Aussprache des Mittelhochdeutschen
Als Mediaevistin bin ich ja oft mit der Frage, „Und was kann man damit später mal machen?“, konfrontiert. Eine absolut naheliegende und logische Antwort darauf ist, dass man damit schon jetzt sehr gut besserwisserische Kommentare bezüglich der Aussprache mittelhochdeutscher Liedtexte abgeben kann. Und wer jetzt glaubt, in solche Verlegenheit komme man sowieso nie, der wird sich spätestens dann wundern, wenn er (wie ich derzeit mal wieder) in Chorproben sitzend die Carmina Burana von Carl Orff einstudiert. Diese enthält nämlich neben überwiegend mittellateinischen auch einige mhd. Texte, zu deren Aussprache dann immer viele Experten ihre Meinung kundtun. Diesen will ich mich hiermit anschließen.
Vorbetrachtungen
Das Phonemsystem des Mittelhochdeutschen (einer Sprachstufe in der Zeit von ca. 1050-1350) ist Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion und resultiert aus der sogenannten 2. Lautverschiebung. Im Zuge dieser 2. LV hat sich das Hochdeutsche (im Unterschied zum Niederdeutschen) aus dem westgermanischen Sprachverband abgespalten, was sich an einigen Lautwandelerscheinungen nachvollziehen läßt.
Um die im Folgenden aufgeführten Aussprachekonventionen richtig beurteilen zu können, ist es zunächst wichtig, sich über drei Dinge klar zu werden: 1. Es gab in der Zeit zwischen 1050 und 1350 keine regional übergreifende, mittelhochdeutsche Einheitssprache, sondern eine Sammlung an Dialekten. 2. Alle Mutmaßungen hinsichtlich deren Aussprache basieren auf wenigen Quellen, die diese dialektalen Mundarten mithilfe eines fremden (nämlich des lateinischen) Alphabets exemplarisch fixieren. 3. Diese graphische Fixation folgt in der Rechtschreibung keiner Normierung und variiert nicht nur von Text zu Text, sondern oftmals sogar von Vers zu Vers. Dadurch dass man aber „schrieb wie man sprach“ lassen sich teilweise Rückschlüsse auf das Phonemsystem ziehen. Vieles bleibt dennoch strittig. Thordis Hennings1 schreibt dazu:
Bei der Bezeichnung „Mittelhochdeutsch“ [handelt es sich] an und für sich um einen Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Schreibdialekte in sich vereint. Aber bis zum Zenit der höfischen Dichtung um die Wende vom 12./13. Jh. entwickelte sich so etwas wie eine überregionale höfische Dichtersprache, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dialektale Besonderheiten stark zurückgedrängt werden. Diese mhd. klassische „Einheitssprache“ beruht vor allem auf allemannischer und ostfränkischer Grundlage.
Hennings Aussage muß relativiert werden. Der Eindruck von Einheit entsteht in der Retrospektive evtl. nur aufgrund der Überlieferungslage höfischer Dichtung und den daraus erwachsenen Interessenschwerpunkten der historischen Sprachwissenschaft. Er muß sich bei eingehender Betrachtung ripuarischer und thüringischer Quellen der geistlichen oder bürgerlichen Literatur nicht zwangsläufig bestätigen. Für unsere Carmina Burana ist dies nur von marginaler Bedeutung. Denn die Handschrift des Codex Buranus wurde im bairischen Sprachraum, also in unmittelbarer dialektaler Nähe zum Alemannischen und Ostfränkischen niedergeschrieben und enthält Texte, die u.a. Walther von der Vogelweide zugeschrieben werden, der ebenfalls in diesem Sprachraum tätig war.
Es kann demnach nicht vollkommen verkehrt sein, sich mit der Aussprache der mittelhochdeutschen Liedtexte der Carmina Burana an den von Sprachhistorikern aufgestellten Konventionen für das „klassische“ Mittelhochdeutsch zu orientieren. Hierbei gilt, dass sich im gesamten oberdeutschen Sprachraum (alemannisch, bairisch, ostfränkisch und südrheinfränkisch) die 2. Lautverschiebung vollständig vollzogen hat. Man sagt dort auch heute noch ich und Apfel und nicht wie im niederdeutschen Berlin ick und Appel.
Zur regionalen Verteilung der hochdeutschen Mundarten s. Karte südlich der Benrather Linie. (Quelle: Uni Wien)
Aussprache des Mittelhochdeutschen
Die meisten mittelhochdeutschen Textausgaben sind (wenn auch mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Akribie) in ihren Schreibweisen normalisiert, so dass sich die phonetische Ausführung von Silben und Worten aus der graphischen Umsetzung „ablesen“ läßt. Ich erkläre die Aussprache deshalb zunächst an den üblichen Graphemen, später dann an den Texten der Carmina selbst.
- /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /ä/, /ö/, /ü/: Kurze Vokale sind beim Sprechen deutlich von langen zu unterscheiden. Durch die Existenz kurzer, offener Tonsilben unterscheiden sich das Mhd. geradezu charakteristisch vom Neuhochdeutschen. Es heißt im Mhd. tac [tack], nemen [nemmen], vil [fill], loben [lobben] und tugent [tuggent]. Ebenso verhält es sich mit den kurzen Umlauten.
- /â/, /ê/, /î/, /ô/, /û/, /æ/, /œ/, /iu/ (iu = langes ü): Im Unterschied dazu gibt es einige lange Vokale, die in den meisten Ausgabe durch Zirkumflex ^ gekennzeichnet sind. Fehlt diese Kennzeichnung (wie oftmals in unserer Notenausgabe der Carmina Burana) muß man auswendig wissen, welche Worten lange Vokale enthalten. (Tipp: Die kurzen Vokale überwiegen.) Es heißt im Mhd. dâhte [daachte], gelêret [gelehret], mîn [mien], sô [soo] und ûf [uhf]. Die langen Umlaute werden als Ligaturen geschrieben und sind daran zu erkennen, wobei die Kombination /iu/ für das lange /ü/ steht. Es heißt im Mhd. swære [ßwääre], hœren [höören] und triuwe [trüüwe].
- /ei/, /ou/, /öi/, /ie/, /uo/, /üe/: Die Diphtonge sind deutlich zweitonig zu sprechen, verschmelzen aber zu einer Silbe. Dabei liegt die Betonung auf dem ersten Vokal und fällt nach hinten ab, ähnlich wie es im heutigen Bairisch gesprochen wird. Es heißt im Mhd. ein [éyn], schouwe [schóuwe], vröide [fröide], dienest [díenest], buoch [búoch] und süeze [süeße].
- /h/, /lh/, /rh/, /ht/, /hs/: Das Graph /h/ ist im Anlaut und zwischen Vokalen ein zum Nhd. identischer Hauchlaut (wie in Herr und sehen). In den Kombinationen /lh/, /rh/, /ht/ und /hs/ versteht es sich jedoch als gutturaler Reibelaut. Damit ist evtl. immer der velare Ach-Laut [x] gemeint. In Verbindung mit vorderen Vokalen (e, i, ü) und Sonanten (l, r) könnte es aber schon zu einer Palatalisierung als Ich-Laut [ç] gekommen sein. Der durchgehend velare Gebrauch ist heute nur in der Schweiz, jedoch nicht im bairischen Sprachraum üblich. Ob er es damals war, ist unklar.
- /z/: Das Graph /z/ wird im Anlaut und nach einem Konsonanten als Frikativ [tz] gesprochen, z.B. in zuo [tzuo] oder herze [hertze]. In den übrigen Fällen steht es für ein stimmloses /s/, dass dem nhd. /ß/ oder /ss/ entspricht, wie in daz [daß] oder wazzer [wasser].
- /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/, /sw-/: Das Graph /s/ wird in den Kombinationen /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/ und /sw-/ nicht palatalisiert, es gibt also anders als im Nhd. hier keinen Zischlaut. Es heißt im Mhd. spil [ßpill] und swære [ßwääre].
- /w/: Bezüglich der Aussprache des Graphs /w/ (=/uu/, /vv/) gibt es zwei Meinungen. Die eine Schule möchte es als dentalen Reibelaut wie nhd. Wasser hören, die andere als Halbvokal [ɥ] wie im engl. water. Ich persönlich schließe mich wegen der Weiterentwicklung des /w/ im Nhd. dieser zweiten These an, da mhd. frouwe im Nhd. nicht zu Fraw, sondern zu Frau geworden ist.
Mhd. Texte der Carmina Burana
Man erkennt, dass unsere Notenausgabe2 der Carmina Burana keine wissenschaftlich normalisierten Texte enthält. Der Gebrauch des Graphs /h/ in Endpositionen wechselt mit /ch/, einige lange Vokale sind durch Zirkumflex gekennzeichnet, auf anderen fehlen die Längenzeichen, Elisionen (bes. Vokalhiats und stumme e’s) sind nicht gekennzeichnet und in der 2. Strophe von „Chume, chum, geselle min“ ist noch ein Abkürzungszeichen (die Tilde über dem n) übernommen, das in ein Dentalsuffix aufgelöst werden muß.
Ich habe die langen und kurzen Vokale der wichtigen Wörter mit dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Niemeyer3 abgeglichen, um hier eine Sicherheit hinsichtlich ihrer Aussprache zu bekommen. Das /eu/ in freudenriche ist der normalisierten Form von vröide/vröude angepaßt und wird auch so gesprochen. Ich speche alle /w/ als Semivokale, alle /ch/ hinter vorderen Vokalen als Ich-Laut – das kann man aber halten, wie man will. Um sich die mp3s anzuhören, reicht es, in der Flashanimation auf den Play-Button zu klicken.
7. Floret silva
Floret silva undique,
nah mime gesellen ist mir wê.
Gruonet der walt allenthalben.
wâ ist min geselle alse lange?
der ist geritten hinnen.
owî, wer sol mich minnen.
[nach (x) miem (i lang, e stumm) gesellen ist mirr (i kurz) weh
gru-onet (Diphtong, aber o unbetont) der walt allenthalben
wa ist mien (i lang) geselle allse lange
der ist geritten hinnen
owie, wer soll mich minnen]
8. Chramer, gip die varwe mir
Chramer, gip die varwe mir,
die min wengel roete,
da mit ich die jungen man
an ir dank der minnenliebe noete.
Seht mich an, jungen man!
lat mich iu gevallen.
Minnet, tugentliche man,
minnecliche frouwen!
minne tuot iu hoch gemuot
unde lat iuch in hohen eren schouwen.
Wol dir, werlt, daz du bist
also freudenriche!
ich will dir sin undertan
durch din liebe immer sicherliche.
[Kramer (a lang) gipp di-e (diphtong) farwe mirr
di-e mien wengel röte (ö lang)
da mit ich di-e jungen mann
ann irr dank der minnenli-ebe (kurz) nöte (ö lang)]
\\ (oder „aan irr dank“, wenn „gegen ihren Willen“)
[Seht mich an, jungen mann
latt mich ü (ü lang) gefallen]
[minnet tuggentliche (u kurz) mann
minnecliche frouwen
minne tu-ot ü (lang) hoch gemu-ot
und (e stumm) latt üch (ü lang) in hohen (o lang) ehren (e lang) scho-uwen]
[woll (o kurz) dirr wärlt daß du bist
allso fröidenrieche (-rieche i lang)
ich will dirr sien undertann
durch dien li-ebe immer sicherliche]
Swaz hie gat umbe
Swaz hie gat umbe,
daz sint allez megede,
die wellent an man
alle disen sumer gan!
[ßwaß hi-e gaat (a lang) umbe
daß sint alleß megede (e kurz)
di-e wellent aan (a lang) mann
alle disen (i kurz) summer (u kurz) gaan (a lang)]
Chume, chum geselle min
Chume, chum, geselle min,
ih enbite harte din.
Suzer rosenvarwer mund,
chum uñ mache mich gesunt
[Kumme, kumm (u kurz) geselle mien (i lang)
ich enbiete (i lang) harte dien (i lang)]
Sußer (u lang) rosenfarwer (o lang) munt (u kurz, t scharf)
kumm und (mit nd) mache mich gesunt]
10. Were diu werlt alle min
Were diu werlt alle min
von deme mere unze an den Rin,
des wolt ih mih darben
daz diu chünegin von Engellant
lege an minen armen.
[werre dü wärlt alle mien (i lang)
von demm (e stumm), meer-unß (elang, hiat) an denn Rien (i lang)
des wollt ich mich darben
daß dü (ü lang) künneginn (ü kurz) von Engellant (ng nasal)
legge (e kurz) an mienen (i lang) armen]
Eselsbrücke
Als kleine Eselsbrücke bezüglich der /i/-Längen kann man sich merken, dass alle mhd. /i/ lang gesprochen werden, wenn ihre nhd. Entsprechungen zu einem /ei/ geworden sind. Also mhd. mîn wird nhd. mein, deshalb ist das /i/ im mhd. Wort ein langes /i/, ebenso mhd. vröidenrîche → nhd. freudenreich. Das /i/ ist hingegen kurz, wenn im nhd. Wort noch immer ein /i/ (kurz o. lang) steht.
__________
- Thordis Hennings: Einführung in das Mitelhochdeutsche. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, NewYork, 2003
- Carl Orff: Carmina Burana. Cantiones Profanae. cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis, Klavierauszug von Henning Brauel [ed.], Schott 1996, ED 2877
- Beate Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Christa Hepfer u. Wolfgang Bachofer (Co.-Red.), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 20014
Januar 25th, 2009 09:20
hallo 🙂
das ist sehr interessant
ist das mittelhochdeutsche dem plattdeutschen und auch dem ostfriesischem platt ähnlich? ich hatte die texte mit dir mitsprechen können. darüber war ich etwas verwundert. große unterschiede empfand ich nicht und erzeugte kurzlaute gibt es auch im norddeutschen plattdeusch.
du hattest ja gesagt das es der mundart unterliegt, mich wundert aber das da solche ähnlichkeiten bestehen, auch zu meiner hausbezogenen mundart. das es natürlich abweichungen gibt ist deutlich, aber im grunde genommen fallen die nicht sehr ins gewicht, oder doch?
ich hab auf dem dichterplaneten ein gedicht vertont das „Shietwedder“ heißt, wo du die aussprache hören kannst…ich wollte keinen link setzen weil ich nicht weiß ob du das gerne siehst. würde mich aber freuen wenn du da mal reinhörst und mir hier oder sogar auf dem planeten selbst, deine meinung dazu abgeben könntest.
Meen Keue schloppen achtern Diek in staan
un achter se, dor steit de kole Waater,
steit denno nemols ruhi un Wellen schlein,
se schlein sik hoch un överschlein sik nöcher.
meen wird wie mien gesprochen
staan wird wie stoan gesprochen
es fallen viele wortlaute sogar weg
und ist un/ se ist sie/ dor ist dort
es gibt auch klangliche abweichungen wie
stei für steht/nemols für niemals
v=b/ k=ch
ich bin mit der sprache aufgewachsen und mag sie sehr gerne, nach der wirkung oder dessen ursprung hab ich eigentlich nie gefragt…was man sein leben lang macht, kommt einem ja meist als recht beiläufig vor und fällt der normalität anheim.
das ist die erste strophe davon, es gibt natürlich unterschiede, aber in der aussprache sind die nicht allzugroß wie ich fand. das hat mich reinst verwundert.
und auch sehr angesprochen.
wahrscheinlich ist plattdeutsch eine abart des mittelhochdeutschen? wenn ich raten müsste würde ich ja sagen. 🙂
glg pringles
Januar 28th, 2009 14:22
Na ja, das Mittelhochdeutsche ist dem Plattdeutschen immerhin darin ähnlich, dass es sich um deutsche Sprache handelt. Ansonsten gibt es aber sehr gravierende Unterschiede, die sich vor allem daraus ergeben, dass Platt ein niederdeutscher Dialekt ist und deshalb die 2. LV nicht vollzogen hat (im Gegensatz zum Mhd.). Nun kenne ich mich mit der Aussprache der niederdeutschen Dialekte des Mittelalters nicht besonders gut aus und sowohl die nieder- als auch die hochdeutschen Dialekte haben ja dann nochmal eine 500jährige Sprachentwicklung bis heute durchgemacht. Ich bezweifle, dass heute noch alles so gesprochen wird, wie damals. Natürlich leuchtet z.B. die Aussprache von /ee/ als [i:] im Plattdeutschen ein, weil es im Englischen auch so ist, etc. Aber wie genau da die Verhältnisse sind, kann ich nicht sagen. Wenn du meinst, dass es sich ganz ähnlich anhört, wirst du das als „Nativespeaker“ besser wissen als ich.
Januar 31st, 2009 18:18
huhu LeV,
find ich echt toll, dass du das auch noch vorgelesen hast, da hat man erstmal richtig ne Vorstellung was man das singt, denn meistens erschließt sich der Sinn ja erst wenn man es richtig ausspricht.
Interessant finde ich, dass man manchmal bei der Schreibweise „ih“ es wie das heutige „ich“ ausspricht (siehe 10.) und „mih“ (10.) und bei „chume, chum“ steht mich, was man dann ja wohl wie das heutige mich ausspricht.
Andererseits aber bei (7.) „nah“, was man wie das heutige „nach“ ausspricht…..ich dachte irgendwie, dass man dann das mih, ich eher wie bei nach spricht. Hast du da ne erklärung? Hat es was mit den verschiedenen Vokalen zu tun?
Und habe ich mich ungefähr verständlich ausgedrückt? 😉
viele grüße
juli
Januar 31st, 2009 18:58
Hallo Juli, also dass z.B. das /ch/ am Anfang von „chume“ wie [k] gesprochen wird, das funktioniert analog zu Christus oder Chronik und hängt irgendwie mit der lateinischen Transkritption griechischer Buchstaben zusammen. Da dachte sich der Schreiber der Handschrift wohl, dass man das so schreiben sollte. Es gab ja keine Rechtschreibung und deshalb finde man auch Worte, die man heute noch mit /ch/ manchmal wie /k/, z.B. „Kist“. Man muß unterscheiden zwischen der lautlichen und der schriftlichen Ebene, das sind zwei Paar Schuhe.
Was nun die /ch/s Am Wortende betrifft, so ist unklar, ob man sie im MA durchgehend wie im Ach-Laut spricht, wie das in der heutigen Schweiz üblich ist, oder ob sie in der Nähe vorderer Vokale wie [i] und [e] aus sprachökonomischen Gründen zum Ich-Laut verschliffen werden, wie man es heute in ganz Deutschland tut. Das wäre dann analog zum Französischen „garage“ oder Italienischen „capuccino“. Sprachökonomisch ist das deshalb, weil die Zunge für den Vokal ja schon vorne ist oder eben dahin muß, da kann man sie für den Konsonanten eben auch gleich dort lassen, anstatt sie erst zum hinteren Gaumensegel zu bewegen. Das Resultat ist ein weicherer Konsonant bei gleicher Mundstellung.
April 9th, 2009 11:42
Hi, LeV!
Ich sehe schon, Du hast selten Zeit für Deinen Blog, aber das spricht ja nur für ein in vollen Zügen genossenes reales Leben.
An dieser Stelle würde ich statt eines Koreferats nur eine kleine Frage hinterlassen in der Hoffnung, daß Du irgendwann Gelegenheit für eine Antwort siehst:
Kann man die konventionellen Ausspracheregeln für das Mittelhochdeutsche auch auf die Lieder Oswalds von Wolkenstein anwenden? An sich sind ja bei ihm schon Einflüsse des Frühneuhochdeutschen festzustellen, andererseits stammt er aus einer Region, in der bis heute eine starke dialektale Färbung besteht…Aufgrund dieser Besonderheiten bin ich mir nicht ganz sicher.
Der praktische Hintergrund der Frage ist der, daß ich während meines Gesangsstudiums seine Stücke für mich entdeckt habe und mich bei Auftritten prinzipiell um eine historisch informierte Aufführungspraxis bemühe.
Wie würdest Du das hier umsetzen?
Herzliche Grüße,
Sigmar
April 14th, 2009 11:08
Hallo Sigmar, ja, erst einmal muß ich mich für meine lange Schweigsamkeit entschuldigen. Aber bei anständigen Fragen möchte ich mir natürlich Zeit für eine anständige Antwort nehmen und die war in den letzten Wochen rar bei mir.
Oswald wirkte, soweit ich weiß, in Tirol. Ich habe mich mit ihm und seiner Musik bisher nur am Rande befaßt, weil mir das zeitlich schon wieder fast zu „modern“ ist. Generell würde ich sagen, bevor man irgendwie rumdruckst, sollte man die konventionellen Ausspracheregeln auch auf seine Liedtexte anwenden. Wobei man bedenken muß, dass sich rechtschreiblich sicherlich eine Menge getan hat, also Buchstabenfolgen, an denen man sich im Mhd. in Bezug auf die Aussprache orientieren kann, durchaus variiert sein können.
Wenn man es aber wirklich genau machen möchte, würde ich versuchen, Ausgaben zu dialektalen Besonderheiten der Region Tirol zu bibliographieren und mal zu schauen, ob man dort etwas zur Aussprache findet oder über Vergleiche von Schreibung, Grammatik, aktueller Aussprache, etc. irgendetwas darüber erschließen kann. Dann wird man sicherlich nicht um einen Vergleich der Handschriften und Editionen hinwegkommen. D.h. man schaut sich an, nach welchen Standards die standardisierten Oswald-Ausgaben standardisiert wurden und in wiefern sich die Schreibungen in den originalen Hss. (bzw. diplomatischen Abschriften, Handschriften-Editionen) unterscheiden. Es kann z.B. sein, dass eine Hs. den Oswald in einer Region überliefert, die nicht direkt seine Wirkungsstätte war und deshalb an die eigenen dialektalen Besonderheiten anpaßt, etc. Obwohl ich glaube, dass Oswald für den Großteil seiner Überlieferung (ähnlich wie Machaut) selbst verantwortlich ist, aber da stecke ich, wie gesagt, zu wenig in der Materie.
Liebe Grüße, LeV.
Januar 14th, 2010 00:16
Zu „Swaz hie gat umbe“:
falsche Quantität: an / gan
„an“ ist „ane“, also „ohne“, und lang zu sprechen ebenso wie gan.
Januar 18th, 2010 11:29
Das ist auffallend richtig. Danke für den Hinweis. 🙂
Jetzt bin ich mir aber bei „man“ verstört. Das Wörterbuch sagt, kurzes [a], aber der Reim [mann-gaan] wird dadurch „lediert“. Das ist schade, aber wohl nicht zu ändern. Denn das Wörterbuch wird mich ja nicht anlügen und es wird wohl auch nicht „Montat“ heißen sollen, sondern tatsächlich „Mann“. Dafür ist es so ein interessantes Beispiel für meine Reimformsammlung: reiner Reim, der sich jeweils nur in der Qualität des Vokals unterscheidet.
Mai 23rd, 2010 16:41
Mittelhochdeutsche Aussprache – Carmina Burana
Sehr hilfreich, danke. Könnten wir aber nicht vermuten, dass die Lieder so aufgeschrieben wurden, wie sie damals mit dialektischen Unterschieden ausgesprochen wurden?
z.B., daß in Nr.10 “ih” “mih” “ie” “mie” ausgeprochen werden sollen?
Die Schreiber werden woll ihre Gründe gehabt haben, keine einheitliche Schreibweise für die Wörte verwendet zu haben.
Besten Grüß, Larry
Mai 24th, 2010 12:51
Das trifft in gewisser Weise auf jeden Fall zu. Eine einheitliche Rechtschreibung gab es natürlich nicht und insofern hat jeder quasi geschrieben, wie er gesprochen hat. Du hast aber zugleich das Phänomen, dass ein Wort im selben Text in Zeile 1 so und in Zeile 2 anders geschrieben steht, obwohl es vom selben Schreiber in derselben Handschrift kommt. Man kann nicht davon ausgehen, dass es hier so und dort anders ausgesprochen wurde. Eher ist es so, dass es verschiedene Möglichkeiten gab (und gibt) ein Phonem graphisch zu realisieren. Mach mal den Versuch und laß einen nach deutscher Rechtschreibung verfaßten Text von Muttersprachlern in einen Dialekt übertragen. Du wirst sehen, dass jeder Schreiber andere Lösungen findet oder Ggf. hier so und dort anders entscheidet.
Aus der Schreibung einen Rückschluß auf die Aussprache zu ziehen, ist also eine Frage, die die konkrete Schreibung in einer konkreten Situation überspannt. Aber letztlich passiert genau das, dass man Aufgrund der Schreibung auf die Aussprache schließt. Anders ist es ja auch nicht möglich.
Februar 6th, 2012 22:09
Liebe LeV,
vielen Dank für den interessanten Artikel. Der Kammerchor Schwabmünchen bereitet sich zur Zeit auf die Aufführung der Carmina Burana vor. Dabei ist uns Dein Artikel sicher eine Hilfe.
Ich nehme gerne das Angebot an und setze einen Trackback-Link auf unsere Chor Homepage.
Viele Grüße!
September 21st, 2012 11:48
Zu „Chramer, gip die varwe mir“:
Müsste da in der vierten Zeile das „an“ nicht auch als „ohne“ übersetzt und daher lang gesprochen werden?
Besten Dank und Gruß!
Oktober 6th, 2012 12:03
@BMS: Hm, ja, das klingt plausibel, je mehr ich darüber nachdenke. Also vorausgesetzt es handelt sich um die Präposition „ohne“ also „âne“, dann wäre das /a/ auf jeden Fall lang. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob es sich wirklich um diese Präposition handelt. Die Präposition „an“ mit kurzen /a/, kann ja sehr vieles heißen, z.B. da, mit, bei, durch, gegen, nach, über, wegen, etc. Und dafür fallen mir auch plausible Übersetzungen ein.
Die Frage ist also, werden die jungen Männer „gegen ihren Willen zur Liebe gezwungen“ (âne ir dank) oder werden sie „unter Lob/Jubel zur Liebe gezwungen“ (an ir dank). Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass tatsächlich das Erste gemeint ist.
Oktober 6th, 2012 14:09
an ir dank = âne ir dank = ohne ihre Absicht, gegen ihren Willen (âne mit langem a)
Es gibt weitere Beispiele dafür in der mhd. / mnd. Literatur, z. B. Bei Heinrich von Veldeke:
„Tristrant muste ane sinen danc / stade sin der koninginnen, / want poisun heme dar tu dwanc / mere dan di cracht der minnen.“
November 14th, 2012 23:53
ich beschäftige mich gerade intensiv mit der Aussprache bei CarminaBurana(Choraufführung)des MHD (schon gelöst dank Ihren Beispielen oben! danke) –
jetzt geht es aber noch um das Latein. Vom vielen Googeln weiss ich, dass man das nicht mehr 100%ig rekonstruieren kann, weil es natürlich keine Hörproben aus dieser Zeit gibt und man das Ausgesprochene in Schrift transkribiert hat. und das spricht dann im umgekehrten Vorgang jeder Sprachkreis auf seine Weise aus.
Bei Orff wäre es vielleicht das Klügste, die heute gebräuchliche deutsche Aussprache das damaligen Latein zu wählen. Doch welches ist die? Ich habe mir ca.25(!) Interpretationen von C.B. an den fraglichen Aussprachestellen angehört – fast alle singen
„creszit“, oder „cresssit“, nur einige Interpreten mit englischer oder auch frz. Muttersprache sprechen „creschtzit“ (und Ozawa mit den Berlinern auch – wo soll ich den einordnen?) oder „creschit“ aus. Was ist nun richtig, oder für damals vermutlich richtig?
Nachdem wir uns im Chor für die weltweis mehrheitlich gebrauchte Aussprache entschieden hatten – schliesslich haben die Dirigenten ja wohl auch vorher nachgeforscht -, bin ich nun vollends verwirrt, als ich im Internet einen englischen Artikel finde, wie speziell in C.B. das Latein ausgesprochen werden sollte. Und zwar ist da für das 2.Lied „Fortuna plangit vulnera“ ein Beispiel genannt: 2.Zeile „ocelli“ soll „ochelli“, das wäre also „otschelli“, ausgesprochen werden (die Chöre, die „cressit“ singen, singen aber folgerichtig auch „otselli“.
Bei qu- usw. haben wir keine Bedenken), es geht vor allem um sce/i und ce/i“.
Liebe Mediaevistin – können Sie mir – schnell – helfen? Der Chor kann ja nicht dauernd umlernen. Irgendeine Piste oder einen fachmännischen Rat? Danke im voraus.
GB, Santo Domingo
November 15th, 2012 03:13
@gesine bonetti
Ich bin zwar nicht die angesprochene Person, habe mich aber mit diesen Dingen fachlich beschäftigt und kann einiges dazu sagen.
Sie haben das Grundsätzliche schon selber ausgesprochen. Wir wissen zwar (aus unterschiedlichen Quellen) einigermaßen, welche Lautwerte die einzelnen Buchstaben im Altertum hatten, aber darauf kommt es schon deshalb nicht an, weil das Lateinische im Mittelalter in Europa ganz anders ausgesprochen wurde und die Carmina Burana ja mittelalterliches Latein enthalten.
Wie Sie selber sagen, sprach jeder entsprechend seiner muttersprachlichen Zugehörigkeit die Laute unterschiedlich, und so ist es ja heute noch. Wenn ein Amerikaner z. B. „Jesus Christus“ sagt, klingt das ganz anders, als wenn ein Deutscher das ausspricht, und wieder anders von einem Franzosen usw.
In Ihrer Anfrage geht es praktisch nur um die Aussprache des „c“ in verschiedener lautlicher Umgebung. Die deutsche Aussprache des c, die im 19. und 20. Jahrhundert und jedenfalls zu Zeiten Orffs an den Schulen üblich war, ist leicht erklärt: vor dunklen Vokalen und dunklen Diphthongen (a, au, o, u) und vor Konsonant wie ein k, vor hellen Vokalen und hellen Diphthongen (ae, e, oe, i) wie ein z.
(Beispiele: casa -> kasa; causa -> kausa; contra -> kontra; custos -> kustos; Caesar -> Zäsar; ocelli -> ozelli; coeptum -> zöptum; crescit -> kreszit)
Im übrigen kann man sich selbst ein ganz brauchbares Bild machen, wenn man davon ausgeht, wie bekannte lateinische Namen oder Wörter in den einzelnen Sprachen heute ausgesprochen werden, z. B. Cato, Caesar, Cicero. Da werden Sie schnell merken, dass das „tsch“ typisch italienisch ist, das „ss“ typisch französisch usw.
Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!
November 15th, 2012 19:12
Ich habe mich bisher nur mit der Prosodie des Mittellateinischen beschäftigt, aber nicht mit den Aussprachekonventionen. Ich wüßte Experten, die ich dazu befragen könnte. Aber das würde länger dauern. Ich selbst habe „nur“ klassisches Latein aussprechen gelernt. Da ist es noch mal anders. Man spricht Caesar nicht Zäsar, sondern Kaißar. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass das auch im Mittelalter noch der Fall war.
Ich weiß, dass in meinem Chor das Latein meist nach den Aussprachekonventionen gesprochen wurde, die im Land des Komponisten für das Lateinische üblich sind. Da Orff Deutscher war, würde ich hier auch deutsche Konventionen ansetzen, also c vor hellen Vokalen (e/i) wie [tz] und vor dunklen (a/o/u) wie [k]. Das ist ja im Grunde genommen auch das, was mein Vorredner sagt. Viel Erfolg!
März 6th, 2013 00:18
Der Cleveland Orchestra Chorus uebt auch die C.B. ein. „Min“ und „Rhin“ sollen das kurze, offene i haben. Deshalb habe ich eine Website wie diese gesucht und gefunden. Danke fuer viele gute Ratschlaege die Aussprache betreffend. So habe ich es auch im Gymnasium gelernt und fuehle mich nun sicherer beim Korrigieren.
Was das deutsche Latein angeht, bin ich mir nicht so sicher wie endsilbiges „is“ ausgesprochen wird, lang oder kurz gemaess Dativ/Ablativ Kasus?!
März 10th, 2013 02:06
Phew, schwierige Frage. Also im Dativ/Ablativ der a- und o-Deklination ist das /i/ ein langes. Ebenso in der 2. Person Indikativ aktiv einer i-Konjugation („semper cresis, aut decrescis“, etc.) Nach den Aussprachekonventionen klassischen Lateins müßte es lang gesprochen werden. Aber, wie gesagt, Orff war Deutscher und bereits im Mittelalter galten die klassischen Konventionen schon nicht mehr. Daher würde ich mich also eher am Deutschen orientieren. Im Deutschen neigen Wörter dazu, auf dem Wortstamm betont zu sein, wodurch es zu einer Abschwächung der Nebensilben kommt. Die Vokale in den Nebensilben werden kürzer und schwa-iger. Für einen Deutsch-Muttersprachler wäre es also absolut unüblich „crescīs“ (mit langem i) zu sprechen. Wir haben es mit der Berliner Singakademie jedenfalls immer kurz gesprochen, auch wenn der klassische Lateiner darüber wohl die Nase rümpfen würde.
Juli 22nd, 2013 13:40
Hallo liebe Mediaevisten und Mhd.-gemeinde!
Unklar bleibt mir nach wie vor die richtige Aussprache des „s“! Wenn tatsächlich zur Abfassung der C.B. die zweite Laufverschiebung vollzogen war und der bairische Sprachraum als Entstehungsort sicher angenommen werden kann, dann müßte doch bei „sp“, „st“, „sw“ usw. usf. palatalisiert werden!? Also z.B. „swaz“ = „schwaß“ oder „sla“ = „schla“.
Und außerdem: Was hat es eigentlich mit Wörtern wie „wafna“, „nazzaza“ und „trilirivos“ auf sich? Ich hörte von der These, sie könnten arabischen Ursprungs sein.
Gruß M.B.
Juli 22nd, 2013 13:43
Ich meinte natürlich „Lautverschiebung“!
Gruß M.B.
August 13th, 2013 10:15
Hi Manfred, also ich habe gelernt [sw] zu sprechen und nicht [∫w] und da geben mir auch alle Anleitungen, die ich auf die Schnelle finde, recht. Warum, erklären sie nicht, aber ich nehme mal an, dass die 2. Lautverschiebung hinsichtlich dieses Phänomens im Mittelalter noch nicht so weit vorangeschritten war. Wenig konkrete Ausführungen zu diesem Aspekt gibt es auf den Seiten der Uni-Münster zur Aussprache des Mittelhochdeutschen. Da lohnt es sich sicherlich, tiefer in die Recherche einzusteigen.
Ich denke ja bei dem Begriff „Palatalisierung“ immer an ein grammatisches Phänomen, nämlich die Angleichung eines tiefen Wurzelvokals an einen palatalen Vokal [i, j] in der schwachtonigen Nebensilbe, was u.a. der Grund dafür ist, dass die Mehrzahl von /Gast/ auch heute noch /Gäste/ lautet. Ein ähnliches Phänomen wie die nord-west-germanische Hebung also.
Mai 11th, 2015 18:19
Hallo, bin froh Deine Seite gefunden zu haben und hoffe, Du bist noch online. Habe aber keinen Kommentar, sondern eine Frage:
Ein Projektchor in Hannover bereitet gerade die Aufführung der Carmina Burana vor, Abschlußkonzert der nieders. Chortage 19. Juli in Bückeburg, große Sache. Meine Frage lautet: Was bedeutet Manda liet genau? Und wie spricht man es aus? Manda ist klar, aber spricht man bei liet die Vokale auch einzeln ab wie bei lieb? Ich habe mal vor ewigen Zeiten an der FU Berlin Germanistik studiert und viel Mittelhochdeutsch gemacht, konnte auch vieles klären, aber das krieg ich nicht hin. Außerdem habe ich mein Wörterbuch verbummelt und ich sitze hier in der Provinz, da hat keiner so was mal eben im Schrank. Ich habe keinen Schimmer, was das ist. In den meisten Übersetzungen kommt es auch nicht vor, die lassen diese Textzeile einfach aus. Kannst Du mir da einen Tipp geben? Das wäre toll. Viele Grüße aus Barsinghausen (bei Hannover) in Niedersachsen, Anna-Maria Remig
Februar 3rd, 2016 18:35
Liebe LeV et al:
Unser Chor führt augenblicklich Carmina Burana auf und eine Frage, die mich plagt, ist die eigentliche Bedeutung Von „Swaz hie gat umbe, daz sind alles megede, die wellent an man alle disen Sumer gan!“
Den ganzen anderen Texten zufolge (oh wî, wer soll mich minnen etc.) hätte ich hier erwartet, dass diese Mädels, von denen da die Rede ist, sehr wohl einen Mann wollen, aber anscheinend, zumindest den erhältlichen Übersetzungen nach, wollen sie ihren Sommer ohne Mann verbringen. Kann es sein, dass da falsch übersetzt wurde.
Würde mich über Eure Ansichten freuen!
Liebe Grüße!
Jacqui
März 4th, 2016 08:42
Liebe Jacqui et al: Sicher sind Sie nicht die Erste, der hier Unlogik aufgefallen ist. Das könnte z.B.daran liegen, dass Viele des MHDen Unkundige, wie auch ich, wenn sie „Swaz…“ zum ersten Mal hören, innerlich so assoziieren: Wer läuft hier herum? Das sind alles Mägde, die wollen alle einen* Mann, alle** diesen Sommer weggehen(d.h.auf dem Heiratsmarkt unter die Haube kommen,und präsentieren sich deshalb in der Öffentlichkeit). *„an“ als „einen“ (wie in dt. Dialekten); **und auch das „alle/allen“ bezieht sich wahrscheinlich nicht auf die Mädels, sondern auf den ganzen Sommer. Wenn man sich das unbedarft so zurechtgehört hat, verstört einen die Übersetzung „ohne“ dann, und nichts scheint mehr logisch.
Nun müssen ja zwischen den einzelnen CB-Texten nicht zwangsläufig Zusammenhänge bestehen (weiss man das?) – aber das textliche Drumherum legt schon nahe, dass die Mädels alle(?)einen Mann wollen,ja,dass sogar s i e um die Burschen buhlen müssen – durch Schminke usw. auf sich aufmerksam machen wollen/müssen.Immer singen in dem mhden Teil die Frauen, dass sie Männer wollen,und nicht umgekehrt (Ausnahme Nr.10 – engl.Königin).
Nun habe ich mal rausgesucht, was ich 2012 zum Thema CB für den Nationalchor in StoDomingo zusammenstellte – Übersetzungen, Aussprache usw.(Zur latein.Aussprache habe ich damals auch in ‚abgedichtet‘ eine Frage gestellt).
Soweit ich im Internet sehen konnte, übersetzen so gut wie alle „ohne Männer“ – ich habe besonders mit dem Spanischen und Portugiesischen verglichen. Und „an“ (aan) heisst nun mal ohne. Ein Spanier übersetzt sogar „Estas chicas que giran alrededor son todas solteras. Dicen que quieren pasar sin ningún hombre todo este verano.” also „…sind alle ledig. Sie s a g e n, dass sie diesen Sommer ohne Mann verbringen wollen“ – woher er das Wort „sagen“ nur hat? Aber könnte nicht ‚Megede‘ hier tatsächlich ‚Jungfrauen‘ (die sind ja in der Regel ledig!) heissen?
Zunächst kam mir folg. Spitzfindigkeit in den Sinn: Wer sagt denn, dass da wirklich ALLE Mägde (Mägdelein, Jungfräulein…) herumgingen? – vielleicht waren es nur diejenigen, die diesen Sommer eben (noch) nicht „weggehen“, sich nicht binden oder amüsieren wollten – aus welchen Gründen auch immer (noch zu jung, schlechte Erfahrungen mit Männern, im Frühling schon genug geturtelt; jetzt wollen sie mal ausruhen vom Gefallenwollen – denn immerhin macht es ja einige Arbeit, die Aufmerksamheit auf sich zu ziehen (siehe „Chramer….“).
Kann sowas die Forschung überhaupt noch rauskriegen?
Plötzlich aber fand ich noch eine anders lautende spanische Übersetzung:
„Ellas van de aquí para allá, todas son doncellas.Ellas no han tenido un hombre en todo este largo verano.“
etwa: Sie gehen herum, alle sind Mädchen/Fräulein (Jungfrauen??). Sie haben den ganzen langen Sommer über keinen Mann gehabt.(und sind d e s h a l b – noch – Jungfrauen?) Da ist nix mehr mit „wollen ohne“!
Dann habe ich mir im Internet Übersetzungen mhder Texte angeschaut: http://www.saelde-und-ere.at/Hauptseite/Arbeitsgruppen/Mhdt/MhdtBegriffe/sleht.html#sleht01 und fand da folgenden kleinen Absatz:
er benaschet bœse unde guot / Er nascht an schlechten und an guten.
diu sînes willen niht entuot,/ Tut ihm eine nicht seinen Willen,
der w i l l er doch warte machen / der w i r d er dennoch seine Aufwartung machen.
(Ich muss doch annehmen, dass der Übersetzer Fachmann ist.)
Wie, wenn auch wir das „wellent“ mal mit „werden“, statt mit „wollen“ übersetzten? Etwa: Die w e r d e n den ganzen langen Sommer über ohne Mann sein/bleiben/keinen Mann haben. (Warum auch immer.)
Wenn wir schon nach einem eventuellen Übersetzungs“fehler“ suchen, sollten wir vielleicht nicht immer nur am „an“(aan) rumdoktern, sondern uns mal „wellent“ vornehmen….
Ist da vielleicht was dran? Beste Grüsse von GB
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März 4th, 2016 21:00
Liebe Gesine:
Vielen Dank für dies ausführlichen Überlegungen! Da kann allerdings was dran sein und würde vom Sinn her besser passen.
Jedenfalls war unsere Aufführung ein voller Erfolg, auch mit den kleinen Aussprachefehlern! 🙂