Die Wurzeln der Bohème im Spätmittelalter
„Fumeux fume par fumee, fumeuse speculation“, lautet der Refrain eines außergewöhnlichen Rondeaus aus dem späten 14. Jahrhundert. Überliefert ist es im Codex Chanitlly (Musée Condé) unter dem Namen Solage (ich lese Solige). Über Solage, den Komponisten und vermutlich Dichter des Stückes, ist nicht viel bekannt, außer dem, was uns die Texte seiner Lieder offenbaren. Im Falle „Fumeux“ fragt man sich eventuell, was Solages Zeitgenossen damals wohl geraucht haben mögen, als Tabak in Mitteleuropa noch gar nicht bekannt war und die musikalische Anlage läßt zunächst einen Opium- oder Haschischrausch vermuten. Der Text hält aber mehr bereit.
Eifrige Romanisten haben nämlich herausgefunden, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Anspielung auf die „Chartre des Fumeux“ des französischen Dichters Eustache Deschamps handelt. Dieser verfaßte die Charta im Dezember 1368 als eine Art Manifest der exzentrischen Literatengruppe der „Fumeux“, die sich zum gemeinsamen Debattieren über Musik, Literatur und Sprache bei genüßlicher Einnahme bewußtseinserweiternder Substanzen traf. Es ist unklar, ob diese Clique nur eine künstlerische Idee des Dichters ist oder ob sie tatsächlich existierte. Fakt ist aber, dass im direkten Umfeld Eustaches Deschamps die Namen einer ganzen Reihe interessanter Literaten auszumachen sind und dass wir auf eine Zeit der literarischen Emanzipation zurückschauen.
Dante, Petrarca, aber auch Froissart und Chaucer fingen an, weltliche, von Musik unabhängige Lyrik in ihrer Nationalsprache zu verfassen. In Frankreich hatten die Lieder des Dichterkomponisten Guillaume de Machaut neue Maßstäbe gesetzt. Deschamps bezeichnete sich selbst als Machauts Neffe und war wohl auch in seiner Lehre, als dieser Kanon in Reims, der traditionellen Krönungsstadt der französischen Könige, war. Machaut hatte zunächst einige hohe Ämter bei Johann von Luxemburg inne, der Sohn des deutsch-römischen Kaisers, Heinrich VII, und selbst König von Böhmen war. Befreundet war Machaut auch mit dem späteren König Karl V., unter dessen Protektorat nun zufällig auch Eustache Deschamps und der Vater einer gewissen Christine de Pizans standen. Diese emanzipierte Autorin, Christine, ist nicht nur eine weitere Protagonistin unseres Pariser Literatenkreises, sondern auch frühe Feministin. Sie befaßte sich lange vor der Renaissance mit Studien der Antike und humanistischem Gedankengut, regte 1399 eine literarische Debatte um die Frauenverachtung im „Roman de la Rose“ an und verfaßte vor ihrem Tod die älteste, mir bekannte Utopie einer Gesellschaft, die Frauen gleiche Rechte gewährt. Sie hatte viele Gönner, u.a. Karls Bruder Johann, Graf von Berry, der Kunsthistorikern als bibliophiler Auftraggeber diverser, heute unbezahlbarer Handschriften bekannt sein dürfte, allen voran seine von den Brüdern Limburg illuminierten Très Riches Heures.
Ein weiterer Bruder Karls war Philipp II. der Kühne, Herzog von Burgund, auf dessen Umfeld einige Lieder unseres ersterwähnten Chantilly-Meisters Solage verweisen. Es ist daher anzunehmen, dass Solage unter Philipps Protektorat und damit ebenfalls in direkter Verbindung zu unserem Pariser Literatenkreis stand. Die Überlieferung zeigt jedenfalls mit Machaut, Deschamps, Pizan und Solage vier Gestalten, die sich allesamt im gehobenen Kreis der französischen Prinzen bewegten und deren künstlerischer Output für ihre Zeit außergewöhnlich exzentrisch und individuell war. Eventuell waren sie ja Teil der von Deschamps idealisierten „Fumeux“.