Symbolismus
SYMBOLISMUS (ca. 1870 – 1900)
kulturhistorische Hintergründe
Der Symbolismus ist eine literarisch-geistige Strömung die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend seit 1890 in ganz Europa verbreitete. Die relativ homogene Gruppe der Symbolisten wandte sich gegen die vorherrschende Wissenschaftsgläubigkeit (Sientismus), den flachen Fortschrittsoptimismus und den positivistischen Empirismus der bürgerlichen Welt, die besonders durch den Erfolg der Pariser Weltausstellung (1889) etabliert worden waren. In deutlicher Abkehr von der objektiven Wirklichkeitswiedergabe des Naturalismus und Realismus und der Beschreibungslyrik der Parnasse durchbrachen sie mit ihren Prinzipien die normativen Traditionen der Académie française und wurden so zu Wegbereitern der literarisch-künstlerischen Moderne. Sie setzten sich gegen die Zweck- und Anlaßgebundenheit und die Funktionsbestimmung von Kunst zu Wehr (L’art pour l’art) und lehnten sich im Versuch der Poetisierung einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt gegen alle Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft und deren Moral auf.
Inhalte/Ziele
Die Gemeinsamkeiten der Vertreter des Symbolismus liegen eher auf thematisch-geistiger Ebene, eher im Lebensgefühl als auf stilistischen Merkmalen. Die Poeten zielten in erster Linie auf die Erneuerung der Lyrik (im Gegensatz zum realistischen Roman), deren Hauptwerte auf kunstvoller Form, Klang und Wortmagie lagen. In ihrer Abkehr von der realistischen Beschreibung des Objekts und ihrem Streben nach einer perfekt schönen Dichtersprache (poésie pure) bevorzugen sie das Schaffen von Kunst aus der Erinnerung, der Vorstellungskraft. Hinter den Dingen, Erscheinungen, Wortfassaden und Sprachgesten sollen tiefere, verborgenere Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität erschlossen werden. Dies gipfelt in dem Versuch, Hintergründiges, Irrationales und Geheimnisvolles vernehmbar zu machen; so ist das Irdische nur Symbol für die jenseitige, eigentliche Welt. Das künstlerische Ideal des Symbolismus strebt eine weitestgehende Autonomie der Symbole an, deren Betonung im bewußten Abstand der Sprachzeichen zu deren konventioneller Bedeutung liegt. Dies führt zur Problematisierung der im unpoetischen Sprachraum vorherrschenden Eindeutigkeit der Sprache und eröffnet dem Leser einen neuen, breiteren Deutungsspielraum, der z.T. in einer tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt.
Themen/Bilder/Ästhetik
Die Lyrik des Symbolismus thematisiert vorallem die Diskrepanzen der menschlichen Seele, ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung; dies äußerst sich z.B. in der Darstellung diverser Dualismen: Aufschwung und Verzweiflung, Reinheit und Schmutz, Genuß und Ekel, Spleen und Ideal, etc. In ihrer Symbolhaftigkeit und Musikalität wendet sich die lyrische Sprache an die suggestive Aufnahmefähigkeit des subjektiven Menschen. Traum- und Alptraumbilder überlagern sich, Rauscherlebnisse werden ästhetisiert, die Spannbreite der Äußerungen reicht von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit.
Gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, findet der poète maudit durch die Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satansichen“ Charakters den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft okkultgefärbten Ästhetizismus. In einer autonomen Idee des Schönen und nach dem PrinzipL’art pour l’art wird der Dandy zur literarischen Leitfigur. Ihm entgegen steht die femme fatale, die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis. Sie erscheint in zahlreichen Symbolgestalten, als Chimäre, Sphinx oder Salomé.
Künstlerideal
In seinem Essay, „Le peintre de la vie moderne“ (1863), manifestiert Charles Baudelaire das moderne Künstlerideal im Bild des mit den Eindrücken und Erinnerungen fechtenden Dichters. Kunst würde sich aus der Spannung zwischen Ewigem und Vergänglichem speisen. Damit die Reizüberflutung der Moderne (Schockerlebnisse durch Eindrücke, die beim Flanieren durch die Großstadt das Bewußtsein des Menschen treffen) nicht zur Orientierungslosigkeit wird, muß der Dichter am Abend das Erleben von Ewigem und Vergänglichem in einem Kampf mit den Impressionen der Erinnerung reflektieren. Dabei isoliert er das Ewige vom Vergänglichen. Das latent Schöne in allen Dingen wird herausgearbeitet und idealisiert. Im Schaffensprozess werden die Erinnerungen an Erlebtes fixiert und durch die Verdichtung des latent Schönen entsteht wahre (künstliche) Schönheit.
Leitbegriffe
- l’art pour l’art: Kunst um der Kunst Willen; ästhetisches Prinzip nach dem das Kunstwerk als eigengesetzlich, eigenwertig und frei von allen Bindungen religiöser, ethischer und politischer Art betrachtet wird
- poète maudit: der verfluchte Poet, dessen Trauer und Unzufriedenheit aus der unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach Ganzheit entsteht; Selbsdefinition der symbolistischen Dichters
- poésie pure: reine, formvollendete, ästhetisch-schöne und autonome Dichtersprache; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter
- vers libre: der freie Vers, eine Mischung aus Prosa und Lyrik, dessen Freiheit nicht in seiner Beliebigkeit, sondern in der Umsetzung der poésie pure gesehen wird
- Dandy: literarische Leitfigur, die dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt
- femme fatale: die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis des Mannes
- fin de siècle: Bezeichnung für die Zeit der Jahrhundertwende, in der auch mit der Strömung der Decadence die Ästhetisierung einer Endzeit- und Katastrophenstimmung aufkam; findet ihren theoretischen Ausdruck vorallem in der Formulierung der Krise
- Autonomie der Symbole: die Symbolhaftigkeit der Sprache geht über die Grenzen der bildhaften Darstellung abstrakter Begriffe und Vorstellungen hinaus und führt zur Mehrdeutigkeit; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter
Stilmerkmale
- autonome Symbole
- beinahe fanatische Ausarbeitung der sprachkünstlerischen Mittel: Sprachdichte, Suggestion, Assoziation, Rhythmus, Verflechtung mehrerer Bewußtseinsebenen
- Auswahl von Wörtern mit assoziativer Klangwirkung
- sprachkünstlerische Akzentuierung von Rhythmus, Melodie, Satzbau in der poésie pure
- Ineinanderfließen und Überlagern von Bildern und Metaphern
- Herstellung von Synästhesien, die auf sprachmagische Weise, durch Lautmalerei, Klangfarbe und Sprachmusik Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren
- Allegorismus
- Esotherik
- Exotismus
- Erotizismus
- schwarze Religiosität („Satanismus“)
- Stilisierung der Weltentrückung durch den Drogenrausch: hauptsächlich Opium, Haschisch und Absinth
Wegbereiter/Vertreter/Anhänger
- W. Blake [1757 – 1827] (England)
- E.A. Poe [1809 – 1849] (England)
- A.C. Swinburne [1837 – 1909] (England)
- O. Wilde [1854 – 1900] (England)
- Ch. Baudelaire [1821 – 1867] (Frankreich)
- S. Mallarmé [1842 – 1898] (Frankreich)
- P. Verlaine [1844 – 1896] (Frankreich)
- A. Rimbaud [1854 – 1891] (Frankreich)
- J. Moréas [1856 – 1910] (Frankreich)
- E. Verhaeren [1855 – 1916] (Belgien)
- J.K. Huysmans [1848 – 1907] (Frankreich; Roman)
- M. Maeterlinck [1862 – 1949] (Belgien; Drama)
- G. d’Annunzio [1863 – 1938] (Italien)
- in Dtl. traf der Symbolismus mit der Neuromantik und dem Impressionismus zusammen (u.a. bei E.T.A. Hoffmann)
weiterführende Literatur
- Jean Moréas „Mannifeste du Symbolisme“ in Le Figaro, 1886
- R. Delevoy „Der Symbolismus in Wort und Bild“, Skira. Stuttgart 1979
- B. Delavaille „La poésie symboliste“, Paris. Sehgers 1971
- A.G. Lehmann „The Symbolist Aesthetic in France. 1885 – 1895“, Basil. Blackwell. Oxford 1950
- P. Hoffmann „Symbolismus“, Fink. München 1987
- A. Simonis „Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne“, Niemeyer. Tübingen 2000
Quellen:
- M. Naumann (Hrsg.) „Lexikon der französischen Literatur“, VEB Bibliographisches Institut. Leipzig 19871
- „Bertelsmann Lexikon. In 15 Bänden“, Band 14. Stick-Venn, Bertelsmann Lexikothek Verlag GMBH. Gütersloh 1991F
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Am Gedicht „L’Albatros“ von Charles Baudelaire habe ich eine Beispielinterpretation mit Hauptaugenmerk auf der Herausarbeitung symbolistischer Stilmerkmale gemacht.
Januar 1st, 2006 18:03
Zwei Fragen an die Autorin:
Wissen Sie Näheres über einen französischen Dichter des Symbolismus namens Saint Pol Roux? Das letzte sichtbare (und sicher unfreiwillige) Zeichen seiner Suche nach der Darstellung einer Welt hinter der sichtbaren ist die Ruine seines Landhauses (Halbinsel Crozon, Bretagne, im 2. Weltkrieg zerbombt), in deren Betrachtung man sich verlieren kann, da sie selbst sprachlich nicht Ausdrückbares zu bedeuten scheint?
Können Sie etwas zu möglichen Querbeziehungen zwischen Symbolismus und dem Philosophieren Ludwig Wittgensteins sagen („Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. .. Die Philosophie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt“)?
Über eine Antwort würde ich mich freuen
Januar 1st, 2007 19:10
Hm, also ich verstehe nicht, worauf deine Fragen nun genau abzielen, deshalb könnte ich alles und nichts antworten. Ich habe zumindest den Namen Paul Roux schon gehört und weiß, dass er ein Anhänger Mallarmés war und was Wittgenstein betrifft, so liegt die Beziehung wohl in der zeitlichen Nähe und dem Umstand, dass man in dieser Zeit das Potenzial der Sprache neu zu bedenken begann. Ich glaube aber, dass Wittgenstein mit seiner Sprachkritik andere Ziele verfolgte als die Symbolisten, denen es über das Begriffliche hinaus vor allem auch um den einlullenden Effekt der formalen Sprache ging.
Juli 21st, 2010 09:11
Hallo,
nur ganz kurz zu Saint-Pol-Roux, dessen 150. Geburtstag wir nächstes Jahr gedenken – unter wikipedia.de und burkart-verlag.de gibt es mehr Informationen zu diesem singulären Dichter und Denker.
Weiterhin gutes Gelingen! LG rab
September 18th, 2010 12:55
Ich hatte doch zu Saint-Pol-Roux gar nichts geschrieben. Aber gut in der Wikipedia gibt es (noch) eine ganz Menge Infos zu verschiedensten Dichtern & Denkern. Lohnt sich auf jeden Fall, da mal reinzuschauen. 😉
Mai 19th, 2011 10:48
Hallihallo!
Sehr anregender Text! Das einzige, was ich vermisse, ist die Technik des Verweisens, die Baudelaire im Gedicht „Correspondances“ (aus Les Fleurs du Mal) veranschaulicht hat und die wohl auch den Kern des sog. „Dinggedichts“ ausmacht: es geht dem Symbolisten vorrangig um etwas anderes als das konkret im Gedicht Beschriebene!
Und noch ganz wichtig: poète maudit___ (Der Poet ist auch im Französischen männlich…)
Liebe Grüße von einer angehenden Deutsch-/Französischlehrerin im 1. Staatsexamen
Juni 7th, 2011 10:22
Oh, danke für den Tipp mit maudit_. Das änder ich gleich mal. 😉
Den Begriff „Dinggedicht“ finde ich gefährlich, der ist mir schon so oft untergekommen und immer wieder in hundert verschiedenen Epochen. Was ist ein „Dinggedicht“ und was ist es nicht? Geht es um Dingbedeutung oder geht es um embodyment? Wenn du magst kannst du das, was d.E. fehlt, ja hier noch ergänzen oder einen weiterführenden Link setzen oder sowas.