Werkeinführung: Arthur Honegger ~ Jeanne d’Arc au bûcher
Was sich am 6. Mai 1939 während der Frankreich-Premiere von „Jeanne d’Arc au bûcher“ (Johanna auf dem Scheiterhaufen) in Orléans abspielt, gleicht auf traurige und groteske Weise der Thematik des dramatischen Oratoriums selbst. Das reaktionäre und rassistische Publikum eines auf Krieg eingestimmten Frankreichs verschreit Ida Rubinstein, Hauptdarstellerin und Auftraggeberin des Werkes, als Jüdin, der es nicht zustehe, die Rolle der reinsten, französischen Nationalheldin und Christin Johanna von Orléans zu spielen.
Nur ein Jahr zuvor, bei seiner konzertanten Uraufführung in Basel am 12. Mai 1938 unter Paul Sacher, riß „Jeanne d’Arc au bûcher“ Publikum und Presse zu Begeisterungsstürmen hin. Das Oratorium ist nicht das einzige Auftragswerk der russischen Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, das große Berühmtheit erlangt hat; zu nennen sind Highlights wie „Le Martyre de Saint Sébastian“ (Annunzio/Debussy) oder der „Boléro“ (Ravel). Sie und Arthur Honegger lernten sich über Jean Cocteau und die Group de Six kennen. Als sie im Frühjahr 1934 mit der Idee zu „Jeanne d’Arc“ zu ihm kam, war es nicht ihr erstes, gemeinsames Projekt. Als Textdichter hatte man Paul Claudel, den jüngeren Bruder der Bildhauerin Camille Claudel, vorgesehen. Dieser wagte sich als strenger Katholik zunächst nicht an die Thematik heran. Eine Vision, die er auf einer Bahnfahrt nach Brüssel hatte, gab ihm jedoch ein, es dennoch zu tun und so hatte er innerhalb weniger Wochen das Libretto komplett skizziert. Honegger konnte sich noch im selben Jahr an die kompositorische Arbeit machen.
Dabei hatte der Dichter genaue Vorstellungen von der musikalischen Umsetzung seines Textes; seine klaren Vorgaben waren eine Herausforderung für den Komponisten. Ausgehend vom Tag ihrer Hinrichtung erzählt „Jeanne d’Arc au bûcher“ die Geschichte der Märtyrerin Johanna, die als Sechzehnjährige ihre Heimat in Lothringen verließ, um das belagerte Frankreich von den Engländern zu befreien, dem Dauphin, Karl, zur Krone zu verhelfen und schließlich aus politischem Machtinteresse als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Dabei bedient sich das Oratorium Elementen des Mysterienspiels, der Oper und des antiken Dramas, vor allem aber einer Technik der Kinematographie. Dem Zuhörer erschließt sich die in einen Prolog und elf Szenen gegliederte Handlung durch ineinander verschränkte und sich überlagernde, teils historische, teils fiktive Rückblenden erst im Nachhinein.
Die Stimmen des Himmels rufen Johanna zu sich. Bruder Dominik liest ihr aus dem Buch ihres Lebens vor, da dringen die bestialischen Stimmen der Erde zu ihr, die Johanna anklagen und verwünschen. Einem Tiergericht soll sie übergeben werden, das in der Tradition des „Roman de Fauvel“ (Gervais du Bus, ~ 1310) über ihr Schicksal entscheiden soll. Zum Vorsitzenden ernennt sich Porcus, das Schwein (frz. Cochon), selbst; eine deutliche Anspielung auf den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, der in der Historie tatsächlich den Vorsitz im Prozess gegen Johanna innehatte. Die Schafe fungieren als Beisitzer und der Esel soll Schreiber sein. Von diesem Tiergericht wird Johanna verurteilt und findet sich am Pfahl auf den Scheiten wieder. Auf die Frage, wie sie dorthin gekommen sei, berichtet ihr Bruder Dominik vom Kartenspiel der Könige von Frankreich und England und des Herzogs von Burgund, die symbolisch für Torheit, Hoffahrt und Habgier stehen. Johanna selbst ist der Einsatz der Partie und dem Sieger, England, wird sie ausgeliefert. Ihre Schutzheiligen Katharina und Margarethe erbitten göttlichen Beistand und in der Geborgenheit ihrer Schutzheiligen erinnert sich Johanna an die Krönung des Dauphin. Unter Jubel und Tanzmusik zieht er in Reims, der Krönungsstadt, ein. Mühlenwind und Mutter Weinfaß begrüßen sich freudig, denn durch die Krönung ist die Wiedervereinigung des weizenbringenden Nordens mit dem weinreichen Süden Frankreichs zustande gekommen. Doch als Johanna sich über den auf sie zurückzuführenden Erfolg freut, werden wieder die sie anklagenden Stimmen auf der Erde vernehmbar. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, ihre Unschuld zu der Zeit als ihr das Schwert, mit dem sie Frankreich befreite, übergeben wurde und sie mit den anderen Kindern das Trimazô-Lied sang. Dieses Lied versucht sie nun noch einmal zu singen, doch die Realität, in die sie zurückgeworfen wird, erstickt ihre Stimme. Johanna steht auf dem Scheiterhaufen, Bruder Dominik hat sie am Ende ihres Buches verlassen und ihre Schutzheiligen sprechen ihr Trost zu, bevor sie flammend in der Herrlichkeit des Himmels aufgeht.
Diese Szenen sind verknüpft durch die Verarbeitung einiger charakteristischer, wiederkehrender Motive, wie z.B. das Rufen des Höllenhundes am Beginn des Stückes, die Glockenakkorde, die die Stimmen ihrer Schutzheiligen begleiten oder das Trimazô-Lied, welches kindliche Geborgenheit symbolisiert. Zahl- und facettenreiche musikalische Quellen finden Verwendung und werden durch Diminutionen, Augmentationen, Umkehrungen, Sequenzierungen und andere thematische Spielereien szenenübergreifend miteinander verquickt. Elemente folkloristischer Musik, wie das Trimazô-Lied oder das alte, französische Volkslied „Voulez-vous manger de cesses?“ stehen neben Chorälen wie dem Antiphon „Aspiciens a longe“ oder dem Conductus der „Esel Sequenz“, das transponierte B-A-C-H Motiv neben Parodien auf die zeitgenössische Jazzmusik, wie der Arie des Porcus oder Parodien auf die Barockmusik selbst.
Auch die Klangvielfalt der chorischen und instrumentalen Besetzung ist groß. Chor, Kinderchor und Solisten singen, sprechen, schreien, summen, murmeln oder psalmodieren in Chorälen, Chören und rhythmischen Fugati. Die Hauptrolle verlangt nach einer Sprechpartie, denn Ida Rubinstein war Schauspielerin und nicht Sängerin. Auch Bruder Dominik und einige Nebenrollen werden von Sprechern dargestellt, so dass es insgesamt viele Passagen mit gesprochenem Wort gibt. Dennoch gibt es nur drei Stellen, an denen der musikalische Fluss unterbrochen wird. Das Orchester ist mit dreifachem Holz besetzt und anstelle der Hörner musizieren drei Alt-Saxophone. Celesta und zwei Klaviere reihen sich ein, die in Szene VI, der Kartenspielszene, durch auf die Seiten gelegte Metallbügel den spitzen Klang eines Cembalos mimen. Das wohl interessanteste Instrument ist aber das Ondes Martenot, ein monophones, elektronisches Tasteninstrument mit sieben Oktaven, das nach dem Prinzip des Schwebungssummers arbeitet, dessen Klang durch elektronische Filter variiert werden kann. Zum Einsatz kommt es schon zu Beginn beim Rufen des Höllenhundes. Honegger war einer der ersten, der diesem Instrument Platz im Orchester einräumte.
Durch den Zweiten Weltkrieg erlangte „Jeanne d’Arc au bûcher“ in den vierziger Jahren eine brisante Aktualität. 1941 wählte das Ensemble „Chantier Orchestral“ das Oratorium für eine Tournee durch mehr als 40 Städte des unbesetzten Frankreichs aus. Nach der Befreiung fügten Claudel und Honegger den bis dahin gefertigten elf Szenen noch einen Prolog bei, der Jeanne als Retterin und Befreierin Frankreichs preist. Seine szenische Erstaufführung hatte das Werk 1942 im Stadttheater Zürich in der deutschen Fassung von Hans Reinhard. Auf eben diese Fassung wird auch die Berliner Singakademie bei ihrer konzertanten Aufführung der „Jeanne d’Arc au bûcher“ am 28. April 2006 zurückgreifen.