Archiv für die Kategorie 'Literatur'

Nerd Porn Auteur

Sonntag, 08. Oktober 2006

Ernie Cline hat festgestellt, dass der meiste Porn nicht für Jungs wie ihn gemacht ist, sondern für „beer-swilling sports bar dwelling alpha-males“ und hat daraus ein witziges und poetisches Klangerlebnis gemacht, in dem er durchaus intelligent und sympathisch mit dem Thema umgeht. Der englischsprachige Spokenword-Künstler stellt auf seiner Seite einige, wenn auch leider nur wenige, seiner Kreationen in Wort und Ton vor. „Nerd Porn Auteur verdient ein offenes Ohr und ist meine Sonntagmorgenempfehlung. Spokenword vom feinsten! (engl.)

Mein Verleger

Mittwoch, 04. Oktober 2006

Den Vertrag zwischen mir und meinem letzten Verleger haben wir ja in beiderseitigem Einvernehmen eingestampft, bevor das Projekt zustande kam und während sich meine Freunde mal wieder zurecht über die WIPO (World Interlectual Property Organisation) als eine Interessenvertretung der „Verwerter“-Mafia aufregen und sich Telepolis in einem für jeden Autor interessanten Artikel fragt „Wieviel Vertrauen verdienen Verlage?„, gedenke ich in stiller Freude meinem Privileg, als gestandene Online-Poetin noch immer mein eigener Verleger zu sein. Natürlich verdiene ich damit kein Geld und habe weder Namen noch Ansehen unter den Häppchen-Stehparty-Gängern sogenanter „etablierter“ Literaturkreise, aber wenigstens weiß ich, was mit meinem „geistigen Eigentum“ (ein bescheuertes Wort) passiert und kann die Leute, die ihren Namen unter meine Sachen schreiben, höchst persönlich und in vollem Eigeninteresse dafür anscheißen.

stay fictional

Montag, 25. September 2006

Juli Zeh möchte die Authentizität zur Hölle jagen und dabei kann ich sie eigentlich nur unterstützen. Was ich schon seit einiger Zeit kritisch beäuge und gedanklich bereits in zwei Artikeln formulierte, ist jetzt auch im Literatur-Teil der ZEIT angekommen. Diese erkennt die Ursache für die zunehmend alarmierende Zensur literarischer Kunst in der Unfähigkeit der Leser und dem Unwillen der Autoren zwischen literarischen Fikts und realen Fakts zu unterscheiden und proklamiert die bewußte Hinwendung zur Fiktion und die Erneuerung des stillschweigenden Abkommens zwischen Leser und Autor.

Wettbewerb oder Bewerbungswette

Donnerstag, 21. September 2006

Wenn ich mir die Anzeigen zu einigen sogenannten Literaturpreisen und Schreibwettbewerben so anschaue, dann komme ich mir als Laienautor schon oftmals mehr als verarscht vor. Unter Ausnutzung unserer Unwissenheit und Unerfahrenheit werden wir mit kruden Angeboten gelockt, um dann Opfer von Werbemaschen und Ausbeutung zu werden. Die Teilnahme an seriösen Wettbewerben bleibt uns hingegen oftmals durch Auflagen wie den Nachweis einer eigenständigen Printveröffentlichung oder die Anmeldung durch den Verlag verwehrt.

Es klingt eigentlich nach einem prima Angebot: Kleinverlag X/Y veranstaltet einen Gedichtwettbewerb, an dem jeder Autor mit einer gültigen E-Mail-Adresse teilnehmen kann. Die Gewinnertexte werden auf der eigenen .de.vu oder mein-verlag.tk Homepage veröffentlicht und zusammen mit den übrigen Einreichungen kostenlos in einer Anthologie herausgegeben. Teilnehmer können den Band dann zu einem Vorzugspreis von nur X€ käuflich erwerben. Klasse! Wer von uns wollte nicht schon immer in einem echten Buch veröffentlicht sein? Beim zweiten Hinsehen entpuppt sich das ganze aber als eine Art Dauerwerbesendung und da man nun schon seine E-Mail-Adresse abgegeben hat, bleibt man auch in Zukunft nicht von lästigen Werbemails verschont.

Im Urhebergesetz gibt es einen Artikel [§32], der jedem Urheber eines kreativen Werkes, wie einem Gedicht oder einer Kurzgeschichte, ein Recht auf angemessene Vergütung zugesteht. Wird der Text eines professionellen Autors durch einen professionellen Verlag veröffentlicht, so wird vertraglich geregelt, dass der Autor für die Einräumung von Nutzungsrechten an seinem Text vom Nutzer bezahlt wird, meist bekommt er zusätzlich Freiexemplare. Kleinverlag X/Y erhebt die Veröffentlichung selbst zum Preis, kommt damit kostenlos an Material und schlägt noch sichere Profite aus dem Verkauf unter den Autoren (die natürlich ein Exemplar ihrer stolzen Veröffentlichung haben wollen). Damit sind geringe Produktionskosten und der Absatz des Produktes von vornherein gesichert. Dass die Qualität dabei auf der Strecke bleibt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche, interessiert aber scheinbar keinen.

Die Juroren beim Literaturpreis „Elysium“, den der Club der raren Schreibkunst e.V. 2005 durchführte, sahen sich z.B. unfähig unter den vielen, guten Einsendungen einen Gewinnertext zu bestimmen und wählten die Preisträger dann per Zufallswahl, indem sie alle eingereichten Texte in die Luft warfen und drei der fliegenden Zettel herausgriffen. Der Websiteverlag verzichtete 2005 ganz auf Juroren und eine Textauswahl. Es sollte ein Wettbewerb der Lyrikforen sein. Jedes Forum sollte selbst Texte auswählen, diese zusammenstellen, lektorieren und für den Druck vorbereiten, freilich honorarlos. Der Websiteverlag übernahm dann die Herstellung des Buches und den Verkauf. Gewinner des Wettbewerbes (und das schlägt dem Faß eigentlich den Boden aus) würde das Forum, dessen Buch sich am besten verkaufe. Also liebe Forenmitglieder: alle fleißig kaufen, wenn ihr wollt, dass euer Forum gewinnt!

Der FiFa-Verlag bittet in der Anzeige zu seinem gerade laufenden Schreibwettbewerb darum, nähere Informationen per E-Mail anzufordern. Das tat ich. Ich erhielt drei Antwortmails. Man wies mich darauf hin, dass die Einreichungsfrist eigentlich abgelaufen sei, ich aber trotzdem noch Texte einreichen dürfe, die dann an eine Jury weitergereicht würden, sobald ich meine Teilnahmegebühr von 10 € bezahlt hätte. Weitere Infos zum Wettbewerb würde ich auch erst nach Bezahlung erhalten. Das Geld würde natürlich gebraucht, um eine CD-R zu brennen, die per Post an alle Teilnehmer geschickt werde und alle Einreichungen als .doc-Files [!] enthalte. Mal abgesehen davon, dass man eine solche CD vielleicht überhaupt nicht haben möchte, weil eh nur ungefilterter Schund darauf ist, ist die auch für jeden, der nicht das teure MS-Office-Packet installiert hat, völlig nutzlos. Es sei denn, sie ist vergoldet, was man bei einem Preis von 10€ für eine postalisch verschickte CD-R mit fucking .doc-files vielleicht erwarten könnte. Wer nun aber partout diese 10 € nicht zahlen möchte, hat natürlich die Möglichkeit, um den Beitrag herumzukommen, z.B. indem er Bücher des Verlages kauft, rezensiert oder aber bezahlte Lesungen des Inhabers an seiner Schule vermittelt und weil es so schön ist und man ja seine E-Mail-Adresse schonmal abgegeben hat, bekommt man auch gleich noch den kostenlosen Newsletter des Verlages im Anhang, ob man will oder nicht. Dass es sich wiederum um ein praktisches .doc-File handelt, erleichtert nur die Entscheidung, es einfach ungeöffnet ins killfile zu hauen, wie es sich für Spam gehört. *PLONK*

Sich dann als anspruchsvoller Online-Poet dann auf die seriösen Wettbewerbe zu stürzen, mißlingt: Beim gerade laufenden Literaturwettbewerb des Hauses der Demokratie darf man nur dann teilnehmen, wenn man eine Veröffentlichung vorzuweisen hat. Die Nachfrage bestätigt, dass Beiträge in Anthologien oder im Internet natürlich nicht als Veröffentlichungen gelten. Lautet die Teilnahmebedingung aber, dass die eingereichten Texte unveröffentlicht sein müssen, wie beim Open-Mike-Wettbewerb der LiteraturWERKstatt Berlin, ist jeder Beitrag in einer Anthologie oder im Internet selbstverständlich eine Veröffentlichung. Nur, wer entweder am Fließband produziert oder sich bereits bei einem Verlag etabliert hat, kann da noch mithalten. Verstehe einer die seltsamen Gesetze der Wettbewerbe und Bewerbungswetten…

Interpretation: Le vampir ~ Charles Baudelaire

Freitag, 08. September 2006

[M]Eine Interpretation

Ich habe einmal gelesen, dass der Deutungsspielraum der symbolistischen Lyrik in der tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt. Ich glaube heute nicht mehr an diese Beliebigkeit, wohl aber an den bewußt geöffneten Deutungsspielraum. „Le vampir„, ein Strophengedicht aus den „Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire führt mir dies immer wieder exemplarisch vor Augen. Viel habe ich darum schon gerätselt und viel glaubte ich darin erkannt und entdeckt zu haben. Mein heutiger Stand der Erkenntnis beruht auf der Annahme, dass der Vampir eine Metapher für eine Emotion ist.

Es wurde aber oft spekuliert, Baudelaire hätte mit dem Vampir auf seine langzeitige Geliebte, die Mulattin Jeanne Duval, angespielt. Ich bin mit solchen biographistischen Thesen äußerst vorsichtig und zurückhaltend und vertraue lieber nur dem, was tatsächlich im Text steht. Als sicher kann diesbezüglich gelten, dass es sich beim Dämon um ein weibliches, lyrisches Du handelt, denn darauf deuten die weiblichen Adverbialformen folle, parée, etc. hin. In ihrer Übertragung schreibt Fahrenbach-Wachendorff: „Du, die wie ein Messerstoß“, um da Zweifel über das Geschlecht auszuräumen. Dass das lyrische Du aber identisch mit dem Vampir ist („Le vampir“ verweist eindeutig auf ein Masculinum), bezweifle ich. Ebenso bezweifle ich, dass das lyrische Ich die lyrische Du töten will, wie man es aus Strophe vier vielleicht herauslesen könnte.

Ich mache meine Interpretation an der These fest, dass das lyrische Ich gar kein Opfer der lyrischen Du ist, sondern vielmehr ein Opfer seiner eigenen Schwäche und dass der Vampir eine Metapher für den daraus erwachsenden und zerstörerischen Selbstkonflikt ist. Gucken wir uns den Text dazu mal genauer an. Das lyrische Ich beschreibt seine Gebundenheit an die lyrische Du (Infâme à qui je suis lié – Ruchlose, an die ich gebunden bin) in Stophe drei als Sucht (Säufer, Spieler). Es ist süchtig nach der lyrischen Du, von deren charismatischer, souveräner Ausstrahlung es sich geradezu magisch angezogen fühlt. Wie überwältigend ihre Erscheinung/ihr Erscheinen auf das lyrische Ich wirkt, beschreibt Strophe eins (Messerstoß, Eindringen, etc.). Es ist von der Situation völlig überrumpelt, es fühlt sich angezogen und ist dieser Anziehung gegenüber völlig machtlos. Es erkennt seine Schwäche und um sich diese nicht eingestehen zu müssen, entwirft es sich in der Opferrolle, sieht sich als Opfer der femme fatale. Klar, so wie sie ihn überwältigt hat, muß es mit böser Magie zugegangen sein, ergo muß Sie ein Dämon sein und dass man gegen einen Dämon nicht bestehen kann, das ist ja wohl logisch.

Ganz so einfach ist es aber für das lyrische Ich dann doch nicht und hier beginnt der spannende Konflikt. Das lyrische Ich bewundert die Dämonin für ihre Macht und Stärke, die Inbegriff dessen sind, wonach es strebt – sein Ideal. Natürlich kommt es davon nicht los. Zugleich sind ihre Tugenden aber Spiegel seiner eigenen Untugend, der Machtlosigkeit und Schwäche, die Inbegriff dessen sind, was es anwidert – sein Spleen. Daher will es von ihr loskommen und jetzt kommen Schwert und Gift ins Spiel. Diese sollen ihm die Feigheit erretten (sécourir la lâcheté), quasi bewahren. Seine Feigheit besteht nämlich darin, dass es lieber den Tod leiden und so vor der schmerzhaften Selbsterkenntnis bewahrt bleiben würde, als sich durch ihre Anwesenheit seine Schwäche eingestehen zu müssen. Aber er ist in der Tat so feige, dass er nicht einmal dazu imstande ist. Der Dialog mit dem ihn auslachenden Schwert und Gift ist Metapher für den Ekel, den das lyrische Ich daraufhin vor sich selbst empfindet. Es ist in eine Sackgasse geraten, aus der es sich nicht mehr herausreden kann. Bringt es sich nämlich um, wäre das eine ebenso deutliche Bestätigung seiner Schwäche, wie es nicht zu tun. Verzweiflung! Sein Vampir (ton vampir – eindeutige Besitz- und Geschlechtszuweisung) ist es, der ihn aussaugt und krank macht, was ihn aber aussaugt, ist sein eigener innerer Konflikt (für den die lyrische Du ja eigentlich überhaupt nichts kann). Mit dem Umstand seines Selbstmordes, das wird ihm durch den fiktiven Dialog bewußt, würde er diesen Konflikt, den er durch den Tod dann beigelegt zu haben glaubt (le cadavre – der Leichnam), aber nur wieder beleben (ressusciter). Das bedrückende Fazit ist, dass der Selbstmord kein Ausweg ist.

Eine Zensur findet nicht statt.

Mittwoch, 06. September 2006

Pamphlet zur Freiheit der zeitgenössischen Kunst und ihrer Schöpfer

Zur Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft heißt es in Artikel 5 GG, die Kunst sei frei und eine Zensur fände nicht statt. Geradezu lächerlich erscheint einem da die Geschichte eines befreundeten Dichters, von der ich schon im Artikel „Mein lyrisches Ich“ berichtete. Dieser Fall spitzt sich nun zu und ich halte es für meine Pflicht als Verfechter der künstlerischen Freiheit, weiter davon zu berichten.

Im August 2005 veröffentlichte der Dichter ein Gedicht mit dem Titel „Befriedigung“, in dem er einen Pädophilen aus der Ich-Perspektive auftreten ließ. Ein Bürger, dem der Text anstößig erschien, zeigte ihn daraufhin bei der Polizei an, die auch promt die Rechner des Dichters konfiszierte, ohne aber irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, dass er sich anders als intellektuell und künstlerisch mit diesem Thema befaßt hätte. Dennoch wird er aufgrund seines Gedichtes nun der Verbreitung von Kinderpornographie beschuldigt und muß sich deswegen demnächst vor einem Gericht behaupten.

Dazu muß man sagen, dass es sich bei besagtem Gedicht nicht um Pornographie, sondern eindeutig um ein Sonett, also Kunst handelt. Wenn wir uns an unseren Deutschunterricht erinnern, wissen wir, dass das Sonett eine der ältesten, strengsten, heute noch beständigen lyrischen Strophenformen ist, quasi eine Königsdisziplin der Dichtkunst. Ihre Ursprünge hatte sie vermutlich im Italien des 14. Jahrhunderts und wurde bereits vom Dante Zeitgenossen Petrarca am kaiserlichen Hof Friedrichs des II. in Sizilien, aber auch von Shakespeare, Gryphius, Rilke, Baudelaire und vielen anderen Größen der Dichtkunst gepflegt. Sie begegnet uns am häufigsten in der Form zweiter Quartette und zweier Terzette, die auf bestimmte Weise gereimt sind und sich zumeist antithetisch gegenüber stehen. Seinen Ursprüngen in der amour courtoise nach ist das Sonett klassischerweise von amourösen Inhalten geprägt.

Mit genau so einem Text haben wir es also im Falle „Befriedigung“ zu tun. Während in den Quartetten auf geradezu klassisch-romantische Weise durch einen Liebespreis eine Liebe-Leid-Problematik vorbereitet wird, kontern die Terzette mit einer Szenerie im Bett bei der Erfüllung der Leidenschaften des lyrischen Ichs. Erst im letzten Vers wird dem Leser schockartig bewußt, an wem das lyrische Ich seine Lust stillst, nämlich an der eigenen Tochter.

Das Gedicht erzeugte, wie vom Dichter provoziert, unterschiedlichste, z.T. heftige Reaktionen, die einen fühlten sich angeekelt, andere hielten es für platt, auf diese Weise Aufmerksamkeit für die eigenen Texte zu heischen, noch andere fanden es toll, wie das Thema umgesetzt war und wieder andere tangierte es zunächst nicht weiter. Zur letzten Gruppe zähle ich mich selbst. Aufmerksam wurde ich auf den Text nämlich erst, als der Dichter um Mithilfe bei der Gegenwehr gegen die Beschlagnahmung seiner Rechner bat.

Natürlich ist „Befriedigung“ anstößig, auch wenn der Text (abgesehen von dem letzten Wort „ficken“) keinerlei anstößige Sprache enthält. Er ist anstößig allein aufgrund seiner Umsetzung, aufgrund des Umstandes, dass hier ein Ich spricht und aufgrund der Tatsache, dass für viele Leser eine Identität zwischen Autor-Ich und lyrischem Ich besteht, von der mir schon in der Schule eingetrichtert wurde, dass sie inexistent ist und dass es höchst bedenklich für die Betrachtung von Kunst sei, von ihr auszugehen.

Also sollte anhand des Textes und der öffentlichen Auseinandersetzung des Dichters mit dem Thema (er veröffentlichte um die selbe Zeit ein Haibun, das sich explizit gegen Kinderpornographie aussprach) doch wohl jedem klar gewesen sein, dass es sich dabei eher um Kunst, denn um Propaganda pro Pädophilie handelt und dass die Aktivitäten seines lyr. Ichs keine Rückschlüsse darauf zulassen, dass der Autor ein Befürworter der Handelungen seines Protagonisten wäre, im Gegenteil. Dem war offenbar nicht so und wenn man die Konfiszierung der Rechner des Dichters vielleicht noch mit dem Argument, man müsse solch einer Sache ernsthaft nachgehen, denn schließlich könne es ja doch sein, dass da was faul ist, zustimmen mag, so überschreitet eine gerichtliche Anklage wegen der Verbreitung von Kinderpornographie meines Erachtens nach deutlich die Grenze in Richtung Kunstzensur. Dagegen sollte ein jeder Künstler, dem seine Freiheit lieb ist, aufbegehren. Schweigt nicht!

Wo kämen wir hin, wenn wir aus Angst vor staatlicher Verfolgung nicht mehr thematisieren können, was möglicherweise Anstoß erregt, wenn wir zweifelhafte Themen, wie Pädophilie oder Terrorismus (um nur die brisantesten Schlagworte zu nennen) nicht mehr auf die Art zur Sprache bringen könnten, die wir uns nach unserem künstlerischen Plan auserkoren haben? Wir würden uns hüten, gefährdete Themen künstlerisch umzusetzen und uns damit im Vorfeld selbst zensieren. Unumstritten große Werke der Weltliteratur, wie z.B. Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ oder Vladimir Nabokovs „Lolita“, wären vielleicht nie entstanden. Welch ein kultureller Verlust wäre das!

Ich denke, durch Vorfälle wie diesen wird der Weg in eine Vorzensur geebnet und Zensur sollte, wie Kurt Tucholsky in seinem Artikel „Kunst und Zensur“ schon erkannte, allenfalls vom Publikum selbst stattfinden, nämlich durch ihre An- oder Abwesenheit bei der Aufführung, sprich ihr Rezeptionsverhalten. Die Vorstellung, dass Menschen vor Inhalten geschützt werden müßten, von denen man annimmt, sie hätten schädliche Auswirkung, ist sowieso eine überkommene. Das wird jedem klar, der sich an die Zensierung von Ovids „Ars Amatoria“ wegen angeblicher Pornographie oder Baudelaires „Fleurs du Mal“ wegen angeblicher Gotteslästerung erinnert, ganz zu schweigen von den systematischen Schriftverboten des NS-Regimes.

Sollte mein Freund und Dichter wegen seines Sonettes tatsächlich der Verbreitung von Kinderpornographie schuldig gesprochen werden, wäre das ein kulturelles Armutszeugnis. Es spräche deutlich für die Aussage des renommierten Kunst-Anwaltes Joachim Kersten: „Die Geschichte der Kunstfreiheit in Deutschland ist eine Geschichte ihrer fortwährenden Einschränkung.“ Ich für meinen Teil werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, dies zu verhindern.

Interpretation: L’Albatros ~ Charles Baudelaire

Sonntag, 27. August 2006

[M]Eine Interpretation

Diese kurze und klassische Interpretation ist als Ergänzung zu meinem Arbeitsblatt-Artikel „Symbolismus“ gedacht. Sie soll einige Merkmale des Stils aufzeigen, wenngleich sich in einem einzelnen Text nicht alles finden lassen wird, was ich in meinem Artikel beschrieb. Aber es lassen sich dennoch gewisse Tendenzen erkennen.

Das Gedicht „L’Albatros“ des Urvaters des Symbolismus, Charles Baudelaire, wurde 1859 erstveröffentlicht und etwas später, 1861, in den Gedichtband Les Fleurs du Mal, das Lebenswerk des Autors integriert. Innerhalb des Gesamtwerkes ist „L’Albatros“ das dritte Gedicht und in seinem Kapitel Spleen et Idéal das zweite. Da der Gedichtband einem durchkomponierten Konzept folgt, ist die Stellung der Gedichte zueinander und deren Unterteilung in Kapitel von großer Bedeutung für die Einzeltexte. Doch auf diese große Bedeutung der Intertextualität der Fleurs werde ich in diesem Rahmen nicht speziell eingehen können.

Formell handelt es sich bei dem Gedicht um einen klar strukturierten Text mit vier Strophen à vier Versen. Die Versstruktur folgt dem französischen Alexandriner, einem 12-hebigen Iambus. Das Reimschema folgt dem Kreuzreim mit abwechselnd betonten und unbetonten Kadenzen. An dieser klassischen und strengen Form erkennt man deutlich das symbolistische Streben nach Formvollendung und Harmnonie innerhalb der poésie pure.

Der Titel, „L’Albatros“, ist demonstrativ und kündigt seine symbolische Hauptfigur, einen majestätisch großen Seevogel, an.

S1:
Die erste Strophe führt uns zunächst in eine Szene des Marinealltags. Matrosen, über Meerestiefen gleitend, fangen sich zum Spaß Albatrosse, die ihr Schiff träge und antriebslos begleiten. Assoziative Wörter wie pour s’amuser (zum Spaß), vaste oiseaux (große Vögel), indolents compagnons (träge, antriebslose Begleiter), de voyage (der Reise), gouffres amers (Meerestiefen) suggerieren dem Leser hier bereits, eine metaphorische Bedeutung der Signifikanten, eine tieferliegende Sinngebung des Gesagten zu vermuten.

S2:
Dieses Bild wird in der zweiten Strophe ausgebaut. Die Matrosen werden zu Schaulustigen, die sich an der Ungeschicktheit der vom Himmel geholten Vögel ergötzen. Der Albatros wird in seiner Divergenz dargestellt. Im Flug, am Himmel ist der weiße Vogel mit seinen weiten Schwingen majestätisch und schön. Nun, da er auf den Boden gezwungen ist, behindern ihn die weiten Schwingen in seinem Gang. Er wirkt komisch, so daß er den Matrosen zur Belustigung gereicht.

S3:
In der ursprünglichen Fassung des Gedichtes fehlte die dritte Strophe. Als es in die Fleurs eingefügt wurde, wurde sie ergänzt. Das dargestellte Szenario wird (einzige Strophe mit holperndem Sprachrfluß) zu einem Bild sadistischer Tiefe ausgebaut. Die Verse eins und zwei bedienen ein Spiel mit den Gegensätzen (Antithesen). Mit Wörtern wie „gauche et veule“, „beau“ oder „comique et laid“ erfährt der Zwiespalt des Vogels eine eindeutige Wertung. Auf der einen Seite ist er schön, wenn er in der Luft fliegt, auf der anderen Seite ist er häßlich und lächerlich, wenn er am Boden gehen muß. Die Qual am Boden wird dem Vogel noch durch die sadistische Schaulustigkeit der Matrosen erschwert, die ihn reizen und nachäffen, sich also an seinem Leid erfreuen.

S4:
Die vierte Strophe, besonders der erste Vers, ist der Schlüssel zur tieferen Bedeutungsebene: Der Dichter gleicht dem Albatros. In den Höhen seiner Geistigkeit fühlt er sich überlegen und narrt die, die ihn anvisieren. Wird er jedoch aus seinem Element auf den Boden (vielleicht in die Kreise gesellschaftlicher Konventionen) geholt, macht man sich über ihn lustig, denn er kann sich dort nicht angemessen bewegen, kann dort nur komisch existieren.

In diesem Gedicht geht es also, wie in so vielen symbolistischen Texten, um die Diskrepanz der menschlichen Seele. Es wird nicht nur die Gegensätzlichkeit des Dichters, sondern auch der Sadismus der anderen Masse aufgezeigt. Darüber hinaus wird durch den Vergleich mit dem Albatros und die Bewertung seiner Situation eine Ambivalenz zwischen Bedauern und Beschimpfen aufgebaut.
Der Albatros ist träger und antriebsloser Begleiter des Schiffes. Er müßte die Qual des Gefangen-Seins nicht erdulden, könnte davon fliegen, tut es aber nicht. Vielmehr gefällt sich der Dichter in diesem Widerspruch aus Qual und Freude und stellt so seinen eigenen Masochismus zur Schau.

Die Bedeutungsebenen des Dichters, des Albatroses und der Matrosen fließen ineinander, es findet ein ständiger Rollentausch statt. Mehrere Bewußtseinsebenen werden verflochten, der Quäler wird zum Gequälten und wird in seinem Masochismus wieder zum Quäler. Der Dichter wird in seiner Menschlichkeit, nicht mehr als Genie auf dem Elfenbeinturm, sondern als mit den Eindrücken kämpfender, sich ständig selbstreflektierender Mensch gezeigt, der selbst in seiner Animalisierung noch Ästhetik sieht.

Insgesamt haben wir es also mit einem sehr repräsentativen Text zu tun, der nicht umsonst an dritter Stelle der Fleurs und an zweiter innerhalb des Kapitels Spleen et Idéal steht.
Beitrag bearbeiten/löschen

Symbolismus

Sonntag, 27. August 2006

SYMBOLISMUS (ca. 1870 – 1900)

kulturhistorische Hintergründe

Der Symbolismus ist eine literarisch-geistige Strömung die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend seit 1890 in ganz Europa verbreitete. Die relativ homogene Gruppe der Symbolisten wandte sich gegen die vorherrschende Wissenschaftsgläubigkeit (Sientismus), den flachen Fortschrittsoptimismus und den positivistischen Empirismus der bürgerlichen Welt, die besonders durch den Erfolg der Pariser Weltausstellung (1889) etabliert worden waren. In deutlicher Abkehr von der objektiven Wirklichkeitswiedergabe des Naturalismus und Realismus und der Beschreibungslyrik der Parnasse durchbrachen sie mit ihren Prinzipien die normativen Traditionen der Académie française und wurden so zu Wegbereitern der literarisch-künstlerischen Moderne. Sie setzten sich gegen die Zweck- und Anlaßgebundenheit und die Funktionsbestimmung von Kunst zu Wehr (L’art pour l’art) und lehnten sich im Versuch der Poetisierung einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt gegen alle Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft und deren Moral auf.

Inhalte/Ziele

Die Gemeinsamkeiten der Vertreter des Symbolismus liegen eher auf thematisch-geistiger Ebene, eher im Lebensgefühl als auf stilistischen Merkmalen. Die Poeten zielten in erster Linie auf die Erneuerung der Lyrik (im Gegensatz zum realistischen Roman), deren Hauptwerte auf kunstvoller Form, Klang und Wortmagie lagen. In ihrer Abkehr von der realistischen Beschreibung des Objekts und ihrem Streben nach einer perfekt schönen Dichtersprache (poésie pure) bevorzugen sie das Schaffen von Kunst aus der Erinnerung, der Vorstellungskraft. Hinter den Dingen, Erscheinungen, Wortfassaden und Sprachgesten sollen tiefere, verborgenere Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität erschlossen werden. Dies gipfelt in dem Versuch, Hintergründiges, Irrationales und Geheimnisvolles vernehmbar zu machen; so ist das Irdische nur Symbol für die jenseitige, eigentliche Welt. Das künstlerische Ideal des Symbolismus strebt eine weitestgehende Autonomie der Symbole an, deren Betonung im bewußten Abstand der Sprachzeichen zu deren konventioneller Bedeutung liegt. Dies führt zur Problematisierung der im unpoetischen Sprachraum vorherrschenden Eindeutigkeit der Sprache und eröffnet dem Leser einen neuen, breiteren Deutungsspielraum, der z.T. in einer tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt.

Themen/Bilder/Ästhetik

Die Lyrik des Symbolismus thematisiert vorallem die Diskrepanzen der menschlichen Seele, ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung; dies äußerst sich z.B. in der Darstellung diverser Dualismen: Aufschwung und Verzweiflung, Reinheit und Schmutz, Genuß und Ekel, Spleen und Ideal, etc. In ihrer Symbolhaftigkeit und Musikalität wendet sich die lyrische Sprache an die suggestive Aufnahmefähigkeit des subjektiven Menschen. Traum- und Alptraumbilder überlagern sich, Rauscherlebnisse werden ästhetisiert, die Spannbreite der Äußerungen reicht von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit.
Gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, findet der poète maudit durch die Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satansichen“ Charakters den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft okkultgefärbten Ästhetizismus. In einer autonomen Idee des Schönen und nach dem PrinzipL’art pour l’art wird der Dandy zur literarischen Leitfigur. Ihm entgegen steht die femme fatale, die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis. Sie erscheint in zahlreichen Symbolgestalten, als Chimäre, Sphinx oder Salomé.

Künstlerideal

In seinem Essay, „Le peintre de la vie moderne“ (1863), manifestiert Charles Baudelaire das moderne Künstlerideal im Bild des mit den Eindrücken und Erinnerungen fechtenden Dichters. Kunst würde sich aus der Spannung zwischen Ewigem und Vergänglichem speisen. Damit die Reizüberflutung der Moderne (Schockerlebnisse durch Eindrücke, die beim Flanieren durch die Großstadt das Bewußtsein des Menschen treffen) nicht zur Orientierungslosigkeit wird, muß der Dichter am Abend das Erleben von Ewigem und Vergänglichem in einem Kampf mit den Impressionen der Erinnerung reflektieren. Dabei isoliert er das Ewige vom Vergänglichen. Das latent Schöne in allen Dingen wird herausgearbeitet und idealisiert. Im Schaffensprozess werden die Erinnerungen an Erlebtes fixiert und durch die Verdichtung des latent Schönen entsteht wahre (künstliche) Schönheit.

Leitbegriffe

  • l’art pour l’art: Kunst um der Kunst Willen; ästhetisches Prinzip nach dem das Kunstwerk als eigengesetzlich, eigenwertig und frei von allen Bindungen religiöser, ethischer und politischer Art betrachtet wird
  • poète maudit: der verfluchte Poet, dessen Trauer und Unzufriedenheit aus der unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach Ganzheit entsteht; Selbsdefinition der symbolistischen Dichters
  • poésie pure: reine, formvollendete, ästhetisch-schöne und autonome Dichtersprache; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter
  • vers libre: der freie Vers, eine Mischung aus Prosa und Lyrik, dessen Freiheit nicht in seiner Beliebigkeit, sondern in der Umsetzung der poésie pure gesehen wird
  • Dandy: literarische Leitfigur, die dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt
  • femme fatale: die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis des Mannes
  • fin de siècle: Bezeichnung für die Zeit der Jahrhundertwende, in der auch mit der Strömung der Decadence die Ästhetisierung einer Endzeit- und Katastrophenstimmung aufkam; findet ihren theoretischen Ausdruck vorallem in der Formulierung der Krise
  • Autonomie der Symbole: die Symbolhaftigkeit der Sprache geht über die Grenzen der bildhaften Darstellung abstrakter Begriffe und Vorstellungen hinaus und führt zur Mehrdeutigkeit; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter

Stilmerkmale

  • autonome Symbole
  • beinahe fanatische Ausarbeitung der sprachkünstlerischen Mittel: Sprachdichte, Suggestion, Assoziation, Rhythmus, Verflechtung mehrerer Bewußtseinsebenen
  • Auswahl von Wörtern mit assoziativer Klangwirkung
  • sprachkünstlerische Akzentuierung von Rhythmus, Melodie, Satzbau in der poésie pure
  • Ineinanderfließen und Überlagern von Bildern und Metaphern
  • Herstellung von Synästhesien, die auf sprachmagische Weise, durch Lautmalerei, Klangfarbe und Sprachmusik Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren
  • Allegorismus
  • Esotherik
  • Exotismus
  • Erotizismus
  • schwarze Religiosität („Satanismus“)
  • Stilisierung der Weltentrückung durch den Drogenrausch: hauptsächlich Opium, Haschisch und Absinth

Wegbereiter/Vertreter/Anhänger

  • W. Blake [1757 – 1827] (England)
  • E.A. Poe [1809 – 1849] (England)
  • A.C. Swinburne [1837 – 1909] (England)
  • O. Wilde [1854 – 1900] (England)
  • Ch. Baudelaire [1821 – 1867] (Frankreich)
  • S. Mallarmé [1842 – 1898] (Frankreich)
  • P. Verlaine [1844 – 1896] (Frankreich)
  • A. Rimbaud [1854 – 1891] (Frankreich)
  • J. Moréas [1856 – 1910] (Frankreich)
  • E. Verhaeren [1855 – 1916] (Belgien)
  • J.K. Huysmans [1848 – 1907] (Frankreich; Roman)
  • M. Maeterlinck [1862 – 1949] (Belgien; Drama)
  • G. d’Annunzio [1863 – 1938] (Italien)
  • in Dtl. traf der Symbolismus mit der Neuromantik und dem Impressionismus zusammen (u.a. bei E.T.A. Hoffmann)

weiterführende Literatur

  • Jean Moréas „Mannifeste du Symbolisme“ in Le Figaro, 1886
  • R. Delevoy „Der Symbolismus in Wort und Bild“, Skira. Stuttgart 1979
  • B. Delavaille „La poésie symboliste“, Paris. Sehgers 1971
  • A.G. Lehmann „The Symbolist Aesthetic in France. 1885 – 1895“, Basil. Blackwell. Oxford 1950
  • P. Hoffmann „Symbolismus“, Fink. München 1987
  • A. Simonis „Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne“, Niemeyer. Tübingen 2000

Quellen:

  1. M. Naumann (Hrsg.) „Lexikon der französischen Literatur“, VEB Bibliographisches Institut. Leipzig 19871
  2. „Bertelsmann Lexikon. In 15 Bänden“, Band 14. Stick-Venn, Bertelsmann Lexikothek Verlag GMBH. Gütersloh 1991F

__________
Am Gedicht „L’Albatros“ von Charles Baudelaire habe ich eine Beispielinterpretation mit Hauptaugenmerk auf der Herausarbeitung symbolistischer Stilmerkmale gemacht.

Interpretation: Nänie ~ Friedrich Schiller

Mittwoch, 23. August 2006

[M]Eine Interpretation

Gerade habe ich Schillers Nänie wiederentdeckt, die ich 2005 in Vorbereitung auf ein Konzert näher in mich aufsog. Die Nänie ist ein römisches Klagelied, eine Todesklage und damit mit der klassischen Strophenform der Elegie, dem Distichon verbunden. Der Text teilt sich von der Argumentation her in drei Teile. Zunächst steckt der erste Hexameter den thematischen Rahmen ab. Verschiedene Anspieungen auf die griechische Mythologie liefern Exempel, aus denen am Ende ein Schluß gezogen wird.

Die Schönheit ist mächtig, denn sie vermag es nicht nur Menschen, sondern auch Götter zu bezwingen. So zum Beispiel den stygischen Zeus, Hades, den sonst so eisernen Gott der Unterwelt. Hades, der durch Orpheus‘ kunstvollen Gesang und Saitenspiel erweicht wurde, erlaubte dem griechischen Sänger seine tote Braut, die Nymphe Eurydike, vom Tod zu befreien; dies aber unter der Bedingung der Persephone, beim Aufstieg aus der Unterwelt voranzugehen und sich nicht umzusehen. Als die Nymphe die Hand ihres Geliebten Orpheus berührt, dreht dieser sich jedoch um und Eurydike muß in der Unterwelt bleiben. Hades ruft sein Geschenk zurück.

Auch Aphrodite liebt, und zwar den schönen Knaben Adonis. Als dieser auf der Jagd von einem wilden Eber, dem verkleideten Ares, verletzt und getötet wird, bewahrt die Schaumgeborene Göttin ihn jedoch nicht vor dem Tod (denn auch das Schöne muß sterben). Ebenso handelt Thetis, die Meeresnymphe, Mutter des nahezu unverwundbaren Kriegers Achilleus, der im Trojanischen Krieg (das skäische ist das große Westtor der trojanischen Befestigungsmauer) auf Seiten der Griechen kämpft und durch einen vergifteten Pfeil des Paris getötet wird.

Aber mit den Töchtern des Meeresgottes Nereus steigt sie aus der Ägäis und beklagt den Tod des geliebten Sohnes. Mit ihr weinen die Göttinnen und Götter um die Vergänglichkeit des Schönen und Vollkommen – die Liebe spricht daraus. Denn in der Klage um den Geliebten lebt die Schönheit weiter. Die Liebe adelt den Geliebten, macht ihn schön und unterscheidet ihn darin vom Gewöhnlichen. Denn das Gemeine geht klanglos, unbeklagt, ungeliebt, unschön zum Orkus, dem römischen Gott der Unterwelt, hier wohlgemerkt in negativer Konnotation (vgl. Pluto), hinab.

Schiller bedeutet auf eindrucksvolle Weise, dass es die Liebe eines anderen Menschen ist, die einen Menschen schön macht und dass darin, in der Liebe, dieser überwältigenden und bezwingenden Macht, die Schönheit weiterlebt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich!

Baudelaire. Portrait eines poète maudit

Montag, 24. April 2006

Charles Baudelaire, der am 9. 4. 1821 in Paris geboren wurde, gilt heute als das wahre Sinnbild des poète maudit – das verkannte Genie, das ewig durch die grausame, unschöne Welt ziehen muß, Liebe suchend und Elend findend. Doch der Flaneur Baudelaire hat seine Geburtsstadt selten verlassen. Nachdem er 1836- 39 das Collège Louis- le- Grand besucht hatte, führte er als Dandy ein freies Leben in der Pariser Bohème, wo er u.a. Nerval, Champfleury, Gautier, Dupont, Balzac und seine langjährige Geliebte Jeanne Duval kennenlernte. Obwohl er nie ein festes Metier hatte, arbeitete er gelegentlich als Kunst- und Literaturkritiker, Journalist oder Redakteur. Doch sein Streben nach einer perfekt schönen Dichtungssprache, veranlaßt ihn bald, sich auf das Schreiben von Gedichten zu konzentrieren. In vollendet schönen Versen bringt er nun sein unüberbrückbares Leid und seine Unerfüllten ästhetischen Sehnsüchte in einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt zum Ausdruck. Meist sucht er den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft mystisch und okkult gefärbten Ästhetizismus.

In seinem 1857 erscheinenden Gedichtband „Les Fleures du Mal“, seinem Haupt- und Lebenswerk (an einigen Gedichten arbeitete der Poet über dreißig Jahre), thematisiert Baudelaire die Diskrepanzen der menschlichen Seele. Er verdeutlicht ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung, Reinheit und Schmutz, Aufschwung und Verzweiflung, Genuß und Ekel- eben Spleen und Ideal, wie einer der Auszüge aus dem Band betitelt ist. Da es Baudelaire als seine Aufgabe ansieht, eine zeitlose, absolute und autonome Idee des Schönen in der Poetisierung der Gegenwart zum Erscheinen zu bringen, ist seine poetische Leitfigur der Dandy, der Flaneur, der dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt und gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, durch Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satanischen“ Wesens revoltiert. Deutlich tritt in den „Fleures du Mal“ Baudelaires leidenschaftliche Auflehnung gegen alle Konventionen der trivial- bürgerlichen Gesellschaft, Moral und Religion hervor. So reichen seine Textinhalte von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit. Doch der Poète maudit ist seiner Zeit weit voraus und noch im selben Jahr werden die „Fleures“ wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral gerichtlich angeklagt und einige Gedichte daraus sogar verboten.

Dennoch schafft es Baudelaire, einen Kreis von Dichtern um sich zu scharen, die durch Moreas, der der neuen Strömung ihren Namen gibt, bald als Symbolisten bekannt werden. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, u. a. berufen sich auf das Prinzip L’ Art pour l’ art, welches das Kunstwerk als ein eigengesetzliches und eigenwertiges Gebilde ansieht, das frei von allen Bindungen ist, ob religiöser, ethischer oder politischer Art. Auf die unbedingte Verständlichkeit ihrer Werke kommt es ihnen nicht mehr an. Ihr Hauptwert liegt vielmehr in der kunstvollen Form, der Klang- und der Wortmagie. So nutzen sie Wörter mit assoziativen Klangwirkungen und sprachkünstlerische Akzentuierungen von Rhythmus, Melodie und Satzbau. Durch Klangfarbe, Sprachmusik und Lautmalerei werden geschickt Synästhesien hergestellt, die Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren. Traum- und Albtraumbilder überlagern sich, fließen ineinander und verschmelzen. Angestrebt wird eine weitgehende Autonomie der genutzten Symbole. Diese soll eine Verschlüsselung des Gemeinten bewirken und bietet so nicht nur Spielraum für die Interpretation der Werke, sondern führt sogar bis hin zur tendenziellen Beliebigkeit ihrer Sinngebung. Denn das Ziel der Symbolisten war es, hinter den Erscheinungen, Zuständen, Wortfassaden und Sprachgesten tiefere, verborgene Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität zu erschließen.

Mit seinem 1868 im Postum erschienen Werk „Petits Poèmes en Prose“ ebnet Baudelaire den Weg für den Vers libre. Er berichtet von Rauscherlebnissen in „Les Paradies artificiels. Opium et Haschisch“ und schreibt zahlreiche kunstkritische Aufsätze, wie „La Peintre de la vie moderne“ oder „Curiosité esthétique“. Auf einer Reise durch das ihm verhaßte Belgien kommt es 1866 auf Grund von Konflikten mit Verlegern, Presse und Zensur und durch seinen exzessiven Lebensstil zum gesundheitlichen Zusammenbruch Baudelaires. Am 31. 8. 1867 verstirbt er in Paris und hinterläßt seinen Anhängern eine moderne, zeitgemäße, jedoch zugleich überzeitliche Lyrik.

Nov. 2001
__________

  • Ch. Baudelaire: Les Fleures du Mal, franz./dt. Reclam 1998
  • Die französische Literatur, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1988
  • Lexikon der französischen Literatur, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1987
  • J.P. Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Rowohlt 1997
  • Bertelsmann Discovery, 1997