ | 6a
B 7_ | 6a
C 6 | 6b
B‘ 7_ | 6a (Kadenz variiert)
C‘ 6 | 6b (gesamter clos variiert)
(das ganze wird 1x wiederholt)

II.) (Loga-Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:2:6)
A 6 | 6c
B 6 | 6c
C 7_ | 6d
C‘ 6 | 6d
A 6 | 6e
B 6 | 6e

Interessant ist an diesem Stück, dass die musikalische (Großbuchstaben) und die metrische Disposition nicht unmittelbar kongruent sind, was ungewöhnlich für die mittelalterliche Lieddichtung, nicht aber für das Lais selbst ist. Außerdem interessant ist der Umstand, dass hier mittels wörtlicher Rede eine Geschichte erzählt wird. Dies und auch die melodische Prosaik, sowie Länge des Lais lassen Zweifel an der reinen Lyrizität der Gattung aufkommen, die zwar von verschiedener Seite geäußert, aber nie eingehender untersucht wurden.

3.4 Das Lai als form fixe

Geschichtlich betrachtet ist das Lais alles andere als eine form fixe, es ist heterogen und sehr veränderlich. Allerdings strebt es mit zunehmender Entwicklung hin zu einer formalen Stabilisierung, die bei Guillaume de Machaut ihren Höhepunkt erreicht. Nur zwei seiner 19 Lais weisen eine andere Struktur, als die 1392 von seinem Guillaumes Schüler Eustache Deschamps beschriebene, auf. Die Norm lautet: 12 Teile von denen der erste und letzte in Form und Reim identisch sind, ohne dass sich Reimworte wiederholen, während die anderen 10 dahingehend individuell sind, doch jeder Teil muß vier Viertel haben. Bei Machaut wird mit dem letzten Versikel nicht nur die Form und der Reim, sondern auch die Musik des ersten Versikels wiederholt, diese erklingt jedoch für gewöhnlich eine Quarte oder Quinte höher oder tiefer.

Quellen

  • Christoph März: „Lai, Leich“, in: MGG2
  • David Fallows: „Lai“, in: New Grove2
  • Hans Tischler: „Die Lais im Roman de Fauvel“, in: Die Musikforschung, XXXIV/2 (1981), pp. 165, 169-171 (GfM)
  • Leo Schrade: „Guillaume de Machaut and the ‚Roman de Fauvel‘, in: Miscelánea en Homenaje a Monsenor Higinio Anglès, Barcelona: 1958-1961, vol.2, pp. 846-849

Einige Passagen dieses Artikels sind wortwörtlich in den Wikipedia-Artikel zum Lai (Fassung vom 13.09.08) übernommen worden, also nicht von mir geklaut, sondern von mir beigestiftet.

Précis: Der sogenannte Zirkel des Verstehens

Montag, 19. November 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich Wolfgang Stegmüllers „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“, darin er den Weg aus dem hermeneutischen Dilemma erklärt, dass ich zunächst die Worte eines Textes verstehen muß, um ihn zu übersetzen, deren Bedeutung aber nicht beurteilen kann, ohne zu wissen, worum es in dem Text geht, was ich nicht wissen kann, bevor ich ihn übersetzt habe.

Der sogenannte Zirkel des Verstehens ~ Wolfgang Stegmüller

Um die allgemeine Behauptung, dem Phänomen des hermeneutischen Zirkels wohne der wesentliche Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften inne, zu prüfen, versucht Wolfgang Stegemüller in seinem Aufsatz zwei Sinnfragen zu beantworten: 1.) Was ist mit dem Ausdruck hermeneutischer Zirkel gemeint? 2.) Was versteht man unter dessen Unaufhebbarkeit?

In die Liste seiner Deutungen nimmt Stegemüller bewußt nur diejenigen auf, die auf bestimmte ‘wissen-schafts-charakteristische’ Schwierigkeiten hinauslaufen, auf deren Darstellung letztlich seine eigene These von der Sonderstellung der Geisteswissenschaften beruht.

1. Das eigensprachliche Interpretationsdilemma

Bei der Lektüre als Vorgang passiert es, daß eine im Vorfeld erstellte Oberhypothese (Annahme über die Intention des Autors) sich als falsch erweist und durch eine bessere ersetzt wird. Die Schwierigkeit dabei ist, daß eine korrekte Oberhypothese allein durch intensive Lektüre gerade des Textes zu gewinnen sei, der aber nur durch Zugrundelegung dieser erst zu gewinnenden Oberhypothese verstanden werden kann. Dies sei, so Stegemüller, aber kein Zirkel, sondern ein Dilemma, daß durch Elimination inadäquater Hypothesen überwunden werden könne.

2. Das fremdsprachliche Interpretationsdilemma

In analoger Weise stellt sich die Schwierigkeit der zweiten Deutung dar, deren Interpretation aber im Unterschied auf einem fremdsprachigen Text beruht. Problematisch ist das besonders dann, wenn eine Sprache nicht mehr gesprochen wird. Der Interpret muß also aus überlieferten sprachlichen Äußerungen die damalige Lebenspraxis erschließen, wobei er jedoch die Sprache nicht verstehen kann, ohne Kenntnis von der Lebenspraxis zu haben. Jedoch auch das sei, laut Stegemüller kein unüberwindlicher Zirkel, da es außer Textquellen auch andere Quellen gäbe, die den historischen Zugang ermöglichen.

3. Das Problem des theoretischen Zirkels

Diese Schwierigkeit dieser Deutung liegt in der ‘rätselhaften Natur’ theoretischer Funktionsbegriffe. Hier bestehe die Gefahr eines echten Zirkels, da das Verständnis eines theoretischen Terms, das Verstehen der Theorie, welche er umfaßt, voraussetze.

4. Das Dilemma der Standortgebundenheit des Betrachters

Bei der Betrachtung eines Textes, ist der Betrachter (Historiker/Interpret) in seiner Standortgebundenheit gefangen. Das meint entweder, daß er bei der Betrachtung eine Reihe hypothetischer Annahmen macht, die er keiner Überprüfung unterziehen kann oder, daß sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaften durch das Vorherrschen einer nichtrationalen Einstellung charakterisiert sind. Stegemüller empfindet die zweite Deutung als echte Herausforderung.

5. Das Bestätigungsdilemma

Anhand zweier Beispiele, einem geistes- und einem naturwissenschaftlichen, erklärt Stegemüller dieses Dilemma. Zu einem wissenschaftlichen Problem werden zwei in sich schlüssige Alternativhypothesen aufgestellt, die sich zwar gegenseitig ausschließen, die aber beide nicht wissenschaftlich bestätigt werden können. Fraglich bleibt, laut Stegemüller, ob sich der Ausdruck hermeneutischer Zirkel auf das Bestätigungsdilemma an sich bezieht oder auf den Fakt, daß die Sympathie mit der einen oder der anderen Hypothese dem subjektiven Gefühl überlassen bleibt.

6. Das Dilemma in der Unterscheidung von Hintergrundwissen und Tatsachenwissen (Fakten)

Bei der Darstellung dieser Problematik deckt Stegemüller nun den eigentlichen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaft auf: In beiden Fällen führt die Untersuchung der zwei Alternativhypothesen zu einem Bestätigungsdilemma. In der Naturwissenschaft kann dieses Dilemma sinnvoll diskutiert werden, da es möglich ist, die Fakten eines sich darstellenden Problems vom Hintergrundwissen darüber eindeutig und scharf abzugrenzen. In der Geisteswissenschaft sei dies, laut Stegemüller, nicht möglich. Somit falle eine Einigung in Streitfragen schwer, da die Beobachtungstatsachen eines geisteswissenschaftlichen Problems, erst durch das in jahrelanger Arbeit mühsam erworbene Hintergrundwissen bestimmt seien.

Abschließend kommt Stegemüller zu der Erkenntnis, daß alle Wissenschaftszweige in gewisser Weise mehr oder minder potentiell von den angeführten Schwierigkeiten bedroht sind. An der Mythologie der Unüberwindbarkeit des hermeneutischen Zirkels dürfe dennoch nicht länger festgehalten werden.

Jul. 2003

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Quelle: Wolfgang Stegmüller: Der sogenannte Zirkel des Verstehens. In: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, W. Stegemüller, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S.63-88

Précis: Der intentionale Fehlschluß

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich den Aufsatz „Der intentionale Fehlschluß“ von William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley, darin die beiden Literaturwissenschaftler die Frage nach dem Autor und seiner Intention (Was will uns der Dichter damit sagen?) ad absurdum führen und eine am Text orientierte Analyse/Interpretation propagieren.

Der intentionale Fehlschluß ~ Wimsatt/Beardsley

In ihrem Aufsatz, „Der intentionale Fehlschluß“, beschäftigen sich die Autoren William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley mit der Frage nach der Berücksichtigung der Intention des Autors bei der Beurteilung literarischer Texte. Der Annahme, „um die Leistung des Dichters beurteilen zu können, müssen wir wissen, was er intendierte„, stellen sie eine andere Behauptung entgegen: Die Intention des Autors, sein Entwurf oder Plan, sei 1.) nicht eindeutig erkennbar und 2.) kein wünschenswerter Maßstab der Beurteilung eines literarischen Werkes.
Zu Beginn ihres Textes bringen sie fünf axiomatische Thesen:

  1. Die Annerkennung eines konzipierenden Intellekts als Ursache für ein Gedicht bedeute nicht zugleich die Annerkennung desselben als Wertungsmaßstab für das Gedicht.
  2. Die Intention des Autors, so sie ihr Ziel erreicht, sei textintern, so sie jedoch ihr Ziel verfehlt, textextern aufzuspüren.
  3. Das „Funktionieren“ eines Gedichtes sei unabhängig davon, ob wir dessen Absicht erkennen. Wir hätten nicht das Recht zu untersuchen, welcher seiner Teile intendiert, sprich beabsichtigt ist.
  4. Das Gedicht sei die Antwort eines Sprechers auf eine Situation. All seine Gedanken und Haltungen seien einem dramatischen Sprecher, nicht dem Autor zuzuschreiben.
  5. Die Absicht des Autors scheint wandelbar und dem Autor selbst unklar zu sein.

Im Folgenden lenken die Autoren ihre Aufmerksamkeit der Verantwortung des Literaturwissenschaftlers zu. Jede Aussage über ein Gedicht, das Eigentum der Öffentlichkeit, also der Kontrolle des Autors entzogen ist, würde gleicherweise wissenschaftlich überprüft werden.

Mit der Anführung A.K. Coomaraswamys wenden sich Wimsatt und Beardsley wieder der Frage nach der Beurteilung des Wertes eines Kunstwerkes zu. Mit der Behauptung, es gäbe die Möglichkeit objektiver Kritik, schließen sie an die hirschsche Vision der objektiven Interpretation an.

Im vierten Abschnitt des Aufsatzes (die Abschnitte II und III fehlen in der mir vorliegenden Ausgabe) gehen die Autoren auf den literaturwissenschaftlichen Forschungsbereich der Autorpsychologie bzw. der Biographie ein. Sie treten hier entschieden für die Abgrenzung von poetischen und biographischen Studien ein und weisen auf den Unterschied zwischen textinternen 1.) und textexternen 2.) Hinweisen auf den Sinn eines Gedichts hin, zwischen denen noch 3.) die Hinweise auf den „Charakter des Autors“ lägen. Es sei nicht unbedingt Methode der Intentionalisten, biographische Belege zur Erschließung des Sinns eines Gedichtes heranzuziehen, dennoch würden aus der unterschiedlichen Wahl der Mittel auch unterschiedliche Kommentare folgen. Die Wahl der Hinweise 2.) und 3.), veranschaulicht durch die Beispiele Lowes und Coffin, halten die Autoren Wimsatt und Beardlsey für nicht angemessen, da sie eher vom Ziel wegzuführen scheinen. Sie kommen zu dem Schluß, daß die geistigen Erfahrungen, die ein Gedicht möglicherweise ausmachen, im Gedicht selbst nicht wiedererkennbar sind und auch nicht wiedererkannt werden müssen.

Aus der Diskussion über den Anspielungsreichtum moderner Lyrik heraus entsteht die Annahme, daß die Intention eines Autors nur dann zu erkennen sei, wenn sein Lesestoff bekannt wäre. Sie versuchen am Beispiel T.S. Elliots ihre Behauptung zu verdeutlichen. Die Autorintention bliebe diesselbe, egal ob selbst- oder fremdverfasst. Gerade diese Anspielungen würden die Prämissen des Intentionalismus in Frage stellen. Der „intentionale Fehlschluß“ sei gerade die „romantische Annahme“ der Existenz der Autorintention.

Jun. 2003

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Quelle: Wimsatt/Beardsley: Der intentionale Fehlschluß, in: „Texte zur Theorie der Autorschaft“, F. Jannidis u.a. [Hrsg], Stuttgart, Reclam, 2000

Dumbledores sexuelle Vorlieben

Samstag, 20. Oktober 2007


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Um ehrlich zu sein, habe ich über diese Thematik nie nachgedacht. Albus Dumbledore, der Direktor der Zaubererschule Hogwarts, war in meiner Vorstellung immer asexuell, was wohl an seiner Rolle als graubärtiger Mentor gelegen haben muß. Was Joanne K. Rowling aber gestern bei ihrer Lesestunde des siebenten Harry Potter Bandes in der Carnegie Hall über das Liebesleben des Zauberers enthüllte, hat die Zuhörer überrascht und begeistert: Albus Dumbledore ist schwul. Daran ist an sich nichts weltbewegendes, spannend finde ich eher, wie die Welt nun davon erfährt. Denn im Buch stand das so nicht und wurde allenfalls, mit viel gutem Willen in der Geschichte um seine Jugendfreundschaft zu Grindelwald angedeutet. Eine Männerfreundschaft muß nicht gleich eine schwule Beziehung sein, nicht einmal wenn sie sehr innig ist. Kann aber eben doch; wer weiß das schon…

Jedenfalls antwortete die Autorin gestern auf die Zuschauerfrage, ob Dumbledore, der ja die Liebe für die stärkste Kraft hielt, sich jemals verliebt hätte:
„My truthful answer to you… I always thought of Dumbledore as gay. [ovation] Dumbledore fell in love with Grindelwald, and that added to his horror when Grindelwald showed himself to be what he was. To an extent, do we say it excused Dumbledore a little more because falling in love can blind us to an extend, but he met someone as brilliant as he was, and rather like Bellatrix he was very drawn to this brilliant person, and horribly, terribly let down by him.“

Rowlings Geständnis (war nicht sogar vor kurzem „Comming Out Day“?) ist durchaus einleuchtend und fügt sich wunderbar in die Geschichte ein, auch wenn es selbst nicht Teil der Geschichte ist. Natürlich kann man sich jetzt streiten, ob es hätte Teil der Geschichte sein sollen. Immerhin ist Homosexualität ja nichts für das man sich schämen, mit dem man sich verstecken muß. In diesem Falle finde ich aber gut, dass die Leerstelle im Buch blieb. So kann eben jeder Leser dort nach belieben einfügen, was seine Phantasie ihm erlaubt. Dumbledore war ja in erster Linie Zauberermeister und kein Pionier der Schwulenbewegung – ganz im Gegensatz zu Frau Rowling offenbar: Die Autorin sprach damit, wie in ihren Büchern, ein allgemeines Plädoyer für mehr Toleranz. Mal sehen, was die amerikansichen Fundi-Christen dazu sagen, die ja die Potterbände sowieso schon wegen Glorifizierung der Hexerei aus den Schulbibliotheken bannen wollen. Ich finde den Gedanken an einen schwulen Dumbledore hingegen äußerst reizvoll.

The Leaky Cauldron Fansite mit Transkription der gestrigen Fragestunde, mit einigen anderen Interessanten Antworten, z.B. zum Thema goats.

Scheibenwelt – Aberglaube Mittelalter

Freitag, 19. Oktober 2007

Wenn ich von meinen mediävistischen Studien berichte, gibt es immer wieder Leute, die behaupten, im Mittelalter wären die Menschen abergläubisch gewesen und hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Während ersteres, wie ich inzwischen beweisen kann, nicht nur auf die Menschen im Mittelalter zutrifft, ist letzteres zeitgenössischer Aberglaube, der mit der historischen Realität nichts zu tun hat.

Bereits im ersten Semester meines Studiums kam mir ein Text aus dem 14. Jahrhundert unter, das Naturkundebuch Konrads von Megenburg, in dem sich inmitten einer Schilderung der biblischen Sintflutgeschichte die Federzeichnung eines Schiffes befand, auf dem zwei Augen einen Punkt an Land zu fixieren versuchen. Während das Auge hoch oben am Mast den Punkt ungehindert sehen kann, wird deutlich, dass das Auge auf Relinghöhe durch das Schiff und das Meer hindurchgucken müßte, um es dem Auge im Mast gleichzutun. Die Skizze, die ich hier einstellen werde, sobald ich den Kampf mit meinem Scanner gewonnen habe, zeigt mir deutlich, dass also spätestens im 14. Jahrhundert ein Verständnis für die Kugelform der Erde vorhanden war. Aber auch sonst ist mir während meines gesamten Studiums kein einziger mittelalterlicher Text untergekommen, in dem irgendwer behauptet hätte, die Erde sei eine Scheibe, im Gegenteil. Ich habe mich deshalb immer wieder gefragt, wie meine Zeitgenossen nur auf einen solchen Unsinn kommen können und meine Aufgabe als Mediävist nicht zuletzt auch in der Ausräumung falscher Annahmen gesehen.

Vor zwei Tagen bin ich dann zufällig über einen schon etwas älteren SpOn-Artikel gestolpert, der sich mit der Problematik der mittelalterlichen Scheibenwelt mal etwas näher befaßt und siehe da, Romanist Reinhard Krügers hat sich mit eben derselben quälenden Frage durch ca. 1800 Jahre Wissenschaftsgeschichte gewühlt. Dabei hat er herausgefunden, dass es in der gesamten Zeit tatsächlich drei mittelalterlich (bzw. spätantike) Gelehrte gab, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe, während alle übrigen sie für Dummschwätzer und die Erde für eine Kugel hielten. Die Rede ist von Kosmas Indikopleustes, Laktantius und Severianus von Gabala, die aber weder gelesen, noch beachtet wurden, denn seit dem antiken Philisophen Parmenides galt die Kugelform der Erde als bewiesen und wurde auch nicht angezweifelt. Also schlummerten unsere drei Gelehrten ihren Dornröschenschlaf, bis einer von ihnen in der Renaissance um 1540 von einem gewissen Nikolaus Kopernikus erweckt wurde.

Der Astronom hatte nämlich eine bis dahin unerhörte Theorie, deren Neuartigkeit nicht in der Annahme einer sphärischen Erde bestand, sondern in der Annahme eines Heliozentrums, um das die Planeten in Kreisbahnen ziehen. Die Kapitel über die Form der Erde hatte Kopernikus aus dem Standardwerk des mittelalterlichen Astronomieunterrichts, der Sphaera mundi des Johannes Sacrobosco, abgeschrieben, ohne freilich seine Quelle zu benennen. Da er aber Angst vor dem Spott eben jener Gelehrten hatte, die die Erde im Mittelpunkt glaubten, zitierte er auch den polemischen Laktantius, diesmal allerdings namentlich. Er argumentierte gegen seine Kritiker, dass wer sein heliozentrisches Weltbild bezweifle, ebenso dumm sei wie jener Laktantius. Und bereits 20 Jahre nach Erscheinen der Revolutionibus Orbium Coelestium des Kopernikus behauptete der Mediziner Johannes Dryander, die vormodernen Alten hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. In der Zeit der Aufklärung galt diese Lüge dann schon als Tatsache und wird bis heute von vielen Zeitgenossen als solche proklamiert. So viel also zum Aberglauben im Mittelalter: Eigentlich fehlt jetzt nur noch jemand, der kommt und behauptet, im Mittelalter hätte man Hexen verfolgt und verbrannt

Seminararbeit: Das Odeporicon als Spiegel einer neuen Zeit

Mittwoch, 17. Oktober 2007

Das Odeporicon als Spiegel einer neuen Zeit. Zur literarhistorischen Einbettung und zum Gebrauch der Spiegelmetapher in der frühneuzeitlichen Autobiographie Johannes Butzbachs, Freie Universität Berlin, Okt. 2007
[Abschlußarbeit zum Hauptseminar “Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit” der Älteren deutschen Literatur und Sprache, geleitet von Frau Dr. Britta-Juliane Kruse]

Videmus nunc per speculum in aenigmate,
tunc autem facie ad faciem.1
(Paulus)

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit bildet die schriftliche Ergänzung meines Referates „Mehrfachcodierung des ‚Odeporicon‘ – Spiegelmetapher und Spiegelliteratur“ [pdf], das ich im Sommersemester 2007 im Rahmen des mediävistischen Hauptseminars „Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit“ hielt. Sie beschäftigt sich mit der Frage nach dem Gebrauch der Spiegelmetapher in der Autobiographie Johannes Butzbachs von 1506 und versucht, diese in einen literarhistorischen Kontext einzuordnen.

Da der Spiegel in der Literatur des Mittelalters bald zur „zentrale[n] Metapher eines von Analogiestrukturen geprägten Weltbildes“2 avanciert, erscheint es sinnvoll, sich zunächst die Bedeutung des Spiegels und seines metaphorischen Gebrauchs im Mittelalter zu vergegenwärtigen. Die Bedeutung/Interpretation sprachlicher Zeichen fällt in den Bereich der linguistischen Semiotik. Da aber die Optik, wie Umberto Eco in seiner Abhandlung „Über Spiegel und andere Phänomene“ feststellt3, mehr über Spiegel zu wissen scheint, als die Semiotik über Zeichen, beginnt diese Arbeit zunächst kurz mit dem Spiegel im Eigentlichen, bevor sie sich im Anschluß seiner tropologischen und ontogenetischen Bedeutung widmet.

Anhand semiotischer Betrachtungen werde ich versuchen, das philosophische Gedankenkonstrukt, welches den Spiegel als „Schwellenphänomen“ umgibt, darzustellen. Mit Beispielen, wie Heinrich von Morungens „Narzißlied“ und dem Speculum-Begriff als Buchtitel im 13. – 15. Jahrhundert, verweise ich auf eine perspektivische Veränderung in der Selbstwahrnehmung des spätmittelalterlichen Menschen, die mit der (vor allem auch metaphorischen) Benutzung des Spiegels als Instrument der Reflexion einherzugehen scheint. Wie und warum für diese Veränderung auch die Butzbachsche Autobiographie ein Spiegel ist, versuche ich im letzten Teil dieser Arbeit zu verdeutlichen.

2. Der Spiegel im Eigentlichen

Im Gegensatz zum „Spiegel im Uneigentlichen“ meint „Spiegel im Eigentlichen“ das physische Ding an sich, den Spiegel als optisches Gerät, dessen mikroskopisch glatte Oberfläche Lichtstrahlung aller Farben so zurückbeugt, daß dabei ein Bild entsteht. Die Physik spricht hierbei von gerichteter Reflexion. Wäre die Oberfläche des Spiegels im Verhältnis zur Wellenlänge des Lichtes rauh (selbst wenn dies mit bloßem Auge nicht zu erkennen wäre), so würde sie Lichtstrahlen diffus, also in verschiedene Richtungen reflektieren, so daß kein Bild entstehen könnte. Das Abbild eines Objektes, das im Spiegel sichtbar wird, heißt Spiegelbild und ist virtueller Natur. Aufrecht und spiegelsymmetrisch bildet es das Objekt in getreuem Größenverhältnis und nahezu ohne chromatische Aberrationen, also farbecht, ab.

Da Licht, das in einem bestimmten Winkel auf eine dunkle Wasseroberfläche trifft, total reflektiert wird, dürften dem Menschen wohl Oberflächen natürlicher Gewässer oder von in dunklen Schalen und ähnlichen Gefäßen befindlichem Wasser als Spiegel gedient haben. Die rückseitige Verdunklung der Reflexionsfläche verhindert dabei, daß das Bild der gerichteten Reflexion von Störungen durch diffuse Reflexion überlagert wird.

Bereits aus der Jungsteinzeit sind Spiegel aus Obsidian, einem dunklen, glasartigen Vulkangestein, bekannt, bei denen eine Seite glatt poliert war. In der Bronzezeit entstanden erste Metallspiegel, deren Fertigung besonders die Etrusker meisterhaft beherrschten. Auch hier wurde eine Seite mit Hilfe von Wasser und feiner Asche poliert. Erste Glasspiegel sollen schon die Römer hergestellt haben, die diese Technik aber, wie der Geschichtsschreiber Plinius berichtet, wohl von den Phöniziern übernommen haben.4

Hochwertigere Glasspiegel gibt es seit der Wiederentdeckung des Herstellungsverfahrens im 12. Jahrhundert.5 In die noch glühende Glasblase wurden rückseitig Metalllegierungen eingebracht. Seit der Frühen Neuzeit nutzte man ein 3:1 Zinn-Quecksilbergemisch, sogenanntes Zinnamalgam, das zur Bezeichnung Quecksilberspiegel führte. Spiegel waren aber bereits im Mittelalter als Luxusgegenstände begehrt. Kunst und Literatur bedienten sich der allegorischen und symbolischen Natur des Spiegels, die Optik verwandte ihn für wissenschaftlich-philosophische Untersuchungen.

Mir ist geschehen als einem kindelîne,
das sîn schoenez bilde in einem glase gesach.
(Heinrich von Morungen)

3. Der Spiegel im Uneigentlichen
3.1 Vonder Physik zur Metapher

Der Spiegel, dieses optische Gerät, wird zu einer Art Urmetapher. Zentral im Mittelalter übt sie bis heute eine weitreichende Faszination auf Kunst und Geisteswissenschaften aus. Welch spezieller Natur die Relation von Spiegel und Metapher ist, möchte ich anhand der Ausführungen zweier theoretischer Texte herausstellen. In seiner Dissertation „Dichten im Uneigentlichen“ führt der Mediävist Christoph Leuchter in die Problematik der Metapherntheorie des Mittelalters ein und stellt anschaulich deren Zusammenhang mit den modernen Zeichentheorien zur Sprache her. Die Verbindung zwischen den sprachlichen Zeichen, ihrer Deutung und dem Spiegel erhellt der Semiotiker Umberto Eco in seinem Aufsatz „Über Spiegel und andere Phänomene“.

Für Aristoteles ist Metapher noch ein Überbegriff für sämtliche unter dem Terminus Tropus zusammengefaßte rhetorische Stilfiguren, also auch Metonymien und Synekdochen. Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes in ein anderes gemäß der Analogie, die sich in der Ähnlichkeit beider Größen manifestiert. Der Abend verhält sich zum Tag, wie das Alter zum Leben, deshalb kann man metaphorisch auch vom Lebensabend sprechen. Durch die zugrunde liegende Ähnlichkeit der Begriffe, Abend und Alter, ist die Metapher nicht willkürlich. Dennoch wirkt sie fremdartig, da es auch zu einer Übertragung des Wortfeldes, einer sogenannten „Kategorieüberschreitung“ kommt. Leben und Abend sind zwei Begriffe, die semantisch eigentlich nicht zusammengehen. Sie können in diesem Zusammenhang nicht meinen, was sie bedeuten. Sie sind nur übertragen zu verstehen, deshalb sprechen Linguisten im Falle metaphorisch-bildlicher Sprache auch von einem Sprechen im Uneigentlichen. Durch ihre Fremdartigkeit fordert die Metapher zur Interpretation, zur Deutung heraus, gleichzeitig ist sie nur im Rahmen eines Weltbildes verständlich, da die in den Wortfeldern kodierten Analogien abhängig von einer sozio-kulturellen Übereinkunft sind.

In seiner „Doctrina christiana“ erkennt Augustinus den Zeichencharakter der Metapher, wenn er strikt zwischen den res, den Bedeutungsfeldern der Worte, und den signa oder verba, den Worten selbst, unterscheidet. Die Zeichen selbst seien mit allen Sinnesorganen des Menschen wahrnehmbar. Hugo von St. Victor spricht deshalb in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts von einer Lesbarkeit der wahrnehmbaren Welt. Durch die Lektüre würde sich dem Menschen die Weisheit des unsichtbaren Gottes offenbaren.

Nihil vacuum neque sine signo apud Deum.6 Das Bedürfnis, die Welt als einen großen symbolischen Zusammenhang zu begreifen, in dem die Beschaffenheit der Dinge, durch Ähnlichkeit miteinander in Beziehung zu stehen, eine natürliche Qualität darstellt, erlebt im Europa des 14. Jahrhundert seine Blüte. Der Mensch des Mittelalters erkennt plötzlich, daß alle natürlichen Dinge eine tiefere Bedeutung und damit eine Verweisfunktion besitzen. Damit wird der Metapher eine doppelte Zeichenfunktion zuteil: Einem signum kann einerseits die wörtliche Bedeutung, andererseits die übertragene zugewiesen werden. Diese Ambiguität der Metapher läßt unter den Dialektikern den Ruf nach einer klaren und exakten also bildarmen Sprache laut werden. Die Rhetorik erkennt aber die Kreativität der Metapher, durch die eine neue Wirklichkeit und neue Erkenntnis generiert werden. Schon der Universalienstreit der Scholastiker hatte gezeigt, daß die Theoretiker des Mittelalters an der Ergründung der Sprache interessiert waren und durchaus unterschiedliche Positionen in Bezug auf ihre Natur bezogen.

Die Fähigkeit zur Semiose, dem Prozess, durch den laut Pierce ein Zeichen, sein Objekt und seine Interpretation in ein Wechselspiel miteinander treten, hält Umberto Eco für ein dem Menschen ureigenes Phänomen. Er schließt aber nicht aus, daß der Mensch gerade aufgrund einer uralten Spiegelerfahrung solch ein semiosisches Tier ist.7 Die Wahrnehmung des Menschen und seine Semiose stehen in enger Relation und beeinflussen einander wechselseitig, ebenso wie es die Sprache (als System von Zeichen) und das Denken tun. „Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehung ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.8

In seinen Untersuchungen über das sogenannte „Spiegelstadium“ des Menschen, eine Phase zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat, in der der junge Mensch seinem Selbst zum ersten Mal im Spiegel begegnet, legt der französische Psychoanalytiker und Strukturalist Jacques Lacan aber nahe, daß Spiegelerfahrung und (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen Hand in Hand gehen. Dadurch, daß sich der Mensch beim Blick in den Spiegel erstmals als ganzheitliches Subjekt in der Welt wahrnimmt, integriert er sein Selbst in das symbolische (oder semiosische) System. So beeinflußt die Wahrnehmung sein zukünftiges Denken; es kommt zur Reflexion. (Spannend ist an dieser Stelle auch das Polysem Reflexion, das sich einerseits auf die Beugung von Lichtstrahlen in einem Spiegel, andererseits auf das Nachsinnen des Menschen bezieht.) Die Spiegelerfahrung ist demnach ein Moment der Ontogenese des Subjektes, also der Entwicklung zum Individuum. Der Spiegel nimmt dabei die Rolle eines Mittlers zwischen zwei Wahrnehmungswelten ein oder, wie Eco es ausdrückt: „Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert.“9

Damit wird aber der Spiegel selbst zu einer Metapher für den Zeichencharakter der Sprache und die Symbolhaftigkeit der Welt im Allgemeinen, die für den spätmittelalterlichen Betrachter so offenbar und wahrhaftig gewesen zu sein scheint. Paulus spricht von einem Spiegel in einem dunklen Wort, durch den wir nun sehen. Dies macht die Faszination des Spiegels aus und ist vermutlich auch der Grund dafür, daß er zu „eine[r] der vieldeutigsten Chiffren des Mittelalters10“ wird. Ihm werden Attribute von superbia und vanitas bis sapientia und veritas zugeordnet. „Die Literatur“, so der eben zitierte Leuchter weiter, „nutzt die abbildende, Erkenntnis vermittelnde, aber auch täuschende Wirkung des speculum, ‚bereichert um die Zerbrechlichkeit des Glases.‘11

3.2 Die Entdeckung der Individualität

Inwieweit der Gebrauch des Spiegels als Metapher auch das Denken einer neuen Zeit ankündigt, spricht Gert Kaiser in seinem Aufsatz „Narzissmotiv und Spiegelraub“ an. Darin betrachtet er u.a. das sogenannte Narzißlied, das dem Minnesänger Heinrich von Morungen (fl. 1200) zugeschrieben12 wird. Der Held der Ovidschen „Metamorphosen“ taucht darin eigentlich gar nicht auf, vielmehr kommt der Name Narzißlied aufgrund einer Analogie der im Lied verwandten Bilder und Metaphern mit der Tragik des selbstverliebten Jünglings zustande.

In der ersten Strophe setzt sich das Sänger-Ich explizit mit einem Kind gleich, das sein Spiegelbild in einem Glas erblickt und selbiges beim Versuch, danach zu greifen, zerbricht, woraufhin sich seine Freude in Leid verkehrt. In Analogie dazu glaubte der Sänger, beim Anblick seiner geliebten Minnedame immer froh zu sein, eine Annahme, die sich nun jedoch als falsch herausstellt. Denn in der zweiten Strophe führt die personifizierte Minne „in troumes wîs“ die geliebte Dame an das Bett des schlafenden Sängers. Träumend betrachtet er sich die Schönheit der vor allen Frauen Ausgezeichneten, entdeckt aber in einer Verletzung ihres roten Mundes etwas, das die Perfektion zu trüben scheint. Daraufhin bekommt es der Sänger, wie Strophe drei berichtet, mit der Angst zu tun und erhebt erneut Klage. Die Not, die ihn beim Anblick seiner vrouwe bestürzt, wird wiederum zum Anlaß, eine Analogie im Spiegelmotiv zu suchen: Der Anblick der Dame ist für den Sänger, was für das Kind der Anblick seines Spiegelbildes im Brunnen ist, das es bis zum Tode lieben muß. Strophe vier bricht vom symbolischen Stil der vorangegangenen Strophen los und bringt als Schluß einen stereotypen Frauenpreis.

Sowohl Gert Kaiser als auch Christoph Leuchter kommen in ihren Betrachtungen des Morungschen Narzißliedes zu dem Schluß, daß der Sinn des Narzißmotives auch für den mittelalterlichen Menschen die Selbstbegegnung war. Im Falle Morungens verweist die Logik der Analogie darauf, daß das Bild der Dame eine Reflexion des Sängers selbst ist. Denn die Minnedame ist nicht real, sondern ein Geschöpf des Minnesängers, der mit seinem Sang das Idealbild seiner vrouwe überhaupt erst formt und sie dadurch in die Existenz bringt. Daß diese Logik dem Minnesänger nicht fremd war, beweist auch Walther (von der Vogelweide), wenn es bei ihm heißt: „Stirbe ab ich, sô ist si tôt.“ (73,16) „Im Bild der geliebten vrouwe begegnet der Dichter seinem Werk und diese Begegnung ist wie ein Schauen in den Spiegel“, schreibt Kaiser13.

Das Narzißlied deckt, verwoben in uneigentliche Sprache, eigentlich einen Widerspruch im Minnekonzept auf. Geliebt und angebetet wird etwas Irreales, Fiktives, Künstliches. Im Traum ist die Dame dem Sänger nah, doch ihre Perfektion beginnt zu zerbrechen, wie das Spiegelbild, nach dem das Kind griff. Das Erreichen der Dame würde den Tod des Sanges bedeuten. Deshalb muß am fiktiven Konzept der Dame, am Paradoxon des Minnegedankens festgehalten werden; die letzte Strophe stellt dies mit ihrem stereotypen Preis zu Schau. Christoph Leuchter sieht darin eine Bestätigung des poetischen Prinzips. „Morungens Gleichnis“, so schließt er, „fußt […] auf der typischen Unerfahrenheit eines Kindes in der Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild. Diese Eigenschaft hat es mit Narziß gemein, der nicht nur schön ist, sondern vor allem die Natur des speculum nicht kennt.“

In der symbolischen Darstellung des Narißliedes blitzt für Gert Kaiser aber auch die Idee der Selbsterfahrung durch das Erleben von Leid auf. Leid und die daraus resultierende Selbsterfahrung seien wichtige Augenblicke in der Geschichte der Entdeckung des Individuums. Das Narzißmotiv wirft für ihn also die Problematik des Individuums auf, die Einsichten in die eigene, individuelle Verletzlichkeit: „[…] Das sind offensichtlich keine Eigenschaften, die [zur Zeit Morungens] besessen werden“, schreibt er. Auch wenn die Chiffrierung des Liedes dem Stand der historischen Verhältnisse entspricht, so entspricht die logische Konsequenz daraus noch nicht dem Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der mittelalterliche Mensch mußte sich erst noch als Individuum entdecken, wenn man nach den Erkenntnissen Lacans argumentiert, heißt das, er mußte erst noch seine Spiegelerfahrung machen.

Interessant ist vor diesem Hintergrund eine bisher unveröffentlichte Arbeit von Gunhild Roth zur Spiegelliteratur. Spiegelliteratur ist keine literaturwissenschaftliche Textgattung, eher handelt es sich um eine heterogene Gruppe moral-didaktischer, geistlicher und weltlicher Texte, deren Funktion es ist, dem Leser einen Spiegel vorzuhalten. Ein Großteil dieser Texte trägt den Speculum-Begriff auch im Titel, z.B. Speculum humanae salvationis oder Spygel der Leyen. Dabei bezeichnet das Genitivattribut entweder den Adressaten oder das Thema des Textes. Die Spiegelmetapher wird hierbei im Sinne von Vorbild, Beispiel oder Muster gebraucht; die Gedanken an superbia und vanitas des Spiegels treten hingegen vollkommen zurück. Charakteristisch für die Texte sind die lehrhaften Inhalte (oft sogar in Gesprächsform), wobei klerikale und laikale Bildung integriert werden, und die abwechselnde Darstellung von Abbild und Idealbild. Enzyklopädien oder juristische Musterschriften können dabei ebenso zum Spiegel werden wie Heiligenbiographien oder Anweisungen junger Fürsten.

Augustinus von Hippo (354 – 430) verbindet, ähnlich wie später Alcuin von York und andere Theoretiker, das Erreichen von Seeligkeit mit dem Studium der Heiligen Schrift, die er immer wieder als Spiegel beschreibt, in dem sich der Mensch betrachten kann, um zu sehen wie er ist und wie er sein soll, um zu bereuen und sich zu bessern. Als erster verwendet er den Spiegel-Begriff auch als Titel einer seiner Schriften, genannt „Speculum quis ignorat„. Später bekräftigt er seine Idee mit „Speculum de Scriptura Sacra„, einer Kompilation ausgesuchter Passagen aus dem Alten und Neuen Testament. Davon ausgehend entwickelt sich Speculum im Mittelalter zu einem der häufigsten Buchtitel neben Liber oder Summa. Während vor dem 13. Jahrhundert nur vereinzelt Spiegeltitel auftauchen, nimmt deren Zahl im 14. und 15. Jahrhundert stetig zu. Im 16. Jahrhundert kommt es dann zu einer regelrechten Inflation, die die Spiegelliteratur bald unüberschaubar macht.

Der Heilige Augustinus war es also, der den Spiegeltitel in Verbindung mit dem Buch populär machte. Die Bibel, das Buch der Bücher, ist bei ihm ein Beispiel für glaubenskonformes, moralisch sittliches Leben. Diesem allgemeinen Anspruch an das Schrifttum scheint auch die Spiegelliteratur nachzueifern. Mystiker wie Hildegard von Bingen oder exzentrische Künstler wie Eustache Deschamps nutzen die Spiegelmetapher. Der Devotio Moderna, einer spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung, die sich auf Augustinus beruft, scheint die Schrift Quelle der Erkenntnis zu sein, was nahelegt, daß die Verbreitung des Buches in der Frühen Neuzeit nicht ausschließlich mit den technischen Neuerungen im Bereich der Papierherstellung und des Buchdrucks, sondern auch mit einem verstärkten (bürgerlichen) Interesse am Schrifttum zusammenhängt.

Als Buchtitel hat die Spiegelmetapher seit dem Mittelalter in allen mitteleuropäischen Sprachen ihre durchgehende Kontinuität bis heute hin bewahrt (an dieser Stelle sei das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erwähnt). Zur Kategorisierung der Spiegelliteratur gibt es aufgrund der Heterogenität und Fülle des Materials bisher keinen literaturwissenschaftlichen Konsens. Je nach dem, welcher Zeitraum und welche Regionen betrachtet oder welche Ansprüche zugrunde gelegt werden, fallen die Strukturierungsansätze anders aus. Auch ist bisher noch nicht genau geklärt, wie es zu einer solchen Inflation der Spiegelliteratur kommen konnte. Auffällig ist aber, daß sie mit dem Aufkommen und Ausleben humanistischer Ideen, einer Hinwendung zum Schrifttum und einer damit in Zusammenhang stehenden Individualisierungsbestrebung der Menschen einhergeht.

Omnia enim hic conscripta sunt,
speculum nostra sunt.14
(Augustinus)

4. Das „Odeporicon“, ein Spiegel?
4.1 Die Autobiographie im Mittelalter

Zeuge dieser Individualisierungsbestrebungen der Frühen Neuzeit ist das Aufkommen einer neuen Textgattung. Gemeint ist nicht die Spiegelliteratur (die ja bisher nicht als eigene Gattung betrachtet wird), sondern die Autobiographie. Texte mit biographischen und autobiographischen Inhalten gibt es eigentlich schon seit der Antike: Briefe, Reiseberichte, Chroniken und ähnliche Quellen enthalten sogenannte Selbstzeugnisse. Aber die explizite Beschreibung des eigenen Lebens unter selbstreflektorischen Gesichtspunkten zum Zwecke der Selbstdarstellung ist etwas, das sowohl der Antike als auch dem Mittelalter fremd war. Dies hängt nicht zuletzt auch an einer veränderten Selbstwahrnehmung der Menschen.

Die Vorstellung von der Individualität des Einzelnen war im Mittelalter nicht besonders ausgeprägt. Eher identifizierte man sich als zugehörig zu einer Gruppe, sei es durch den Stand, die Familie oder das Glaubensbekenntnis. Die Identifikation mit der Gruppe fand ihren Ausdruck vor allem auch in einer standesgemäßen Kleidung, davon berichtet eine Novelle des italienischen Schriftstellers und Staatsbeamten Giovanni Sercambi (1348 – 1424) mit dem Titel „De simplicitate di Ganfo pilicciaio“ (Von der Einfalt des Kürschners Ganfo)15. Geschildert wird darin der Besuch Ganfos in einem Kurbad und dessen Angst, sich mit den hunderten nackten Menschen im Bade zu verwechseln, sofern er sich unbekleidet zu ihnen gesellt. Ganfo beschließt daraufhin, sich mit einem Strohkreuz auf der Schulter zu kennzeichnen. Als aber das Strohkreuz im Wasser davon schwimmt und er es auf der Schulter eines fremden Florentiners entdeckt, glaubt er, der Florentiner zu sein, dem er erklärt: „Du bist ich und ich bin du.“ Der Florentiner, verwundert über Ganfos Aussage, schimpft ihn: „Hau ab, du Leiche!“ Der völlig verstörte Kürschner aber fährt eiligst nach hause und verkündet auf die Frage seiner Frau, warum er denn so schnell heimgekehrt ist: „Liebste Theodora, ich bin tot.“

Die humoristische Geschichte bezeugt aber nicht nur die Zusammengehörigkeit von Identität und Kleidung, sondern vor allem, daß die Frage der Identität unter Künstlern des italienischen Trecentos bereits so reflektiert wurde, daß es möglich war, sich darüber lustig zu machen. Schon bei Schriftstellern wie Dante Alighieri (1265 – 1321) und Francesco Petrarca (1304 – 1374), der als einer der Begründer des Humanismus gilt, finden sich autobiographische Einflüsse in den Schriften. Ebenso scheinen sich französische Literaten des 14. Jahrhunderts zunehmend zu emanzipieren. Guillaume de Machaut (1300 – 1377) kompiliert als einer der ersten sein komplettes Œuvre, sein Schüler Eustache Deschamps (1345 – 1404) erklärt seine Dichtung von der Musik unabhängig. Diese künstlerische Emanzipation ist auch Spiegel eines zunehmenden Selbstinteresses und Herausstellens der Leistungen des Einzelnen.

Autobiographische Schriften, die aber nicht wirklich Autobiographien genannt werden können, gab es in Einzelfällen aber schon zuvor, wofür Augustinus‘ „Confessiones“ oder Petrus Abaelardus‘ (1079 – 1142) „Historia calamitatum mearum“ ein Beispiel liefern. Dennoch war das Schreiben über sich selbst keine Selbstverständlichkeit und mußte sich, so es denn dazu kam, rechtfertigen, um nicht dem Vorwurf der selbstdarstellerischen Eitelkeit ausgesetzt zu sein. Eine solche Rechtfertigung findet sich noch 1506 im Vorwort der Autobiographie Johannes Butzbachs, mit dem Titel „Odeporicon“, auf die ich nun näher eingehen möchte.

4. 2 Das Odeporicon: Vorbild und Beispiel

Zugleich gibst du mich [durch die Niederschrift des „Odeporicon“] auch der Lächerlichkeit vor reifen und ernsthaften Menschen preis, die mich für kindisch oder für einen Prahler halten werden, der zu viel wagt und eitlem Ruhm nachjagt, wenn er trotz seiner Unfähigkeit die eigene Lebensgeschichte wie die eines epiphanes – eines berühmten Mannes – oder eines hagios – eines Heiligen – aufschreiben will […]16, schreibt Johannes Butzbach, seit 1500 Benediktiner-Mönch im Kloster Maria-Laach in der Eifel, seinem Halbbruder Philipp Trunk im Vorwort seiner Autobiographie. Das Buch besteht aus drei Teilen, die den Lebensweg Butzbachs als fahrender Schüler, im böhmischen Ausland und schließlich seinen Eintritt ins Kloster in lateinischer Sprache erzählen; dort endet die Geschichte, das Klosterleben selbst wird nicht mehr geschildert. Der frühneuzeitliche Text gilt als hervorragend und einzigartig, da er einer kontinuierlichen, chronologischen Erzählung des Lebensweges gewidmet ist und damit tatsächlich eine der frühesten Autobiographien darstellt. Auch sind die Darstellungen darin nicht nur in Bezug auf die Biographie Butzbachs interessant, sondern können auch zu historischen und sozialwissenschaftlichen Studien herangezogen werden, da Butzbach sich nicht nur auf die Anreihung von faktischen Begebenheiten beschränkt, sondern auch über damit einhergehende Empfindungen bei sich selbst und anderen spricht.

Er nennt seine Autobiographie „Odeporicon“, was ein Begriff ist, den er aus dem Griechischen übernimmt. Hodoiporein bedeutet Reisen, von hodos, was so viel heißt wie Weg, Straße oder Reise und poreuomai, ich reise. Die lateinische Entsprechung des Begriffs wäre itinerarium, die deutsche Reisebericht, weshalb in den Übersetzungen des „Odeporicon“ heute unter dem Titel der Zusatz „Wanderbüchlein“ steht. In der metaphorischen Anlage des Titels wird der Hang zur uneigentlichen Sprache bereits deutlich. Das Leben wird als ein Weg beschrieben, sogar durch die Bezeichnung Butzbachs als „Vielgereister“ mit der Odyssee verglichen, der Eintritt ins Kloster ist die Landung im sicheren Hafen, das Ende der Reise und der Suche nach dem richtigen Weg.

Die Erzählung mit dem Klostereintritt abzubrechen ist konsequent, wenn man bedenkt, daß die 1. der Regula Benedictini der stabilitas loci gilt. Die Seßhaftigkeit, so muß es jeder Benediktiner sehen, ist das Ideal der monastischen Lebensweise, somit kann eine Irrfahrt kaum der richtige Lebensweg sein; der Eintritt ins Kloster ist ein Ankommen und wird von Butzbach als entscheidende Lebenswende empfunden und dargestellt. Dennoch ist das „Odeporicon“ keine Schilderung im Sinne einer Confessio des Augustinus‘. Butzbach gesteht zwar die ein oder andere Jugendsünde, aber nicht als bereuende Beichte, nicht verwoben ins Gebet, sondern mit Humor und zum Zwecke der Unterhaltsamkeit der Lektüre. Hierin wird ein gewisser Stolz für die individuellen Eindrücke und Erlebnisse deutlich, die in ihrer einzigartigen Gesamtheit erst zum vorbildlichen Leben als Mönch geführt haben. Distanzloses Selbstbewußtsein spricht aus dem Wanderbüchlein.

Butzbachs Leben und Bildungsweg sind aber in der Tat auch eine eigentliche Reise: Als fahrender Schüler reist er quer durch Deutschland und kommt sogar bis Böhmen, wo er mehrere Jahre lebt und erst durch Flucht ins Heimatland zurückgelangt. Der doppeldeutige Titel verweist aber auch sehr gezielt auf die oben beschriebene metaphorische Bedeutung und scheint Teil eines Rechtfertigungsversuchs zu sein: Denn wie kommt ein einfacher Mönch, der weder Epiphanes, noch Hagios ist, dazu, sein Leben niederzuschreiben? Im Vorwort, ebenso wie der Rest des Buches adressiert an seinen Halbbruder Philipp, erklärt Butzbach seine Unternehmung. Auf Bitten Philipps selbst geschehe die Niederschrift, aus didaktischen Gründen, damit der Bruder die Sprache der Kirchenväter leichter lerne, auf Latein verfaßt und zum Troste des Bruders. „Nun will ich Dir einen Spiegel vor Augen halten, damit Dir Dein Unglück neben dem meinigen erträglicher wird17„, heißt es im Schlußsatz des Vorwortes und gegen Ende des Buches: „Du hast einen Spiegel all meiner Leiden und meiner Armut vor Dir, den ich für Dich gemacht habe; wenn du dich immer wieder vor diesen begibst, so kannst du auch in Deinem Leid Trost daraus schöpfen.18

Ähnlich wie die Spiegelliteratur der Frühen Neuzeit nutzt Butzbach die Spiegelmetapher in Anlehnung an Augustinus und beschreibt damit seine Autobiographie. Dem jungen Philipp soll sie einen Spiegel vor Augen halten, in dem dieser sowohl sich selbst erkennt (aufgrund eines ähnlichen Bildungsweges), wie er ist, als auch sieht, wie er sein soll. Butzbach, das wird im dritten Teil des Buches überdeutlich, zielt nämlich mit seiner Autobiographie vor allem auch darauf ab, den Halbbruder als Benediktiner-Mönch nach Maria-Laach ins Kloster zu holen; Philipp soll seinem Halbbruder in den Orden nachfolgen. Er beschreibt das Kloster und seine Bibliothek in den höchsten Tönen, vergleicht es gar mit einem Paradies auf Erden und nennt die Brüder eine Heilige Gemeinschaft. So weiß er auch über den Prior, Jakob von Vreden, der seit der Klosterreformation im Amt war, folgendes zu berichten: „Er ist sozusagen ein Spiegel der Mönchsdisziplin für alle, weil er Tag und Nacht als leuchtendes Vorbild in allen guten Taten erscheint.19

Immer wieder holt Butzbach dem jungen Leser durch Zitate oder direkte Beschreibungen Vorbilder vor Augen (diesem Zweck dient auch der Gebrauch der Spiegelmetapher), versucht zur Lektüre zu motivieren, belehrt und spricht vom Nutzen des Studiums. Dies tut er nicht nur, weil sich das Studium ihm selbst durch seinen Lebensweg als richtiger Weg offenbart hat, sondern auch in seiner Funktion als Novizenmeister des Klosters Laach, eine Stellung, die Butzbach seit 1503 innehatte. Das Amt hatte die Ausbildung der Novizen zur Aufgabe, also derjenigen, die mit dem Wunsch, das Gelübte abzulegen, zunächst auf Probe in das Kloster eintraten. Diese jungen Männer lehrte der Novizenmeister die Lateinische Sprache, die Schriften der Kirchenväter, die Regula Benedictini und die klösterliche Ordnung im Allgemeinen. Er unterstützte sie auch bei ihren theologischen Studien auf ihrem ganz persönlichen Bildungsweg.

Butzbachs Biographie ist damit, ähnlich wie ein Großteil der Specula seiner Zeit, vor allem eine moral-didaktische Schrift, versteckt dies aber (vermutlich aus didaktischen Gründen20) hinter einer belustigenden, mit persönlichen Anekdoten ausgeschmückten Schilderung seines individuellen Bildungsweges. Dadurch baut Butzbach eine persönliche Bindung zu seinem Adressaten auf, dessen individuelle Lebensumstände er kennt und an denen er mit seinen Motivationsversuchen auf einer Vertrauensbasis gezielt ansetzen kann. Dies macht den Text aber nicht nur für Philipp Trunk interessant, sondern auch für Butzbachs Schüler, die Novizen Laachs, die das „Odeporicon“ zu Übungszwecken in Teilen lasen und abschrieben.

Diesen Schülern offenbart sich im Text ein einfühlsamer und erfahrener Lehrer, der die Bildung hochhält und gewillt ist, sich um jeden Einzelnen individuell zu kümmern. Das Buch ist ein Novizenspiegel, der die jungen Männer und werdenden Mönche auf ihrem Bildungsweg begleiten soll. Es zeigt, daß der Lehrer Butzbach einst ein Schüler war, wie sie, daß er mit Problemen kämpfen und Ängste bewältigen mußte, wie sie, daß er es geschafft hat, auf den richtigen Weg zu kommen und daß demzufolge auch sie das schaffen können und sollen.

5. Zusammenfassung

Johannes Butzbachs autobiographische Schrift „Odeporicon“ faßt in sich verschiedene Charakteristika der Spiegelliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts zusammen. Es ist didaktischer Natur, vereint in sich laikale und klerikale Bildung und verwendet sogar die Spiegelmetapher im Sinne von Beispiel, Vorbild, Muster, wenn auch nicht im Titel. Das „Odeporicon“ ist selbst ein Spiegel, es zeigt ein Abbild der Welt, wie sie war (was es für Historiker heute noch interessant macht) und wie sie sein sollte. In diesem Sinne wird es auch der Vorstellung des Heiligen Augustinus von der Schrift als Spiegel von Realität und Ideal gerecht. Die Butzbachsche Autobiographie ist damit individueller Lebensrückblick; das geschilderte Leben Beispiel und Vorbild zugleich, etwas dem ein jeder nacheifern kann, ohne dabei Unmögliches vollbringen zu müssen, weil ihn aus dem Spiegel ein gewöhnlicher Mensch anblickt.

Das „Odeporicon“ ist zugleich Spiegel eines neuen Zeitgeistes, in dem der Mensch sich als Individuum erkannt und erfahren hat und dieser Individualität mit Stolz und Selbstbewußtsein begegnet. Es scheint fast, als hätten die Ausbreitung des Schrifttums und die humanistisch-reformatorischen Bemühungen um Bildung zu einer neuen Spiegelerfahrung des Menschen geführt, einer neuen Begegnung mit dem Selbst. Eventuell, um auf Ecos Spiegel-Zeichen-Dilemma zurückzukommen, sind aber gerade diese auch eher Resultat einer Spiegelerfahrung.

Okt. 2007

6. Bibliographie

An dieser Stelle folgt eine Auflistung der in dieser Arbeit angeführten, zitierten und zu Recherchezwecken verwandten Literatur.

  • P. Dinzelbacher: Sachwörterbuch der Mediävistik, Stuttgart, Kröner, 1992; Stichworte: Metapher/Metaphorik S. 529f., Spiegel/Spiegelliteratur S. 769f.
  • J. Huizinga: Niedergang des Symbolismus, in: Herbst des Mittelalters, ders., Stuttgart, Kröner, 197511, Kapitel XV, S. 285ff.
  • Ch. Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a.M. [u.a.], Lang, 2003
  • U. Eco: Über Spiegel und andere Phänomene, dtv, München, 19933
  • G. Kaiser: Narzissmotiv und Spiegelraub, in: Neidhart, Horst Brunner [Hrsg.], Darmstadt, wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986
  • Gunhild Roth: „Speculum-/Spiegelliteratur. Zu Gattungsfrage, Textsorten und Einzelwerken. Versuch eines Überblicks“, Münster (noch unveröffentlicht)
  • Joahnnes Butzbach: Odeporicon. Wanderbüchlein, Aus dem Lateinischen übertragen und mit einem Nachwort von Andreas Beriger, Zürich, Manesse Verlag, 1993
  • Bradley, Sister Ritamary, C.H.M.: Backgrounds of the Title Speculum in Mediaeval Literature, Speculum 29 (1954), p. 100-115
  • http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel (Version 14.10.07)
  • http://leifi.physik.uni-muenchen.de/web_ph07_g8/geschichte/02spiegel/pm.htm (Version 14.10.07)

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  1. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“, 1 Kor. 13,12
  2. Dinzelbacher 1992, S. 769
  3. Eco 19933, S. 29
  4. http://leifi.physik.uni-muenchen.de/web_ph07_g8/geschichte/02spiegel/pm.htm
  5. Dinzelbacher 1992, S. 769
  6. „Nichts ist bei Gott leer oder zeichenlos.“, Irenaeus: Adversus haeresis libri, V, lib. IV cap. 213
  7. Eco 1993³, S. 27
  8. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik § 50
  9. Eco 1993³, S. 27
  10. Leuchter 2003, S. 97
  11. ebd.
  12. Auf das Dilemma der Zuschreibung des Narzißliedes und dessen Überlieferung geht ausführlich Christoph Leucher im Kapitel 3.5 „Das ‚Narzißlied'“ seiner Dissertation „Dichten im Uneigentlichen“ 2003 ein.
  13. Kaiser 1986, S. 323
  14. „Alles, was nämlich hier aufgeschrieben steht, ist uns ein Spiegel“, Augustinus: Ennaratio in Psalmum XXX Sermo III (Pl, XXXVI, 248
  15. Giovanni Sercambi: Novelle. A cura di Giovanni Schiropi, vol. 1, Bari 1972 (Scrittori d’Italia, N.250)
  16. Butzbach/Beriger 1993, S. 6
  17. ebd., S. 9
  18. ebd., S. 278
  19. ebd., S. 268
  20. „Denn Erstens, das mit Heiterem geschmückt ist, gefällt uns mehr, […], weil es angenehmer ist, beim Studium Abwechslung zu haben“, schreibt Butzbach als Erklärung in seinem Vorwort, Butzbach/Beriger, 1993, S. 8

And gladly so…

Montag, 15. Oktober 2007

Es gibt Zitate, die können uralt und trotzdem hochaktuell sein. William Shakespeare in Julius Cesar:

Beware of the leader who bangs the drums of war in order to whip the citizenry into patriotic fervor, for patriotism is indeed a double-edged sword. It both emboldens the blood, just as it narrows the mind. And when the drums of war have reached a fever pitch and the blood boils with hate and the mind has closed, the leader will have no need in seizing the rights of the citizenry, [who] infused with fear and blinded by patriotism, will offer up all of their rights unto the leader and gladly so. How will I know? For this I have done. And I am Julius Caesar.

Zum selben Thema hatte übrigens auch Hermann Goering etwas zu sagen, am 18. April 1946 während der Nürnberger Prozesse in der Gefängniszelle zu seinem Gerichtspsychologen:

[…] Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.

Macht hat offenbar nie anders funktioniert als heute und das Volk folgt folgsam.