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Précis: Text, Interpretation, Methode

Donnerstag, 04. Oktober 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich den Aufsatz „Text, Interpretation, Methode“ von Klaus Weimar, darin er versucht, den drei zentralen und transdisziplinären Begriffen anhand ihres Alltagsgebrauchs aus ihrer Schwammigkeit zu verhelfen. Klaus Weimar ist seit 1982 Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.

Text, Interpretation, Methode ~ Klaus Weimar

Ich habe mir mal den Aufsatz „Text, Interpretation, Methode“ durchgelesen. Darin unternimmt Klaus Weimar den Versuch die drei zentralen und transdisziplinären Begriffe Text, Interpretation und Methode, die in ihrer Bedeutung entweder vieldeutig oder verwirrend sind, zu klären, d.h. ihnen sinnvolle und möglichst gleichbleibende Bedeutung zuzuteilen. Dabei wählt er wie W. Strube den Weg über die Alltagssprache, mit deren Hilfe er auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „Text“, sowie „Methode“ hinweist. Ferner versucht er ein Phänomen zu finden. Welches sinnvoll mit dem Wort „Interpretation“ zu versehen wäre. Der Thematik des Aufsatzes nach, ist selbiger gegliedert.

1. Text

Der systematisch mehrdeutige Begriff „Text“ verändert, so Weimar, seine Bedeutung mit der Maßgabe des damit verbundenen Verbs. Er kommt zu drei differenzierten Begriffen von Text: a) dem gesehenen Text, b) dem gelesenen Text und c) dem verstandenen Text. Verändert das Verb die Bedeutng des Substantivs mit dem es in Verbindung steht, hieße das also der gesehene Text ist anders als der gelesene, ist anders als der verstandene Text. Dies wird von Weimar an einigen einleuchtenden alltagsspachlichen Beispielen verdeutlicht.

Weimar führt seinen Versuch noch weiter, indem er den Text als Produkt des Sehens, des Lesens und des Verstehens zum Eigenprodukt der Rezeption erklärt. Demnach ist mit der Produktion von Schrift und Sprache eine Auto-Rezeption, mit der Rezeption von Schrift und Sprache eine Auto-Produktion verbunden. Damit weist Weimar auf das Kardinalproblem der Verstehenstheorie hin. Eine Rezeption, die Eigenprodukt ist, kann nicht Reproduktion von etwas Fremdem sein, da in dem Moment, da der gesehene Text gelesen wird, selbiger neu entsteht, d.h. neu produziert wird. Den Anspruch der Rezeption Reproduktion zu sein, hält Weimar für paradox, denn das einzig Fremde der Rezeption ist der gesehene Text, welcher weder Intention, noch Botschaft, Bedeutung, Sinn, etc. beinhaltet.

2. Interpretation

Auf die Klärung der irritierenden Vieldeutigkeit der Bedeutung von „Interpretation“ zielt der zweite Abschnitt ab. Weimar macht hier den Vorschlag eines differenzierten Begriffs von Interpretation, nachdem die Interpretation als Teil der Rezeption dem Textlesen und Textverstehen folgt und also diese beiden vorraussetzt.
Dem Problem der Textinterpretation nähert er sich über die Gesprächssituation. Gesagtes, das gegen die sogenannte Konversationsmaxime verstößt, wird in rezeptiver Tätigkeit sofort auch interpretiert. Der Zuhörer versucht also über die Bedeutung des Gesagten (intentio recta) hinaus auch die Bedeutung des Sagens an sich (intentio obliqua), d.i. die pragmatische Bedeutung des Gesagten, zu verstehen. Die Ermittlung des Implikaten der Rede setzt wiederum das Verstehen der Wort- und Satzbedeutung, also der intentio recta vorraus. Laut Weimar erfüllt dieses Phänomen die Bedingungen für die Verwendung des Wortes „Interpretation“.

Auch die Textinterpretation visiert die besondere Organisation der „Textwelt“ an und bemüht sich um das Verstehen der intentio obliqua. Allerdings handelt es sich beim Text nur um das Fragment einer Rede. Interpretiert wird also nicht das Fremde der Rezeption, der gesehene Text, sondern das Eigene, der gelesene und verstandene Text. Wie bei der Rede, setzt auch das das Verstehen der intentio recta vorraus.

In Abgrenzung zum Textverstehen und Textinterpretieren erscheint das Wort „Allegorese“. Diese beschäftigt sich mit der Ermittlung der Bedeutung des Bedeuteten, einer Bedeutung durch zwei Instanzen, wie Weimar es nennt, also nicht mit dem Verstehen der intentio obliqua. Laut Weimar sollte die Allegorese deshlab keinesfalls mit dem Wort „Interpretation“ bedacht werden, sondern weiterhin Allegorese heißen.

Weimars eindeutige Definition lautet also wie folgt: Interpretation „[…] ist ein Verstehen inentione obliqua, das pragmatische Bedeutung bestimmt.“

3. Methode

Über die Frage nach dem „Wie“ der Interpretation kommt Weimar zum Begriff der „Methode“, ein Wort das sowohl in pluralistischer Bedeutung, Methoden als mehrere konkurrierende und grundsätzlich auswechselbare Arten oder Varianten derselben Tätigkeit, oder in singularer Bedeutung, Methode als Tätigkeit von einer besonderen Qualität, vorkommt.

Auch hier knüpft er an den Verstehensbegriff an. So kann Verstehen Methode haben, wenn es einige qualitative Bedingungen erfüllt, d.h. wenn es theoretisch über sich selbst aufgeklärt ist. Nur methodisches Verstehen bringt der Hermeneutik einen Nutzen; hermeneutisch aufgeklärtes Verstehen muß, so Weimar, ein Verständnis von der Eigenproduktivität bei der Rezeption haben, das fremde des Textes vom Eigenprodukt differenzieren und methodisch Interpretieren.

Textverstehen hingegen kann mehrere Methoden haben, je nach dem wie bei der Rezeption auf die Differenz von Lektüre- und Gesprächssituation reagiert wird. Diese Differenz liegt, laut Weimar, in der Abwesenheit der Produktionsrepräsentanz. Die verschiedenen Verstehensmethoden bestehen also darin, mit dieser Abwesenheit unterschiedlich umzugehen.

Die methodische Interpretation kennt ihre Risiken, weiß bei jedem Schritt, was sie tut und weiß deshalb auch um ihren Geltungsanspruch, der sich, so Weimar, von der Illusion und Behauptung löst, die mens autoris reproduziert zu haben.

Mai 2003

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Quelle: Klaus Weimar: Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen, in: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990). Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 110-122

Seminararbeit: Text, Intention und Analogie

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Text, Intention und Analogie. Ein Aufsatz über Umberto Ecos Theorien zu Interpretation und Überinterpretation, Humboldt Universität Berlin, Sept. 2003
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Textverstehen. Einführung in die literarische Hermeneutik” der Neueren deutschen Literatur, geleitet von Herrn Dr. Carlos Spoerhase]

1. Ecos Interpretationstheorie – Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“

Hermeneutik, Semiologie und Literaturwissenschaft, diese drei Disziplinen beschäftigen sich mit der Suche nach der Natur des Verstehens. Die Hermeneutik sucht nach allgemeinen Strukturen des Verstehens, die Semiologie sucht nach dem Verstehen von Zeichensystemen, die Literaturwissenschaft sucht nach dem Verstehen literarischer Werke. So entwickelten sich im letzten Jahrhundert zahlreiche Methodiken des Verstehens, wobei dem Verstehen von Schriftsprache besondere Aufmerksamkeit zuzukommen scheint.

Auch der durch seinen Roman „Der Name der Rose“ als Autor bekannt gewordene Semiologe Umberto Eco hat sich in zahlreichen seiner theoretischen Schriften mit der Frage nach dem Verstehen von Zeichensystemen befasst. Besonderes Gewicht legt er dabei auf die Methodik der Interpretation literarischer Werke.

Im Gemenge der verschiedenen theoretischen Ansichten und Definitionen vertritt Eco eine moderate Zwischenposition, mit der er sich zwischen den extremen Positionen der Autorintentionalisten und denen der Rezeptionstheoretiker ansiedelt. Während die Autorintentionalisten nach der einen wahren Interpretation, die das Ergebnis der Suche nach den Absichten des Autors darstellt, suchen, stehen die Rezeptionstheoretiker für die uneingeschränkte interpretative Freiheit des Rezipienten und die Unendlichkeit der Interpretation ein.

Nach Ecos Ansicht ist die Absicht eines Autors in seinem Text jedoch nicht mehr zuverlässig nachweisbar. Eine solche Suche erscheint Eco nahezu aussichtslos und ferner wenig produktiv. Außerdem kann ein Text mehr bedeuten, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat. Aus diesem Grund findet ein aufmerksamer Interpret mehr Bedeutungen in ihm, als der Autor bewusst in sein Werk hineinlegte. Doch Eco will den Schritt zur Unendlichkeit der Interpretation nicht gehen. Seine Interpretation soll, als Suche nach seiner Bedeutung, dem Werk treu bleiben. Wären die Bedeutungen eines Werkes unendlich und jeder Rezipient könnte verstehen, was ihm beliebt, so wäre, wie Eco meint, das Nachdenken über Literatur und jegliche Interpretation als Versuch der Erklärung überflüssig.

Eco selbst bezeichnet seine Interpretationstheorie als Oszillation zwischen Werktreue und Initiative des Interpreten oder auch als Dialektik von „Freiheit und Gebundenheit“1. Für ihn gibt es nur einen Ort, an dem die Suche nach der Bedeutung eines Textes eine produktive Lösung finden kann, nämlich den Text selbst. Der Text ist das einzige, was dem Rezipienten vorliegt, nur er kann und soll Kriterium seiner Lesarten sein. Eco definiert also seine Interpretation nicht als Suche nach der intentio auctoris (Absichten des Autors), auch nicht als Oktroyieren der intentio lectoris (Absichten des Rezipienten), sondern als Suche nach der intentio operis, nach den Absichten des Werks selbst.

In dieser Theorie versucht Eco seine zunächst gegensätzlich anmutenden Ziele, zum einen das Plädoyer für die Offenheit eines grundsätzlich mehrdeutigen Kunstwerks, zum anderen die Begrenzung der rezeptionellen Freiheit des Interpreten, zu vereinen. Um zu verstehen, wie das funktionieren soll, ist es wichtig, die Beziehung zwischen Werk und Rezipient zu klären.

Dazu erklärt Eco: „[…] dem Funktionieren von Kunst [liegt] die Beziehung zum Interpreten zugrunde […].“2 Diese Beziehung sei der Natur, dass das Werk seinen Rezipienten, der über einen bestimmten Verständnishorizont verfüge, als Interpreten einplane. So schaffe sich das Werk seinen „Ideal-Reader“3 selbst; es stelle gewisse Forderungen an den Leser, der das Werk zu verstehen suche. Die Initiative seitens des Lesers bestehe nun darin, einige Vermutungen über die intentio operis aufzustellen, die dann im Verlaufe der Lektüre vom Text bestätigt oder widerlegt würden. Darin bestehe die Dialektik: Der Leser öffne das Werk durch seine beliebigen Hypothesen, das Werk aber schütze sich selbst, indem es die Unendlichkeit dieser Hypothesen begrenze.

Dies legt die Annahme nahe, dass es gute und schlechte Interpretationen gibt. Um diese zu unterscheiden beruft sich Eco auf sein sogenanntes „Popper-Prinzip“, wonach zwar nicht gesagt werden könne, welche die richtige Interpretation sei, Fehlinterpretationen aber identifiziert werden könnten. Dabei wird die vom Interpreten aufgestellte Hypothese an der Kohärenz des Gesamttextes gemessen. Trifft eine Hypothese auf einen Teil des Textes zu und wird auch von anderen Textstellen nicht entkräftet, ist sie plausibel. Wird diese Hypothese jedoch durch irgendeine Textstelle ad absurdum geführt, muss sie als Fehlinterpretation verworfen werden. Als Interpretation kann also nur gelten, was funktioniert und eine Erklärung des Textes als kohärentes Ganzes leistet. Diesen Punkt will ich jedoch später noch einmal genauer aufgreifen.

Ecos Interpretation ist also eindeutig eine extrem textualistische Lesart. Es gibt darunter zwei verschiedene Typen: Zum einen gibt es die semantische Interpretation, die eine neue Erklärung der semantischen, linearen Textwelt sucht. Zum anderen gibt es die kritische Interpretation, die zu erklären versucht, durch welche Struktur ein Text zu seinen potentiell unendlichen Lesarten anregt, wobei ästhetisch anspruchvollere Texte beide Interpretationstypen vorsehen. Jedoch muss der Rezipient bei der Interpretation die vom Text vorgegebene, mögliche Welt respektieren. Wo das nicht passiert oder wo die Suche nach der intentio operis nur eine untergeordnete Rolle spielt, möchte Eco nicht länger von Interpretation, sondern von Gebrauch sprechen.

Beim Textgebrauch werden dem Werk außertextliche Möglichkeiten aufgezwungen. Um ihn für seine Interessen (die intentio lectoris) einzunehmen, zwängt der Rezipient einen Text in ein von ihm vorgefertigtes Muster. Darunter fällt z.B. die mittelalterliche Allegorese antiker Texte, die in Odysseus beispielsweise eine Jesusfigur erkennt. (Diesen ansonsten lächerlichen Interpretationen ist jedoch anzurechnen, dass sie die antiken Texte vor dem entgültigen Verlust gerettet haben.) Einige seiner Kollegen sind mit Ecos Unterscheidung nicht einverstanden, doch auch auf diesen Punkt will ich später genauer eingehen.

2. Die intentio operis – Interpretation im Sinne des Textualismus

In seinen semiologischen Schriften lässt Umberto Eco die intentio operis zum zentralen Terminus seiner Interpretationstheorie avancieren. Dass dieser Begriff in enger Verbindung zu Ecos Textualismus steht und ihm deshalb besonders wichtig zu sein scheint, habe ich bereits weiter oben erwähnt. Diese Verbindung will ich an dieser Stelle genauer erläutern und weiterhin auf die Probleme eingehen, die der Begriff intentio operis mit sich bringt.

Die Suche nach der intentio operis ist für Eco die zentrale Aufgabe der Interpretation. Die Absichten des Autors, sowie die des Lesers werden dabei in den Hintergrund gerückt, wenn nicht sogar vernachlässigt. Der Leser stellt dabei Vermutungen über die intentio operis an, die Indizien des Textes stärken oder schwächen diese Vermutungen und nach dem Ausschlussprinzip entsteht die Interpretation, die sich am Textganzen beweisen muss. So stimuliert und reguliert das Werk selbst die Freiheit des Interpreten. „Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes […].“4

In dieser Formulierung sieht Eco seine Ziele verwirklicht. Dem Kritiker Hans-Harald Müller fällt dabei jedoch eine Unstimmigkeit auf. Wenn die Interpretation eine Konjektur über die intentio operis ist, die sich aber gleichzeitig an der intentio operis falsifiziert, dann muss demzufolge die intentio operis bereits bekannt sein, bevor entschieden wird, ob die Vermutung, die wir erst noch über sie anstellen, richtig oder falsch ist. Das klingt Müller doch allzu sehr nach einem klassischen hermeneutischen Zirkel und genau das wirft er Eco vor. Die intentio operis scheitert als falsifizierende Instanz an ihrer Zirkularität.5

Auch Eco selbst scheint dieses Problem zumindest bemerkt zu haben: „Der Text ist […] ein Objekt, das die Interpretation bei dem zirkulären Versuch, sich aufgrund dessen zu bestätigen, was sie konstituiert, selber schafft.“6 Ich hingegen sehe das etwas anders und finde mich an anderen Stellen von Eco selbst bestätigt. Vielfach betont er in seinen Schriften, dass sich die Hypothesen des Interpreten über die intentio operis nicht an der intentio operis selbst bewähren müssen, sondern am Text als kohärentes Ganzes.

Meiner Meinung nach gibt es einen Unterschied zwischen der Absicht eines Werkes und seiner Kohärenz. Natürlich folgt seine Kohärenz einer bestimmten Absicht, diese ist jedoch nicht unweigerlich nach der ersten Lektüre bekannt. Ganz im Gegensatz zur Textkohärenz, die nach einmaliger Lektüre logisch nachvollzogen werden kann. Denn jede Geschichte folgt in ihrer Handlung (und Bedeutung) einer logischen Stimmigkeit innerhalb der Welt, die sie sich selbst geschaffen hat. Da der Mensch fähig ist, diesen logischen Zusammenhang zu erkennen, kann er in Filmen beispielsweise Regiefehler entdecken und nur aus diesem Grund kann er Vermutungen über die Bedeutung einer bestimmten Handlung anstellen.

Die Interpretation als Suche nach der intentio operis, fragt also nach der Bedeutung von Indizien innerhalb der Logik des Textes. Darum tritt Eco auch für den Respekt vor der vom Werk geschaffenen, möglichen Welt ein, deshalb plädiert er für den Textualismus. Er fragt: „Wie verhärtet man eine Hypothese über die intentio operis? Man kann die Vermutung nur am Text als einem kohärenten Ganzen überprüfen.“7 Weiter sagt er: „Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallenzulassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht. Insofern diszipliniert die interne Textkohärenz die ansonsten chaotischen Impulse des Lesers.“8 Da sich also eine Vermutung an der Textkohärenz, nicht aber an der Textintention bestätigt, muss die intentio operis nicht definiert sein, bevor sie definiert sein kann und somit haben wir es auch nicht mit einem hermeneutischen Zirkel zu tun.

Sofern meine Vermutungen also stimmen, legt Eco hier eine durchaus logische Methodik des Verstehens von Texten vor. Dennoch gibt es einen Punkt an dem der Terminus intentio operis fragwürdig, wenn nicht problematisch erscheint. Mit dieser Ansicht finde ich in Müller einen Verbündeten. Er wirft Eco vor, den Begriff vermenschlichend zu verwenden, weist darauf hin, dass ein Text keine Absichten habe, er könne nicht stimulieren, auch nicht regulieren und er sei nicht in der Lage, sich selbst zu schützen.

Es ist durchaus nicht kleinlich, einen solchen Punkt zu kritisieren. Eco selbst plädiert für eine „kritische Metasprache“ bei der Interpretation.9 Einen solch zentralen Terminus, wie ihn der Begriff der intentio operis darstellt, innerhalb seiner Theorie aber metaphorisch oder anthropomorph zu verwenden, widerspricht offensichtlich der von Eco selbst gewünschten Neutralität der wissenschaftlich-theoretischen Sprache.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller beginnt seinen Vortrag „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“10 mit der Feststellung, dass die Lektüre hermeneutischer Texte einen Logiker vor verschiedene Probleme stellt, die sich unter anderem dadurch einstellen, dass die Theoretiker oft unbewusst eine bildhaft-metaphorische Sprache verwenden und dazu neigen Objekt- und Metaebene zu vermischen. Eine solche Vermischung liegt meiner Meinung nach auch in Ecos Fall vor.

Der Begriff intentio operis fördert die trügerische Annahme, hinter einem Text stehe kein Autor mehr und der Text selbst wäre bei der Kommunikation mit seinem Rezipienten zu gewissen Handlungen fähig. Das ist jedoch nicht der Fall. Obgleich seine Absichten bei der Rezeption irrelevant sein mögen, steht hinter dem Werk noch immer der empirische Autor. Wenn Eco also verdeutlichen will, dass ein Text mehr bedeuten kann, als sein Autor ursprünglich beabsichtigt hat, dann wäre es vorteilhafter in Begriffen wie empirischer und exemplarischer Autor bzw. Leser zu sprechen.

3. Überinterpretation – bedeutende und unbedeutende Analogien

Aus den oben stehenden Ausführung wird deutlich, dass Umberto Eco die Grenzen seiner Interpretation innerhalb der Möglichkeiten des zu interpretierenden Textes setzt. Dennoch will er auch innerhalb der durch ihren Textualismus genehmigten Interpretationen ein gesundes Maß beibehalten. Er unterscheidet deshalb nicht nur zwischen der Interpretation und dem jenseits des Textualismus liegenden Gebrauch von Texten, sondern innerhalb der Interpretation auch zwischen vernünftiger und paranoider Interpretation oder einfach zwischen Interpretation und Überinterpretation. Wo aber zieht Eco hier die Grenzen?

Das menschliche Denken basiert auf dem Erkennen von Identität und Ähnlichkeit. Dinge können einander ähnlich sein aufgrund ihrer Form, so wird eine Brille oft als Nasenfahrrad bezeichnet. Sie können analog sein aufgrund von Farbähnlichkeit, Kontextbezogenheit, Metonymie und vielem mehr. So akzeptiert ein Leser Schneewittchens blutrote Lippen oder weiß, dass ein sich bewaffnender Held gerade seine Rüstung anlegt und sein Schwert ergreift.

Jede aufgespürte Ähnlichkeit verweist aber auf eine weitere Ähnlichkeit und so kann aus einem bestimmten Blickwinkel alles mit jedem ähnlich oder vergleichbar sein. Es bauen sich sogenannte Assoziationsketten auf: Bei einem Zusammentreffen mit Schneewittchens blutroten Lippen wird vielleicht der Kuss assoziiert, beim Kuss die Liebe, bei der Liebe vielleicht der oder die Geliebte, andererseits könnten die blutroten Lippen auch auf eine andere Person mit blutroten Lippen verweisen und der Kuss auf die gleichnamige Skulptur von A. Rodin und so fort. Daraus wird deutlich, dass Sprache sehr unbestimmt sein kann und dass es demnach sehr schwierig ist, sie zu verstehen.

Wer im Alltag verstehen will, muss zunächst die erste Bedeutungsebene der Sprache, den wörtlichen Sinn erkennen, danach gilt es, zu entscheiden, welche Analogien bedeutsam, welche unbedeutsam für das Verständnis eines bestimmten Kontextes sind. Ebenso funktioniert es laut Eco bei der Interpretation. Eine vernünftige Interpretation unterscheidet sich von einer paranoiden eben dadurch, dass sie die Bedeutsamkeit von Analogien erkennt.

Bei der Interpretation gilt es, zunächst zu klären, welche Indizien im Text auf Analogien verweisen. Ein Signifikant steht dann für ein anderes Signifikat, wenn es sich nicht sparsamer erklären lässt, wenn es auf eine Einzelursache verweist und wenn es zu den anderen Indizien passt. Bei der Überinterpretation werden, so Eco, meist schon diese Indizien überbewertet.

Sind Analogien festgestellt, muss deren Relevanz überprüft werden. Das geschieht mit Hilfe der sogenannten Textisotopie. Darunter versteht Eco den thematischen Kern eines Textes, dem sich jedes Indiz unterordnet, den Kontext. Eine relevante Analogie darf innerhalb einer konstanten Isotopie nicht zu untypisch sein: „Wir können nur solche Merkmale als relevant und sachdienlich anerkennen, die jeder Beobachter erkennen würde – selbst wenn sie bis dahin unbemerkt blieben […].“11

Der Kritiker Jonathan Culler tritt hingegen energisch für die von Eco kritisierte Überinterpretation ein. Nur eine ins Extrem getriebene Interpretation könne fruchtbar und produktiv sein, denn sie rege zum Nachdenken über die Wirkungsweise und Funktion von Literatur und der Struktur der Sprache an.

Die Überinterpretation fördert neue bisher unbeachtete Zusammenhänge und Implikationen zutage, weil sie Fragen aufwirft, die der Text dem exemplarischen Leser gar nicht stellt. Deshalb nennt Culler die von ihm favorisierte Art der Interpretation auch Überfragung und versucht sie dadurch vor der Gefahr, unter die von Eco als Gebrauch kritisierten Interpretationen zu fallen, zu schützen. Die Überfragung versucht, „die semiotischen Mechanismen der Literatur, die unterschiedlichen Strategien ihrer Form systematisch zu verstehen“12 und ist deshalb eine Form der Literaturkritik.

Auch Umberto Eco spricht diese Art von Interpretation an, indem er auf den Unterschied zwischen semiotischer und kritischer Lesart hinweist. Wo die semiotische Interpretation nach einer neuen Wahrheit innerhalb der Textlinearität sucht, sucht die kritische Interpretation nach einem geheimen Code, nach der Strategie, nach der ein Text unendlich viele Lesarten intendiert. Ecos kritischer Leser ist also Cullers überfragendem Leser gar nicht so unähnlich.

Die kritische Lesart entzieht sich durchaus nicht dem von Eco angepriesenen Textualismus – Culler hat also nicht wirklich etwas zu befürchten. Auch Eco ist sich sicher, dass das Staunen Anfang aller Erkenntnis ist und dass die Überfragung eines Textes eine Notwendigkeit des menschlichen Bemühens um Verständnis darstellt. Dennoch möchte er im Gegensatz zu Culler Grenzen der Interpretation gesetzt wissen und setzt diese auch ohne auf die Kritik Cullers mit handfesten Gegenargumenten zu erwidern.

4. Resümee

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Umberto Eco durchaus ein Theoretiker ist, der Grenzen der Interpretation erkennt und definiert. Als Textualist stellt der Text selbst das einzige Kriterium seiner Interpretation dar. Nach den „Absichten des Textes“ wird gesucht, am Text wird die Beweisführung für Annahmen und Thesen festgemacht und falsifizierende Instanz für gute und schlechte Interpretationen ist ebenfalls der Text.

Innerhalb dieser Grenzen kann es aber verschiedene Formen von Interpretation geben. Was einmal die semiologische Lesart ist, ist ein andermal die kritische und wieder ein andermal sind beide Typen vereint.

Als „legitime“ Befragung des Textes kann es unabhängig vom Interpretationstypus weiterhin vernünftige und paranoide Interpretationen geben, wobei die paranoide Interpretation von Eco Überinterpretation genannt wird. Diese beiden unterscheiden sich durch den Umgang mit den im Text befindlichen Indizien für Analogien. Diese Analogien geben Aufschluss über die zweite Bedeutungsebene der Sprache. Sie zu verstehen ist wichtig, denn sie trägt erheblich zum Gesamtverständnis der übermittelten Textbotschaft bei.

Die Überinterpretation aber verkennt die Signifikanz bestimmter Indizien, hält sie für bedeutender als es die Textisotopie legitimieren würde. Sie überfragt den Text, um neue Erkenntnisse über die allgemeine Natur von Literatur und Sprache zu gewinnen. Als Literaturkritik konzentriert sie sich somit auf Probleme, die über die eigentliche Aufgabe der Interpretation, der Textbotschaft zum Verständnis zu verhelfen, hinausragen.

In dieser Klassifizierung sehen einige Kritiker, wie Jonathan Culler, die Freiheit des Rezipienten bedroht. Sie werfen Eco eine zu strenge Handhabung vor. Diese Kritik möchte Eco jedoch zurückweisen. Deshalb betont er immer wieder, auch er stehe für die Offenheit des Kunstwerkes und die potentielle Unendlichkeit der Interpretation ein. Seine Interpretation stelle aber eine Dialektik von Offenheit und Gebundenheit dar.

Quellen

  • Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 19992
  • Umberto Eco „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation“. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1996
  • Tom Kindt und Hans-Harald Müller. Hrsg. „Ecos Echos“. Wilhelm Fink Verlag. München 2000

Sept. 2003
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  1. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.1 Archäologie [p. 33]
  2. ebd.
  3. ebd.
  4. ebd., Einleitung [p.22]
  5. Hans-Harald Müller „Eco zwischen Autor und Text. Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie“ in „Ecos Echos“ T. Kindt und H.-H. Müller (Hrsg.), [p.143]
  6. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.6 Interpretation und Vermutung [p.49]
  7. Umberto Eco „Überzogene Textinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.73]
  8. ebd.
  9. Umberto Eco „Die Grenzen der Interpretation“, 1.7 Die Falsifizierung der Fehlinterpretation [p.51]
  10. Wolfgang Stegmüller „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“ in „Natur und Geschichte. X. Deutscher Kongress für Philosophie.“ K. Hübner und A. Menne (Hrsg.)
  11. Umberto Eco „Erwiderung“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.156]
  12. Jonathan Culler „Ein Plädoyer für die Überinterpretation“ in „Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation.“, [p.128]

Seminararbeit: Musica son

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Musica son. Betrachtung eines Madrigals des italienischen Trecento-Komponisten Francesco Landini und seines historischen Kontextes, Freie Universität Berlin, Mar. 2004
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400” der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Propositio

« Musik um 1400 » ist der Titel des Proseminars Probleme und Methoden der Musikwissenschaft in diesem Semester. Dass das Thema in diesem Zusammenhang besprochen wird, lässt zu mindest vermuten, dass die Zeit um 1400 und der Diskurs darüber für den Musikwissenschaftler eine gewisse Herausforderung darstellen.

Thematisiert wurden vor allem Aspekte französischer Musik der Ars Nova und Ars Subtilior, deren Formen, deren Komponisten, deren Quellen und deren Kontroversen. Für mich stellte es in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, durch ein Referat in die italienische Musikkultur der Ars Nova einzuführen. Ich versuchte dieser Aufgabe durch die Analyse des Madrigals « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » gerecht zu werden.

In meiner Hausarbeit soll es nun darum gehen, diese Analyse und einige weitere, im Referat aufgeworfene Themen zu komplettieren und zu verschriftlichen. Dabei soll, neben der ausführlichen Formanalyse, auch das Verhältnis von Landinis Musik zum italienischen bzw. französischen Stil betrachtet werden.

In einer kurzen Einführung, « Landini und das Trecento », werde ich die kulturellen Grundlagen des italienischen Stils und einige Begebenheiten aus Francescos Biographie besprechen. Dem folgt die Analyse des Madrigals, bei der ich, vom Allgemeinen ausgehend, zu den speziellen Betrachtungen kommen werde. Dabei soll zunächst der Text, dann die Musik betrachtet werden. Eine selbst erarbeitete Statistik wird die Darstellung harmonischer Begebenheiten unterstützen.

Zum Ende meiner Ausführungen will ich mit wenigen Worten das Thema « Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87 » anreißen. Jedoch soll dieses nicht ausgeweitet werden, sondern lediglich die in der Analyse besprochenen Argumente unterstützen.

Die Hauptquellen, auf die sich meine Argumente stützen, werden innerhalb der Tractatio genannt werden. Eine ausführliche Quellenangabe findet sich zusammen mit diversen Noten, dem Gedichttext mit Übersetzung und einer Tabelle im Anhang meiner Arbeit.

2. Tractatio
2.1 Landini und das Trecento

Die Zeit des Trecento, außerhalb Deutschlands als italienische Ars Nova bezeichnet, war eine Zeit politischer Wirren. Zahlreiche Kämpfe zwischen kaiserlichen und freien Städten Italiens und zwischen Kaiserreich und Frankenreich auf italienischem Boden brachten wechselnde Bündnisse, Siege und Niederlagen gleichermaßen. Der Verfall der Stauferherrschaft nach dem Tod Friedrichs II. (1250) und die Regentschaft der französischen Päpste in Avignon (1305 – 1387) griffen das Vertrauen in die „alte Ordnung“ stark an.

Das Trecento war die Zeit der großen Hungersnöte und schrecklichen Pestepidemien (1348/49 & 1361/62), die das Volk zu Tausenden dahinrafften. Und dennoch entwickelte sich gerade in dieser Zeit eine eigenständige und reiche italienische Kultur.

Diese Entwicklung stand sicherlich in engem Zusammenhang mit dem italienischen Städtetum, dem florierenden Handel, der Ausbildung politischer und kultureller Zentren im Norden und der Mitte Italiens und natürlich der Existenz wohlhabender Förderer italienischer Kunst. Die Namen der Familien Visconti in Mailand, Scaliger in Padua und später der Medici in Florenz sind bis heute bekannt.

Auch in Italien war die Kunst ein Privileg der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, hauptsächlich des gehobenen Bürgertums der freien Handelsstädte und klerischer Kreise.

Voraussetzung für die kulturelle Blüte war die Entwicklung einer eigenständigen, italienischen Literatursprache durch die sizilianisch-toskanische Dichterschule unter Dante Alighieri, der auch die Dichter Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio angehörten. Sie bildeten in ihrer Lyrik den sog. dolce stile nuovo aus, der bald starken Einfluss auf die zeitgenössischen Komponisten ausübte. Es kam so zur Kultivierung neuer Formen der Lied- und Dichtkunst, wie der Canzona, dem Madrigal, der Ballata und der Caccia.

In der Musik, herrschten ein- und zweistimmige Kompositionen ohne liturgischen Tenor vor. Isorhythmie und Diminutionstechniken, wie sie die französische Motette pflegte, fanden wenig Anwendung. Kultiviert wurden eher kanonische Techniken, besonders in der Caccia. Bezeichnend für den italienischen Stil ist heute vor allem die enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik, die sog. poesia per musica. Die Struktur der Liedsätze ist unmittelbar vom Vers geprägt.

Das Trecento entwickelte sogar eine eigenständige Notation, ein Divisionssystem nach Petrus de Cruce. Doch alles in allem blieb der italienische Stil in der Folgezeit nicht frei von französischen Einflüssen.

Francesco Landini oder Franciscus Landino, von mir im Folgenden als Francesco bezeichnet, ist ein Komponist der „zweiten Generation“. Aus musikalischen Quellen ist er uns als Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia, Francesco degli Orghani oder Coechus de Florentia bekannt. All diese Bezeichnungen beziehen sich entweder auf seine Heimat Florenz, seine Erblindung oder seinen Beruf als Organist. Die Verbindung mit der Familie Landini kann erst durch die Verwendung des Landini-Wappens auf Francescos Grabstein und durch die Schriften seines Großneffen Christoforo Landino, in denen er Erwähnung findet, hergestellt werden.

Geboren um 1325 oder 1335 in Fiesole oder Florenz (weder Geburtsjahr, noch -ort sind urkundlich belegt) wendet sich Francesco früh der Musik zu. Aus Villanis Chronik « Liber de originis civitatis Florentiae et eiusdem famosis civibus » wissen wir, dass er als Kind durch eine Pockenerkrankung erblindet ist. Diese Erblindung hält ihn jedoch schon zu Lebzeiten nicht davon ab, als Meister der Improvisation, besonders auf der Orgel gerühmt zu werden.

1361 wird Francesco Organist im Kloster Santa Trinità in Florenz, 1365 Capellanuns an der Kirche San Lorenzo ebendort. Aus dieser Zeit sind uns zahlreiche Quellenbelege überliefert, die uns Auskunft über Francescos Leben und Wirken in Florenz geben.

Auch in der Literatur seiner Zeit taucht Francesco auf. In Giovanni da Pratos Ramanza « Il paradiso degli Alberti » wird von Zusammenkünften im Landhaus der Florentiner Bankiersfamilie Alberti berichtet, bei denen er sich geistreich an gelehrten und politischen Diskussionen beteiligt.

Am 2. September 1397 stirbt Francesco in Florenz. Er wird am 4. September in der Kirche San Lorenzo beigesetzt.

Uns sind 154 Werke des Komponisten aus verschiedenen Quellen überliefert: Ballaten, Caccias, Madrigale, Motetten und ein französisches Virelai. Die erhaltenen Werke machen etwa ein Viertel des gesamten überlieferten weltlichen Trecento-Repertoires aus. Die breite und zahlreiche Überlieferung seiner Werke, besonders in norditalienischen Quellen, spricht deutlich für deren damalige Beliebtheit.

2.2 « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli »
2.2.1 Der Text

Francescos dreistimmige Komposition « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den einschlägigen Quellen, diversen Lexika, sowie musikwissenschaftlichen Texten als Madrigal anerkannt.

Das Madrigal, marigale, wie es in Venedig oder madriale, wie es in der Toskana genannt wird, ist in seinen Ursprüngen eine von Petrarca, weniger von Dante gepflegte und kultivierte poetische Gattung. Etymologisch stammt das Wort vermutlich von [lat.] „matricalis“, was soviel bedeutet wie „von der Mutter her, in der Muttersprache“. Es handelt sich beim Madrigal um ein muttersprachliches, also italienisches Gedicht.

Formell besteht es aus einer beliebigen Anzahl an Terzetti (Strophen à drei Verse). Jeder Vers eines Terzetts besteht aus sieben oder elf Silben und weist den gleichen Endreim auf (Schema a-a-a). Jedem Terzett kann ein ein- oder zweiversiges Ritornell folgen, das einen anderen Endreim bringt (Schema b-[b]).

Petrarca behandelt im Madrigal noch vorrangig pastorale Themen. Die arkadischen Inhalte weichen jedoch mit der Zeit zunehmend autobiographischen, symbolischen, moralischen oder politischen Topoi.

Der Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » (Anhang B) stammt vermutlich von Francesco selbst. Es gibt jedoch auch Überlegungen, die Zweifel an seiner Autorschaft aufkommen lassen und aufgrund mangelnder Beweise kann ihre Authentizität nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Im Aufbau folgt der Text den Konventionen der Madrigalform. « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » besteht aus drei Strophen à einem Terzett, jeweils mit zweiversigem Ritornell. Zählt man die Silben, wobei man die zahlreichen Elisionen beachten muss, wird man feststellen, dass jeder Vers mit elf Silben bestückt ist. Einzig die Endreime des ersten und letzten Terzetts weichen vom traditionellen Reimschema ab.

In musikwissenschaftlichen Textbesprechungen wird immer wieder auf den „autobiographischen“ Inhalt des Madrigals hingewiesen. Der Terminus „autobiographisch“ ist jedoch sehr ungenau. Der Text kommuniziert einen kritisch-moralischen Inhalt auf metatextueller Ebene. Frau Musika beklagt sich über die Verderbtheit des Publikums, der „cavalieri, baroni e gran signori“ und über das mangelnde Bestreben der Künstler nach Perfektion, „tendo ogun le sue autenticitate“. Es finden sich sogar performative Sprachelemente, wie „inarrar musical note“. Dies hat wohl zu der weit verbreiteten Annahme geführt, es handle sich um einen autobiographischen Text.

Mit seinem kritischen Inhalt steht der Text in engem kulturellen Zusammenhang mit Themen, wie sie in den Rahmenhandlungen des « Decameron » oder in « Il paradiso degli Alberti » besprochen werden und kann deshalb als besonders repräsentativ gelten.

2.2.2 Die Musik

Im frühen Trecento entwickelt sich das Madrigal, später von der Ballata abgelöst, zur häufigsten Liedgattung. Seine musikalische Struktur ist ganz der italienischen Tradition der poesia per musica verpflichtet, d.h. vom Text geprägt. Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B, der in deutlicher Abgrenzung zu A meist in einer anderen Mensur steht. Die Verse werden derart vertont, dass es auf jeder ersten und vorletzten Silbe zu ausgedehnten Melismen kommt. Interpunktiert wird in der Regel am Versende auf reinen Konsonanzen.

Es gibt sowohl zweistimmige, als auch dreistimmige Kompositionen. Der Tenor erklingt meist eine Quarte oder Quinte unter dem Superior. Er hat begleitenden Charakter und ist im Unterschied zum französischen Stil textiert. Der Superior weist kürzere Notenwerte, einen lebhafteren und primären Charakter auf. Die Ambitus beider Stimmen haben vornehmlich den Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde. In einer zweistimmigen Komposition verlaufen diese beiden Stimmen kreuzungsfrei.

Eine dreistimmige Komposition entsteht aus der Ergänzung der Zweistimmigkeit durch eine dritte Stimme, den Contratenor. Dieser kann verschiedene Funktionen übernehmen. Er kann im Charakter sowohl einem zweiten Superior entsprechen, als auch eine ruhigere Mittelstimme sein oder aber als Fundament fungieren, ähnlich wie ein zweiter Tenor. Danach, welche Funktion der Contratenor übernimmt, unterscheiden sich die Arten des dreistimmigen Madrigals.

Vom italienischen Stil wird oft berichtet, er mute wie eine Improvisation an. Die freie Wahl von Kadenztönen, der ungebundene Umgang mit der Vertonung von Elisionen und relativ häufig auftretende offene Unisono-, Quint- oder Oktavparallelen begründen wohl dieses Empfinden.

Der repräsentative Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » und sein kritischer Inhalt evozieren bereits große Erwartungen an deren musikalische Umsetzung. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität von Francescos Komposition kann die Textabsicht souverän transportieren. Dass sie der Wertschätzung anderer Künstler gerecht wird, bezeugt die breite Überlieferung in mindestens fünf verschiedenen Quellen.

Schon die Dreistimmigkeit des Tripelmadrigals zeugt von hohem musikalischem Anspruch. Der Text der drei Strophen erklingt simultan in allen drei Stimmen, so dass es während des Vortrags zu einer besonderen Mehrtextigkeit kommt. Das ist ungewöhnlich.

In der Tradition der Madrigalform splittet sich das Musikstück in erwarteter Weise auf: Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B. Während Teil A eine imperfekte Mensur aufweist, wird in Teil B durch die Punktierung der ersten Longa (Anhang C3) eine Dreizeitigkeit erzeugt. In Ms. Mediceo-Palatino 87 hat der Kopist darüber hinaus ein Mensurzeichen gesetzt, das Dreizeitigkeit anzeigt.

Initialklang und Schlusskadenz des A-Teils werden von vollkommenen Konsonanzen gebildet. Am Anfang des B-Teils steht ein vollständiger Dreiklang mit großer Terz. Der Dreiklang ist aus England bekannt. Dass er hier einen Initialklang bildet, kann wohl als besonders gelten. In der finalen Kadenz enden die drei Stimmen in einem Unisono.

Der Tenor bildet als tiefste Stimme das Fundament der Komposition. Er verläuft ruhiger als der Superior und hat begleitenden Charakter. Der Superior ist bewegter, hat kürzere Notenwerte und zeugt von größerer rhythmischer Vielfalt. Der Contratenor wird als zweiter Superior gebraucht.

Contratenor und Superior sind sich also rhythmisch und melodisch sehr ähnlich. Häufig umspielen und kreuzen sie einander, ahmen einander nach. Bei der Nachahmung handelt es sich jedoch nicht um eine Kanontechnik, wie man sie in der Caccia antrifft, sondern eher um eine freie und bruchstückhafte Imitation kürzerer Floskeln. Auffällig treten diese Imitationen in den Takten 20-22, sowie 29-30 (Anhang C1) zwischen Superior und Contratenor in Erscheinung. Im B-Teil findet sich eine Imitation zwischen Superior und Tenor in den Takten 76-77. In Anhang C1 habe ich diese Stellen braun gekennzeichnet. Marginalere Imitationen unter den Stimmen lassen sich auf Floskelbildung zurückführen, auf die ich später noch ausführlich kommen werde.

Der Tenor mit genauem Ambitus einer Oktave berührt den Contratenor relativ häufig. In den Takten 43 und 76 kommt es zur Kreuzung zwischen beiden Stimmen. Den eine Quinte höher gelegenen Superior berührt der Tenor weniger oft. Es kommt nicht zur Stimmkreuzung. Einzige und sehr interessante Ausnahme bildet hier Takt 56 (Anhang C2), in dem der Tenor kurz vor Ende des A-Teils mit einer großen Geste zur höchsten Stimme aufsteigt.

Zwar haben Superior und Contratenor den gleichen Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde, die Ambitus sind im selben Stimmraum gelegen und die beiden Stimmen sind sich auch sonst sehr ähnlich. Da aber der Tenor öfter mit dem Contratenor als mit dem Superior in Berührung kommt, kann man daraus erkennen, dass der Contratenor durchschnittlich tiefer gelegen ist und sich meist zwischen Tenor und Superior ansiedelt.

Die im italienischen Stil übliche Textvertonung mit Melismen auf der ersten und vorletzten Silbe jedes Verses befolgt Francesco zwar, jedoch nicht äußerst streng. Auf vorletzter Silbe finden sich besagte Melismen, in Anhang C1 grün markiert, immer. Die Melismen auf der ersten Silbe, in Anhang C1 orange markiert, werden innerhalb des Stücks, besonders im B-Teil, z.T. übergangen.

Eine interessante Folge der Mehrtextigkeit des Stücks ist die lineare Klauselbildung. Die drei Stimmen, die den Text simultan vortragen, erreichen die Versenden, die ich in C1 blau markiert habe, zu unterschiedlicher Zeit. So kommt es, dass jede Stimme einzeln und für sich interpunktiert, wobei ich in dem Fall von den simultanen Kadenzen der Initial- und Finalklänge absehe.

Die Klauseln auf den Tönen d bzw. a, auf e in Takt 18 und cis in T. 75 zeugen von einem harmonischen Konzept. Von freier Wahl der Kadenztöne kann hier freilich nicht die Rede sein. Die Ambitus, sowie die Stimmräume der einzelnen Stimmen lassen eine klare Organisation der Kadenzbildung innerhalb des dorischen Modus erkennen.

Die Versenden und –anfänge sind jeweils durch Longapausen voneinander getrennt. Einzige Ausnahme bilden die Takte 37-38 im Tenor, wo Versende und –anfang durch ein untextiertes Zwischenspiel aneinander gebunden werden. Ein weiteres Zwischenspiel dieser Art findet sich in den Takten 21-24 im Tenor. Hier folgen jedoch vor Beginn des nächsten Verses die zwei Longapausen. Dass es untextierte Zwischenspiele gibt, stützt die Vermutung, dass die Stimmen während des Vortrags instrumental begleitet wurden.

Die in der französischen Motette so häufig angewandte Isorhythmie findet sich in diesem italienischen Lied nicht. Auch längere Synkopenketten, wie sie in Ars Subtilior-Kompositionen gepflegt wurden, sind hier nicht vorhanden. Der Rhythmus dieser Komposition ist eher von einer markanten rhythmischen Formel, ss saas v, geprägt (wobei s eine Sechzehntelnote, a eine Achtelnote und v eine Viertelnote repräsentiert). Diese Formel nimmt, da sie in linearer Abfolge oder mit mindestens einem Wendepunkt in ähnlicher Art immer wieder auftaucht, den Status einer Floskel ein. Sie findet sich in den Takten 6, 39, 69, 77 und 80 im Superior, in den Takten 2, 10, 11, 35, 46 und 49 im Contratenor und in Takt 76 in bedeutender imitatorischer Anwendung im Tenor.

Insgesamt werden die in der Ars Nova üblichen Notenwerte, Longa, Brevis, Semibrevis und Minima verwendet. Triolen oder andere kleinste Divisiones des „Brevis-Taktes“, wie sie in den Kompositionen der „ersten Generation“ üblich sind, bringt Francesco nicht. Das vorhandene rhythmische Material wird jedoch in verschiedenen Kombinationen ausgeschöpft, wobei meist sanfte Übergänge zwischen den Polwerten Longa und Minima gemacht werden.

In Teil A kommt es zwischendurch immer wieder zu beinahe homophonen Ruhepunkten, besonders auffällig zu beobachten in den Takten 3 und 23. Solche Ruhepunkte fehlen in Teil B völlig. Insgesamt lässt sich sagen, dass Teil B sowohl rhythmisch, als auch melodisch und in logischer Folge dessen harmonisch bewegter ist.

Das harmonische Gefüge des Stücks kann anhand der Transkription in moderner Notenschrift (Anhang C1) und der nach dieser Transkription edierten Midi-Notation (Anhang C2) sehr schnell in statistischen Aussagen über reine Klangsituationen zusammengefasst werden. So finden sich insgesamt 70 direkt angesungene vollkommene Konsonanzen in dem Stück, wobei es nur 3 mal zum Unisono kommt (T. 33, T. 70, T. 94) und 38 direkt angesungene unvollkommene Konsonanzen.

Die direkt angesungenen dissonanten Klänge halten sich in ihrer Zahl zurück. Diese, in Anhang C1 orange gekennzeichnet, treten hauptsächlich auf leicht gewichteten oder kurzen Notenwerten auf. Die einzig signifikante Dissonanz ist das direkte mi contra fa in Takt 69. Man mag aber annehmen, dass die damaligen Sänger, auch ohne vorgezeichnetes Akzidentium, solchen Zusammenklängen ausgewichen sind.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass es innerhalb des Stücks zu 41 direkt angesungenen vollständigen Dreiklängen kommt. Dies zeugt davon, dass der Harmonie hier besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ähnlich wie es innerhalb der Kontrapunktik in der frühen Neuzeit praktiziert wird. Ein weiterer Umstand, der für den hohen Anspruch der Komposition spricht.

Die Aussagekraft dieser Statistik (Anhang D) ist jedoch begrenzt. Zwar lassen sich ungefähre Verhältnisse erkennen, dennoch geben die Zahlen lediglich Hinweise auf die Quantität, nicht aber die Qualität einer harmonischen Erscheinung. So muss z.B. der initiale Dreiklang zu Beginn des B-Teils sehr viel schwerer gewichtet werden als die Dreiklänge die sich in Takt 67 ergeben.

2.3 Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87

Die Werke Francescos sind in mehreren Trecento-Quellen überliefert. Das Madrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den meisten als von Francesco stammend vermerkt. Die Authentizität seiner Autorschaft als Komponist kann dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Über die Entstehungszeit des Madrigals scheint Unklarheit zu herrschen. So gibt das Neue Handbuch der Musikwissenschaft an, es handle sich um ein eher spätes Werk, das um 1375 entstanden sei. Die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart meint jedoch, die Werke mit zweitem Superior seien vor 1375 entstanden. Da uns die Entstehungsumstände des Stücks nicht bekannt sind, ist es schwer eine vertrauensvolle zeitliche Einordnung vorzunehmen.

In der Prachthandschrift Ms. Mediceo-Palatino 87, dem „Squarcialupi-Codex“, leitet « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » das Kapitel des Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia ein. Da die Auswahl der aufgeführten Stücke bewusst getroffen und die Anordnung durchdacht und geplant ist, mag diese Stellung bezeichnend für die Bedeutung des Madrigals innerhalb des Œuvres des Komponisten sein.

Der Codex, benannt nach seinem ersten Besitzer Antonio Squarcialupi, später im Besitz der Medici, stellt die umfangreichste und prachtvollste Liedersammlung des Trecento dar. Er reiht Komponisten wie Giovanni da Cascia und Jacopo da Bologna, Gherardello da Firenze, Vincenzo da Rimini oder Antonius Zacharias de Teramo (Magister Zacara) auf. Insgesamt finden sich darin 354 Werke von 12 verschiedenen Komponisten, jeweils in „Kapiteln“ chronologisch angeordnet. Mehr als ein Drittel der Werke stammt von Francesco.

Die Pracht der 216 Pergamentfolianten liegt vor allem in ihrer reichen Ausstattung begründet. Jedes Kapitel wird von einer fein illuminierten und aufwändig mit Blattgold verzierten Miniatur, einem Portrait des Komponisten, eingeleitet. Aus diesen sog. historisierten Initialen können noch heute viele interessante Erkenntnisse gewonnen werden.

Der Anhang C3 stellt eine Abschrift der Gallo-Faksimile-Ausgabe des Squarcialupi-Codex dar. Sehr gut kann man erkennen, dass das Stück zwar, wie es in Italien üblich war, auf sechs Notenlinien notiert ist, dass es sich aber um französische Notation handelt. In diesem Fall ist das keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der Darstellungsmöglichkeiten.

Im italienischen Divisionssystem lassen sich Synkopen, die über den „Brevis-Takt“ hinausgehen, nicht oder nur sehr schwer darstellen. In « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » würden bei dem Versuch bereits in Takt 2 Probleme auftreten. Die rhythmischen Elemente des Superiors,  und des Contratenors, , sind nicht sinnvoll durch italienische Notation auszudrücken. Da dies nicht die einzige Stelle ist, an der Komplikationen auftreten würden, muss das gesamte Stück in französischer Notation festgehalten werden.

Dies ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Francesco nicht wie seine Vorgänger Jacopo da Bologna oder Giovanni da Cascia rhythmisiert. Für deren Stücke bot sich die italienische Notation noch an. Hier weicht Francesco jedoch in der Rhythmisierung bereits deutlich vom italienischen Stil, wie ihn die Komponisten der „ersten Generation“ prägten, ab. Eine Notation im Divisionssystem kommt für Francescos Musik bereits nicht mehr in Frage.

3. Conclusio

Francesco Landini hinterlässt uns mit dem Tripelmadrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » eine Trecento-Komposition, die einen sehr hohen musikalischen Anspruch verfolgt und den Wandel der Gattung Madrigal zu einer exklusiven und repräsentativen Form bezeugt. Vieles daran bedient noch die „alten“ Traditionen der Komponistengeneration, die bereits um 1340-50 in Norditalien gewirkt und den „typisch“ italienischen Stil begründet hat. Anderes daran ist neuartig und zeugt von einem individuellen Umgang mit französischen Einflüssen.

Da Francescos Autorschaft für den Text als nicht gesichert gelten kann, lassen sich hier wenig direkte Aussagen über sein Verhältnis zum italienischen Stil machen. Allein die Tatsache, dass er die im frühen Trecento äußerst beliebte Form des Madrigals und einen solch repräsentativen italienischen Text zur Vertonung gewählt hat, bringt die enge Verbundenheit mit italienischen Traditionen deutlich zum Ausdruck.

Die Struktur des Stücks und die Anlage der Stimmen folgt durchaus den bekannten Regeln der poesia per musica. Darüber hinaus bemüht sich Francesco um die Anwendung verschiedenster klanglicher Raffinessen, die neuartig wirken und den künstlerischen Anforderungen des Textes Genüge leisten. Dazu zählen die Mehrtextigkeit und die kühne Stimmkreuzung in Takt 56 genauso, wie die Anwendung der zahlreichen Dreiklänge oder der rhythmischen Floskel.

Von einem improvisatorischen italienischen Stil kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Stück mutet unerwartet organisiert und durchdacht an. Kompositorische Ungeschicktheiten, wie unangenehme dissonante Zusammenklänge oder Parallelbewegung in den Stimmen, sind dieser Komposition so gut wie fremd.

Die Abkehr vom italienischen Divisionssystem und aller damit verbundenen kompositorischen Eigentümlichkeiten und die Hinwendung zu rhythmischen Gestaltungsmitteln, die nur in französischer Notation sinnvoll ausgedrückt werden können, lassen hier einen direkten französischen Einfluss erkennen.

Das Werk « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » steht in der Linie italienischer Tradition und darüber hinaus für die große Begabung und die stilistische Individualität seines Komponisten.

Die Anhänge

Die Anhänge umfassen vier Teile. Ein PDF mit den kompletten Anhängen kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: Musica son – Appendices

  • A: Literatur- und Quellenverzeichnis
  • B: Madrigaltext und Übersetzung
  • C: Noten
    • C1: moderne Edition/Transkription
    • C2: Edition in „Midi“-Notation
    • C3: diplomatische Abschrift
  • D: Statistik

März 2004

Seminararbeit: Das Liederbuch der Anna von Köln

Donnerstag, 20. September 2007

Das Liederbuch der Anna von Köln. Ein Aufsatz über Ms. germ. oct. 280 und seinen Bezug zur Devotio Moderna mit anschließender Handschriftenbeschreibung, Freie Universität Berlin, Sept. 2007 [Abschlußarbeit zum Proseminar „Handschriftenkunde“ der Älteren Deutschen Literatur und Sprache, geleitet von Frau Dr. Britta-Juliane Kruse]

1. Einleitung

Diese Hausarbeit soll mein Referat zum Ms. germ. oct. 280, dem sogenannten Liederbuch der Anna von Köln, im Rahmen des Proseminars „Handschriftenkunde“ im Sommersemester 2006 zusammenfassen und komplettieren. Ich beginne die Arbeit mit ein paar allgemeinen Ausführungen zur Devotio Moderna und ihrem Gründervater Geert Grote und spreche anschließend über die Handschrift selbst. Dabei fließen Beobachtungen, die ich selbst an der Originalhandschrift vornahm, ebenso ein, wie Thesen namhafter Wissenschaftler, die zu dieser Handschrift oder zu einem nahe verwandten Thema geforscht haben. Ich diskutiere Argumente der Forschungsliteratur zur Herkunft und Datierung der Handschrift und gebe Ausblicke auf eine mögliche Verbindung dieser Musikhandschrift mit der Meditationstradition der Devotio Moderna. Am Ende der Arbeit folgt eine von mir besorgte, einseitige Handschriftenbeschreibung, die sich soweit wie möglich an den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft orientiert.

2. Geert Grote und die Devotio Moderna

Die Devotio Moderna war eine Frömmigkeitsbewegung, die ihren Ursprung im geistlichen Bürgertum des 14. Jahrhunderts und namentlich bei ihrem Gründervater Geert Grote1 nimmt. Vom IJsseltal in den Niederlanden ausgehend verbreitete sie sich mit kleineren Anlaufschwierigkeiten bald über die gesamten Niederlande und weite Teile Deutschlands und Europas. Ihre vorreformatorischen Ideen sind geprägt von einer der Zeit im Allgemeinen anhaftenden Skepsis am ausschweifenden Lebenswandel des Klerus. Das Vertrauen der Gläubigen in die Kirche war durch das Exil der Päpste in Avignon, die Einflußnahme der französischen Könige und das westliche Kirchenschisma tief erschüttert. Die Modernen Devoten aber wollten die Ursprünglichkeit im christlichen Glauben wiederfienden und dorthin zurückkehren, was zur Abkehr von doktrinalen Erkenntnissen, von theologisch verkopfter und lebensfremder Religion führte. Chistus Leben auf Erden sollte zum Vorbild einer innerlichen und ehrlichen Frömmigkeit werden, in der jeder Einzelne durch Nachahmung eine persönliche Beziehung zu Gott findet. So wird es unter anderem im 1418 anonym veröffentlichten Werk „De imitatione Christi“2 formuliert, das als geistliches Hauptwerk der Bewegung und meistverbreitetes Werk im Spätmittelalter nach der Bibel gilt.

Geert Grote, der Begründer der Devotio Moderna, wird 1340 in Deventer als Sohn eines wohlhabenden, bürgerlichen Ehepaares geboren. In Paris studiert er Theologie, Medizin, Astronomie und Kirchenrecht und führt das Leben eines bibliophilen Intellektuellen. Vermutlich durch die Freundschaft zu Heinrich von Kalkar, einem Karthäuser-Mönch, und einigen anderen Mystikern, erfährt er nach und nach einen Lebenswandel. In der Karthause Mönnikhuizen, wo er einige Jahre lebt, ohne ein Gelübte abzulegen, studiert er zum Zwecke der geistlichen Fortbildung die Schriften der Kirchenväter, besonders des Heiligen Augustinus. Er entsagt seinen weltlichen Ambitionen und kehrt als Bußprediger aus dem Kloster zurück. Einflußreiche Feinde beim Klerus macht er sich dadurch, dass er in Flugschriften und kleinen Heften die Mißstände der Kirchen und Orden anprangert. So handelt er sich 1383 ein Predigtverbot durch den Bischof von Utrecht ein, das trotz Verteidigungsschriften seitens Grotes bis zu seinem Tode nicht aufgehoben wird. 1384 stirbt er im Alter von 44 Jahren an der Pest.

Die Devotio Moderna fand in drei religiösen Richtungen ihre Ausprägung, bei den Schwestern und Brüdern vom gemeinsamen Leben, bei den Chorherren und -frauenstiften der Augustiner Kanoniker und Kanonikerinnen, die im Windesheimer Kapitel zusammengeschlossen waren und den Drittordensgemeinschaften des Kapitels von Utrecht. 1374 hatte Geert Grote einen Teil seines Vaterhauses an religiös lebende Frauen gestiftet. Diese schlossen sich in einer „vita communis“ zu den Schwestern vom gemeinsamen Leben zusammen. Dies bedeutete ein frommes Zusammenleben nach klosterähnlichen Tagesabläufen, jedoch ohne Gelübte, also ohne im kirchenrechtlichen Sinne ein Kloster zu sein und mit der Option, die Gemeinschaft jederzeit wieder verlassen zu können. Ähnlich fanden sich die Brüder des gemeinsamen Lebens. Auf Anraten seines Freundes Florens Radewijns3 hatte Grote eine Gemeinschaft gestiftet. Die Brüder setzten sich zunächst aus den Schülern zusammen, die Grote aus der Kapitelschule in Deventer geholt hatte, um für ihn Bücher zu kopieren. Das Abschreiben und fertigen von Handschriften spielte auch weiterhin eine zentrale Rolle im Leben der Brüder, die sich durch deren Verkauf einerseits ihren Unterhalt verdienten, andererseits eine umfangreiche Bibliothek für den Eigenbedarf aufbauten. Schon 1387 wurde aus einer Eigeninitiative der Brüder heraus das Kloster zu Windesheim gestiftet und von Brüdern bevölkert, die ihre religiöse Lebensweise als echte Klosterbrüder komplettieren wollten. Die Bewegung stieß bei vielen Bürgerlichen auf Sympathie, so dass sie sich der Gemeinschaft anschlossen oder sich als Schüler durch die Brüder ausbilden ließen. Weitere Brüder- und Schwesternhäuser entstanden in Zwolle, Den Bosch, Lüttich, Rostock und ganz Europa. Die Klöster schlossen sich zum Kapitel von Windesheim zusammen und die Bewegung blühte bis ins 16. Jahrhundert hinein. In diese Umgebung gehört auch die Berliner Handschrift mgo 280, das sogenannte „Liederbuch der Anna von Köln“.

3. Das Liederbuch der Anna von Köln

Das Liederbuch der Anna von Köln ist eine schmucklose Papierhandschrift mit Pergamentcoupert-Einband im Kleinoktav-Format. Tervooren nennt sie eine der letzten großen Sammelhandschriften des geistlichen Liedes.4 Salmen spricht von der inhaltsvollsten Melodiequelle dieser Art.5 Die Handschrift umfaßt 82 Lieder auf 180 Folii und 23 Lagen, 24 davon sind mit Melodie notiert; größtenteils handelt es sich um Kontrafakte. 35 der Lieder sind hier singulär überliefert, 17 Lieder hat die Handschrift aber mit dem Deventer Liederbuch gemein, 16 mit dem Liederbuch der Katharina von Tirs, 10 mit dem Wienhäuser Liederbuch und 7 mit dem Werdener Liederbuch. Die meisten Lieder (67) sind in niederrheinischer Sprache verfaßt; Tervooren präzisiert, die Zielsprache sei das Ripuarische.6 Auch 15 lateinische und lateinisch-volkssprachlich gemischte Lieder sind aufgeführt.

Die 23 Lagen sind überwiegend von einer Haupthand A geschrieben, wobei die Lieder oft lagenübergreifend notiert sind. Nur die Lagen 18 (128-133), 20 (149-156) und 21 (157-164) weisen andere Hände (B + C) auf. Kleinere Nachtragungen von vier weiteren Händen (D, E, F und G) finden sich vereinzelt auf den von der Haupthand A zunächst frei gelassenen Seiten. Detaillierte Zuordnungen der Hände finden sich bei Salmen.7 Die Lagen weisen meist eine Stärke von Ternaria mit Zusatzblatt, bzw. Quaternaria mit Verlustblatt auf. Verluste sind wahrscheinlich: Salmen beklagt, dass einige Lieder abrupt abbrechen und weist darauf hin, dass der heutige Zustand der Handschrift nicht der ursprüngliche ist.8 Er nimmt an, dass zumindest Lage 18 später eingefügt wurde, weil diese zusammen mit Lage 17 zwischen die Lage 16 geheftet wurde und älteren, externen Ursprungs zu sein scheint.

Hand A schreibt in klarem Duktus und rubriziert Lombarden. Liedanfänge werden mit einer rubrizierten Gattungsbezeichnen (Carmen, Hymnus, etc.) oder einem Melodieverweis (Sub nota…) gekennzeichnet. Versanfänge bekommen ein rubriziertes „ver“ oder „v“ mit übergesetzter Er-Kürzung. Es kommt vor, dass Lieder in einer Buchschrift begonnen, aber in einer Kursiva beendet werden oder andersherum. Auch gibt es z.T. vorbereitete, aber leere Notensysteme oder Lücken, wo später Notensysteme eingefügt werden sollten. Hand B schreibt Lage 18, wobei besonders auffällig die Rundbogenligaturen sind, die nur in diesem Teil auftreten. Auch sprachlich weicht Lage 18 ab und tendiert zum Niederländischen. Hand C schreibt mit breiter Feder auf ein gelbliches Papier. Die gesamte Handschrift weist starke Gebrauchsspuren auf.

Auf Folio 1r findet sich der Besitzvermerk: „Dit boek hoert toe anna van collen der et fynt eer et verloeren w(ort) der serft ouc wall eer hey kranck wort„, der der Ms. germ. oct. 280 ihren Namen gibt. Auch auf 128v und 137v hat sich Anna verewigt. Einmal wiederholt sie den Besitzeintrag, ein anderes Mal erklärt sie, Trinchen von Kleve sei ihre beste Freundin: „tringen van kleif dat ijs myn aller liefte vriundijn„.

3.1 Datierung und Herkunft

Als jüngster Teil der Handschrift gilt der Nachtrag von Hand D auf Folio 1v. Dort wurden mit einer flüchtigen Kursivschrift die zweite und dritte Strophe der Pfingst-Leise „Nu bydden wir den hilgen geist“ nachgetragen. Diese Strophen stammen von Martin Luther, können aber nicht vor ihrem Erstabdruck 1524 bekannt gewesen sein9. , weshalb dieser Nachtrag auf nach 1524 datiert ist. Den ältesten Teil der Handschrift, Lage 18, datieren verschiedene Paläographen aufgrund der später unüblichen Rundbogenligaturen auf 1500.10 Dieser Teil könnte ursprünglich den Anfang einer anderen, niederländischen Handschrift gebildet haben, da gerade das erste Blatt starke Gebrauchsspuren (Tintenabrieb) aufweist.11

Sowohl Wilbrink, als auch Salmen stellen fest, dass die Schrift und besonders die Rundbogenligaturen in Lage 18 sehr viel Ähnlichkeit mit denen im Deventer Liederbuch aus dem Lammenkloster haben. Auch sind die vier in dieser Lage notierten Lieder Parallelüberlieferungen zur Hs. Deventer, zwei davon sind nur in diesen beiden Manuskripten überliefert. Außerdem weicht dieser Teil der Handschrift sprachlich von den übrigen Teilen ab, da die Lieder niederländisch und nicht niederrheinisch sind.12 Deshalb gehen Wilbrink und Salmen davon aus, dass Lage 18 möglicherweise von einer Deventer Schreiberin geschrieben wurde. Es könnte sein, so Wilbrink weiter, dass diese in ein Schwesternhaus am Niederrhein versetzt wurde. Zumindest wären solche Versetzungen vorgekommen, aber auch Liedaustausch habe definitiv stattgefunden. Wilbrink schlägt für die Lokalisierung der Handschrift deshalb das Schwesternhaus in Emmerich vor.13

Obwohl die Handschrift relativ viele lateinische Lieder und auch Notation enthält, wird ihre Entstehung in einem Schwesternhaus vermutet. Dies ist ungewöhnlich, da die Schwestern der Devotio Moderne meist nur wenig Latein sprachen und auch in der Musiklehre nicht so geschult waren, wie die Brüder.14 Hascher-Burger schreibt, dass geringe Lateinkentnisse nur bei den Chorfrauen der Windesheimer Kongregation vorausgesetzt werden konnten, weil diese lateinische Lieder zu singen hatten. Chorfrauen mit guten Lateinkenntnissen hatten sich diese meist schon vor dem Eintritt ins Kloster angeeignet.15

Nicht aber allein des Besitzeintrages einer Frau wegen, sondern vor allem aus inhaltlich-motivischen Gründen, kommt eher ein Schwesternhaus als Entstehungsort in Frage. Aufgeführt werden Weihnachtslieder, Lieder der minnenden Seele, Passionsbetrachtungen, Marienlieder und Lieder auf ausgewählte Heilige (Agnes, Anna, Getrud). Jesus wird oft als Bräutigam, Weinschenk oder sogar als Nachtgänger thematisiert.16 Die Weiblichkeit der Liedinhalte bestünde in einer Verbindung aus Religion und Eros und die Grundstimmung entspräche dem Desiderium, schreibt Salmen.17

Gleichzeitig zweifelt er Wilbrinks Lokalisierung im Schwesternhaus Emmerich an. Da der Großteil der Texte einen Lautbestand aufweist, der noch heute im Kölner Raum gesprochen würde und auch der Besitzeintrag der Anna nach Köln verweist, hält er ein Schwesternhaus in oder um Köln für den wahrscheinlicheren Entstehungsort.18 Wilbrinks Argument, Anna hätte den Zusatz „van Collen“, der sich wohl auf ihren Herkunftsort bezieht, nicht gebraucht, hätte sie sich in Köln befunden19 , hält Salmen für wenig kräftig. Ich schließe mich ihm in diesem Punkt an, denn in einer Handschrift mit Druck, genannt „Statuten und Concordata der Stadt Collen und Formelbuch“,20 fand ich folgenden Eintrag:

1644 haff ich Anna von Collen ihm dit buch bezalt

Nun kann man nicht davon ausgehen, dass diese Anna mit der Besitzerin des Liederbuchs identisch ist, da letztere ja ca. 100 Jahre früher gelebt hat. Wohl kann man aber davon ausgehen, dass sie Kölnerin ist, wenn sie ein Buch mit den Statuten der Stadt Köln kauft. Dennoch schreibt sie den Zusatz „von Collen“. Warum sollte die Anna im Liederbuch das nicht ebenfalls getan haben, auch wenn sie sich in Köln befand?

Als sicher gilt aber, dass eine Urheberschaft Annas sowohl an den Liedern als auch an der Handschrift ausgeschlossen werden kann. Ihre Schreibversuche (in der Nähe ihrer Besitzeinträge übt sie immer wieder Majuskel) zeichnen sie als ungeübte Schreiberin aus und die Vermutung, dass sie eine wenig gebildete Begine war, liegt nahe.21 Die Handschrift weist aber wenige Schreibfehler auf und deutet auf eine souveräne Schreiberin hin. Salmen geht davon aus, dass von einer Vorlage kopiert wurde.22

3.2 Musik und Meditation

24 der 82 Lieder in Annas Büchlein sind mit Notation überliefert, zwei davon („In dulci iubilo“ und „Iure plaudant omnia“) sogar mit zweistimmigen Melodien. Bei der Notation handelt es sich um eine späte Neumenschrift, die sogenannte gotische Choralnotation, die je nach Umfang der Melodie auf zwei bis fünf Notenlinien notiert wurde. Drei verschiedene Schlüssel (f, c und g) sind in Benutzung, z.T. werden sogar zwei Schlüssel in dasselbe System geschrieben. Die Notation ist simpel und beschränkt sich überwiegend auf die Einzelnoten Virga und Punctum. Sie verwendet keine Pausen. Die wenigen Ligaturen, die Verwendung finden (u.a. Pes, Climacus, Bistropha), entsprechen eher den deutschen Ausformungen als den französischen23, obwohl eine nähere Analyse hier mehr Aufschluß geben würde.

Verhältnismäßig simpel ist nicht nur die Notation der Lieder, sondern auch die gesamte musikalische Anlage. Zwar handelt es sich um Strophenlieder, doch sind diese meist einstimmig und weisen eine einfache Melodieführung auf. Auch die wenigen zweistimmigen Lieder beschränken sich auf den homophonen Satz in parallelen Quinten und sind kein Vergleich zur florierenden Kunstfertigkeit der niederländischen Vokalpolyphonie, die um dieselbe Zeit gepflegt wurde. Darin entsprechen sie aber ganz der Musikauffassung der Devotio Moderna, der es in erster Linie um den Text und dessen Verständlichkeit ging. Die Musik dürfte diesen keineswegs dominieren und war eher ein Vehikel der sprachlichen Inhalte.24 Dies hatte schon der von der Devotio verehrte Heilige Augustinus gefordert.

Welche Funktion hatte dann aber Musik in der Devotio Moderna und welchen Zweck erfüllte das Liederbuch der Anna von Köln? In ihrer Untersuchung zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna25 stellt Ulrike Hascher-Burger eine ähnliche Frage und argumentiert für die Verwendung von Musik im Rahmen der Meditation und als Begleitung der Handarbeit.26 Ihre Hauptargumente sind dabei:

  • Ein Verbot des Orgelspiels im Dormitorium von 1464 beweist, dass in Schwesternhäusern auch außerhalb der lithurgischen Praxis musiziert wurde.
  • Schriften von Verfassern der Devotio, Moderna bringen die Musik in Verbindung mit der Meditation und erklären, dass Musik die Handarbeit erleichtere.
  • Notation in Verbindung mit geistlicher Meditationslyrik deutet auf Gesang hin.
  • Einzelne Liedtexte deuten die Verbindung von Musik und Meditation an und behandeln Themen, über die auch meditiert wurde.
  • Die Musikhandschriften der Devotio weisen eine praktische Gebrauchsgröße (oktav) auf und sind in ihrer Anlage den Rapiarien ähnlich.

Rapiarien, das waren persönliche Notizbücher mit Texten zu wichtigen Punkten der Meditation, die sich Anhänger der Devotio selbst anlegen sollten. Solche Rapiarien weisen eine ungeordnete Anlage auf, sind klein und schmucklos und wurden über einen längeren Zeitraum in ungebundener Form angelegt, da die Texte darin erst gesammelt werden mußten. Bei dieser längerwährenden Niederschrift kommt es zur Verwendung verschiedener Tinten und Papiere, der Schriftduktus ändert sich, obwohl die Schreiberhand diesselbe bleibt, die Papiere weisen starke Gebrauchsspuren auf und am Ende der Lagen befinden sich oft leere Seiten.

Die meisten dieser Merkmale treffen auch auf das Liederbuch der Anna von Köln zu. Auf Folio 73v steht die erste Strophe eines Liedes z.B. in Buchschrift, die weiteren aber in einer Kursiva, während das Lied auf Folio 141r kursiv endet und ein neues auf derselben Seite in Buchschrift begonnen wird. Auch hier finden sich am Ende der Lagen oft leere Seiten und die Gebrauchsspuren der schmuklosen, kleinformatigen Handschrift sind kaum zu übersehen.

Wenn es sich bei Annas Liederbuch um ein solches musikalisches Rapiarium handeln sollte, so kann man nicht davon ausgehen, dass es dem Ursprung nach Annas Liederbuch war. Denn diese hätte es ja sonst selbst anlegen müssen. Wahrscheinlich ist, dass die Lagen erst später zusammengebunden wurden, wobei auch die Einschübe der Lagen 18, 20 und 21 hinzugekommen sind, und dass die Handschrift erst dann in Annas Besitz überging. Auch wäre, wenn es sich um ein Notizbuch zur persönlichen Meditation handelt, ungeklärt, warum darin zweistimmige Lieder überliefert sind.

Es folgt die Handschriftenbeschreibung nach den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1992:

Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 280

Das Liederbuch der Anna von Köln
Konvolut geistlicher Lieder mit Notation

Papier ∙ 180 Bll. ∙ 9,6 x 7,2 cm ∙ Niederrhein ∙ 15. Jh.

deutlich versch. Papiersorten, Gebrauchsspuren, teilw. restauriert, keine Wasserzeichen, Stempel der Königlich-Preussischen Bibliothek (1r, 175v) ∙ Lagen: 23 Lagen unterschiedl. Provenienz, Lieder oft lagenübergreifend notiert, Lagenformel bei Salmen S.3, neuzeitliche Tintenfoliierung mit arab. Ziffern rechts unten vergißt 40 und 155, neuzeitliche Bleistiftfoliierung mit arab. Ziffern rechts oben, Halbblätter mit Ergänzungen zwischen 10v-11r und 48v-49r ∙ Schrift: 7×5 cm Schriftraum, einspaltig, auf leeren Seiten z.T. Liniierung erkennbar, Bastarda in versch. Varianten, teilweise Kursiva, gotische Choralnotation auf 2 – 4 schwarzen oder roten Notenlinien, 7 Hd., rubrizierte Lombarden am Liedanfang, rubriziertes versus am Strophenanfang, teilweise rot unterstrichene o. durch Rubrizierung hervorgehobene Worte, rubrizierte Hinweise zur Gattung/Kontrafaktur: carmen, hymnus, repetitio, sub nota…, teilw. Ergänzungen vergessener Worte außerhalb des Schriftraumes, teilw. Aussparungen für Lombarden/Rubrizierung (82v-87r, 97v-101v, 110v-127v, etc.) o. für Notenlinien (37r, 92v, etc.), teilw. Notenlinien ohne Noten (22, 92r, 94v, etc.), Federproben (6v, 127v, 136v), leere Seiten (3v-6r, 74v-77r, 87v-90v, etc.) ∙ Einband: schmuckloser Pergament-Couperteinband mit Messingschließe, restauriert

Datierung/Provenienz: 129r-134v der Schrift nach ältester Bestandteil um 1500 (Wilbrink S.56), jüngste Einträge (Federproben + Besitzvermerk) nach 1524 (Bolte), Verbleib unklar, seit 1863 im Besitz der Königlich-Preussischen Bibliothek

Inhalt: 82 geistliche oder mit geistlichen Inhalten versetzte weltliche Lieder in lateinischer und/oder niederrheinischer Sprache aus dem Repertoire der Devotio Moderna, davon 24 mit Melodie, ein- bis zweistimmig, großenteils Kontrafakte, Besitzvermerke:

  • 1r – Dit boek hoert toe anna van collen der et fynt eer et verloeren w(ort) der serft ouc wall eer hey kranck wort
  • 128v – tringen van kleif da ijs myn allerliefte vriundijn myeste van lyf tringen […] bi uch dat bedrft mych
  • 137v – dit hurt tzo anna van kollen der et fynt der geff

Literatur: M.J. Pohl [Hrsg.]: Thomae Hemerken a Kempis opera omnia IV, Freiburg i.Br. 1918, S. 490f. ∙ G.G. Wilbrink (Sr. Marie Josepha): Das Geistliche Lied der Devotio Moderna. Ein Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen, Nijmegen 1930, S. 14, 56-58, 61, 215f. ∙ H. Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preussischen Staatsbibliothek. III. Die Handschriften in Oktavformat und Register zu Band I-III., Leipzig 1932, S. 95 ∙ W. Salmen, J. Koepp: Liederbuch der Anna von Köln (um 1500), Düsseldorf 1954 [Denkmähler reihnischer Musik Bd. 4] ∙ Reaney, Répertoire international des sources musicales, Bd. IV 4: Handschriften mit mehrstimmiger Musik des 14., 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von K.v. Fischer, München/Duisburg 1972 ∙ M. de Bruin und J. Oosterman, Repertorium van het Nederlandse lied tot 1600, Gent/Amsterdam 2001, H026 ∙ U. Bodemann-Kornhaas: Die kleineren Werke des Thomas von Kempen. Eine Liste der handschriftlichen Überlieferung, in: Ons Geestelijk Erf 76 (2002), S. 149 ∙ Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw: Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 118f. ∙ A.-D. Harzer, In dulci iubilo. Fassungen und Rerzerptionsgeschichte des Liedes vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Tübingen 2006 [Mainzer Hymnologische Studien 17], S. 31f., 69 ∙ H. Tervooren : Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006, S. 167, 171

Literatur

Hier erscheinen die für diese Arbeit verwendeten Quellen.

  • U. Hascher-Burger: Musica Devota. Centrum für Musik der Devotio Moderna, www.musicadevota.nl, 2002-2006; und hier besonders: /berlin%20280.htm und /Inc.berlin%20280.htm
  • U. Hascher-Burger: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna, (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden und Boston 2002 [Studies in the History of Christian Thought 106]
  • G.G. Wilbrink (Sr. Marie Josepha): Das Geistliche Lied der Devotio Moderna. Ein Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen, Nijmegen 1930
  • W. Salmen, J. Koepp: Liederbuch der Anna von Köln (um 1500), Düsseldorf 1954 [Denkmähler reihnischer Musik Bd. 4]
  • H. Tervooren : Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006
  • P. J. Becker und E. Overgaauw: Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003
  • Karl Egger [u.a.]: Studien zur Devotio Moderna, Bonn 1988

Sept. 2007
__________

  1. In älteren Publikationen (Wilbrink 1930, Salmen 1954) findet sich die Schreibweise Groote, während jüngere Publikationen (Hascher-Burger 2002) die Schreibweise Grote wählen, der ich mich hier anschließe.
  2. Das Werk wird dem Mystiker und Augustiner-Mänch Thomas a Kempis (~1380 – 1471) zugeschrieben. Seine Urheberschaft ist aber noch immer umstritten. (Hascher-Burger 2002, S. 117)
  3. Florens Radewijns (gest. 1400) wurde daraufhin erster Rektor des Fraterhauses in Deventer.
  4. Tervooren 2006, S. 167
  5. Salmen/Koepp 1954, S. 3
  6. Tervooren 2006, S. 167
  7. Salmen/Koepp 1954, S. 4
  8. ebd.
  9. Tervooren 2006, S. 167
  10. Wilbrink 1930, S. 61
  11. ebd.
  12. ebd.
  13. ebd.
  14. Tervooren 2006, S. 171
  15. Hascher-Burger 2002, S. 34
  16. Tervooren 2006, S. 168
  17. Salmen/Koepp 1954, S.5
  18. ebd.
  19. Wilbrink 1930, S. 215
  20. Stadtsbibliothek zu Trier Hs. 2504 oct.
  21. Wilbrink 1930, S.61
  22. Salmen/Koepp 1954, S. 5
  23. In den Niederlanden wurden bei den Ligaturen Mischformen aus deutschen und französischen Neumen verwendet. (mehr dazu bei Hascher-Burger 2002) Mischformen sind mir bei meiner flüchtigen Betrachtung nicht aufgefallen. Ich halte sie aber dennoch nicht für ausgeschlossen.
  24. Tervooren 2006, S. 171
  25. Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113
  26. Hascher-Burger 2002

Seminararbeit: Fumeuse speculations

Sonntag, 09. September 2007

Fumeuse speculation. An Essay on musical Semiotics and a semiotic Analysis of the 14th Century Rondeau „Fumeux fume“, Freie Universität Berlin, 2007 [Abschlußarbeit zum Hauptseminar „Issues in Musical Semiotics“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. David Lidov (University of Toronto)]

1. Introduction

This is an essay in the original sense of that word. I’m trying to cope with the task of analysing music with regard to its semiotic aspects for the first time in my life. Which are the scientific basics to build upon? Which are the analytical methods to adopt? I started my investigations in musical semiotics with the assumption that music and language are similar.

Though both are agreed to be systems of signs, there are reasonable doubts about their likeness. Yet, I had to rely on my knowledge of the one system to find out more about the other. After all, I’ve chosen a medieval rondeau to concentrate my attempt on. And in medieval music, lyrics and sound have a deep relation by tradition.

I have divided my essay into two parts. The first one will consist of general reflections on musical semiotics. Referring to two scientific sources, I will describe how processing of musical signs in the brain functions and how this strenghthened my conviction that musical signs have a Saussurian duality of form on the one hand and meaning on the other. Thereupon I will expose some ideas about musical form as a syntactic and musical meaning as a semantic problem. I will introduce the analytical points I chose for the second part of my essay – the analysis of „Fumeux fume“.

Though my task, in fact, was the semiotic analysis of a musical piece itself, I needed a general approach to come to terms with this complex challenge. Then, in the second part, I will regard the 14th century composition of „Fumeux fume“, a surprisingly early example of hallucinogetic aestethics, from a semiotic viewpoint. I will analyse its highly ambiguous lyrics and its eccentric music with regard to both syntax and semantics and demonstrate the relevance of the historic context to the meaning of the piece.

2. Part I – General Reflections

2.1 Neurocognition of Musical Signs

Music is language. Or at least something very similar, as a group of researchers at the Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences has set out in 2004. Interested in the processing of music and language, they exposed listeners to music interfered with nuisances, like unexpected or dissonant chords. Everytime a nuicance occurred, the researchers detected a high brain activity in an area opposite to Broca’s Area. The latter is known to be involved in the processing of grammatical errors in language. Though this is no proof for the legend of music processing on the right site being an exact mirror of language processing on the left, it gives some semiotical clue: If the brain objects musical nuicances in the same way it protests against linguistic ones, this in an evidence of a musical grammar or syntax.

Musical syntax is the body of rules responsible for the assembly of musical signs, more precisely, the form-part of the sign. But is there, on the other hand, a musical semantic, too? Other experiments of the MPI researchers showed that the brain reacts faster to known melodies, while it literally broods over unknown ones. Thus they assumed some kind of library for musical phrases and high profiles resulting in emotions and affections, but couldn’t approve their ideas, yet.

I got another hint about musical semantics from reading Jeff Hawkins „On Intelligence“. In his book, the former AI researcher of the Messachussetts Institute of Technology descibes how the cortex works. Processing of visual, auditive or somatosensory sensations occures in different layers of the cortex. Those layers are organized in a stemmatic hierarchy. Their task is to recognize patterns and sequences of signals and to make a prediction about what might impact on the senses next. The lower components get a more fragmented, but therefore detailed concept of the real world. They identify the cluster of the signal and pass it to the next higher layer. While going up the processing tree, the concept (of the sensational input) gets less and less detailed and fragmented, until it becomes a wholistic concept, like a face, a melody or a felt item in the association area.

The feedforward of recognizing patterns and sequences of signals is answered by an immediate feedback – the prediction, which runs down the processing tree. Since the processing areas of the cortex are connected in a vast network, they interact in feeding each other back and forth. The information of cracking wood in a dark forest may evoke the prediction of an animal coming to focus. It might as well lead to the dumping of epinepherine and a feeling of fear. For reacting is a feedback of the cortex, too – a set of instructions from the motor cotex. Associating a shaggy quadruped when we read the word „dog“ or „chien“ or „Hund“ is an action of recognition. Feeling something while listening to a melody is an action of recognition, too. What we associate with „dog“ leads us to the semantics of language. What we associate when we listen to music leads us to the semantics of music, whether this association is an abstract idea, an image or a feeling.

2.2 On Musical Semiotics

Music is not language. Indeed, both are systems of primarily acoustical signs and have their graphical substitutes. Both have rules for form and meaning and both relate to time, frequency and rhythm. But unlike linguistic signs, musical signs are not symbols in the first instance. For Peirce, a symbol is a sign that’s associated with its object by convention, not similarity or contiguity. Signs of language are symbols first and foremost. But we weren’t told by our parents to feel sad whenever we heared a descending minor triad, as we were to say „dog“ whenever we saw a representative of the canidae-family. Musical signs may be symbols, too. We can find agreements upon single aspects of music: My music teacher, for instance, claimed, that the „tatatada“, the first motive of the fifth symphony by Ludwig van Beethoven, refers to knocking fate. Nevertheless, there is no general code we agreed upon, considering musical interpretation, as there is considering language.

At a glimpse, musical semiotics seems to be something very individual and subjective. Yet, there is room for scientific approaches. The fact that we can tell Greek from Indian music, that we expect a tonica at the end of a song, that we turn sad on a big gesture or even that we have an idea of measurement when we see a crotchet in a score, all this is evidence for some kind of collectivity in musical association – inborn, acquired or both. Meaning rises from its relation to form. Semiotic analysis will therefore concentrate on the quality of the relation between musical form and meaning and the associations this relation evokes or may once have evoked.

To a considerable extent music depends on local, temporal and stylistic conventions and paradigms. We can analyse it by checking concords with similar pieces, as well as marking exceptions, anomalies or concious violations. Referring to known patterns explicitly by title, lyrics, links to other artwork or by non-verbal structures may be analysed. The choice of a fugue, a whole-tone-scale or a marimbaphone may be an allusion to a known pattern. Even graphical dimensions should not be ignored. Referring to patterns implicitly, is harder to come by, since it is not investigated systematically by musicology, yet. Music recalls associations of emotion that are not always individual; sometimes it recalls affects kind of directly. This may function by referring to or imitating so called „sentic shapes“, neural concepts of emotion. But without any neurological data this is highly speculative and only guesswork until now.

3. Part II – Analysis of Fumeux

3.1 Poetry

„Fumeux fume“ is a rondeau by Solage (fl. 1380 to 1400) bequeathed to us in the Chantilly Codex, a compilation of the ars subtilior. At the end of the 14th century the rondeau is one of the so called „formes fixes“, besides ballade and virelai. Those are highly elaborated forms of french secular poetry mostly set to music. The rondeau had a tradition before 1350. Solage’s predecessor Guillaume de Machaut (1300 – 1377) was the one to standardise and heighten it for courtly use in the second half of the 14th century.

In its structure of verse „Fumeux fume“ follows Machauts standards, being a poem of the form AB aA ab AB. The sections represented by the init-caps are the refrain. Traditionally refrains of rondeaus have the character of a saying. We can guess this character in the first
two lines of „Fumeux“, which build a more or less autonomous entity.

fumeux fume par fumee
fumeuse speculacion

Within these two lines there lies the very essence of the poem itself, both in form and content. They make up five out of eight lines of the poem (62.5%), whereas the first line is repeated three times, the second twice. The remaining three verses are bound inbetween and refer to it by final rhyme. The repetitions lend it a circular structure, typical for rondeaux. In this case it is even enriching the content.

So what does fumeux mean? There are two ways of translating the old French word into modern English, the first being „smoky“, the second „fuming“. Neither tobacco nor pipes were known in central europe until the end of the 15th century. If we stick to the first translation, we have to imagine substances like opium or hashish burnt in a censer-like tool. But it was uncommon (not impossible) to inhale the smoke of such substances, rather they were consumed eating or drinking. So the second translation initially seems more likely. It points to the old model of the four humors stemming from the Greek physician Hippocrates. Human behaviour, he thought, was conducted by bodily fluids: sanguine, choleric, melancholic and phlegmatic. Fuming may have been a fifth humor discussed in the period of the ars subtilior.


fumeux fume par fumee
fumeuse speculacion
qu’antre fummet sa pensee
fumeux fume par fumee
quar fumer molt li agree
tant qu’il ait son entencion

fumeux fume par fumee
fumeuse speculation

A closer look at the poem would reveal a text about a wrathful fuming grouch, whose thoughts are filled with wrath and who is not satisfied until he gets his way. The circular form of the rondeau would illustrate the durable endlessness of this grumpy nature. But then there seems to be more to it, for the text floats between the literal and the metaphorical meaning of fumeux. Phrases like „par fumee“ or „fummet sa pensee“ reveal the ambiguous nature of the word we stumbled upon first. The exessive use of voiceless fricatives [f] and [s] and plosives [p], [k] and [t] is remakable, too. This usage evokes the association of inhaling, breathing and smoking by the mere sound of the language itself. Astonishingly, all the pregnant words not dealing with fume have something else in common. Speculation, pensee, agree and entencion derive all from an abstract, intellectual context. So „Fumeux“ might not deal with just wrathful or just toxic vapours, but with clouding the senses in a broader meaning.

There is another interesting fact. Solage’s rondeau is not the only chanson in the Chatilly Codex dealing with fumeux. There is another one by Hasprois called „Puis que je suis fumeux“. Both fumeux-songs seem to allude to a set of poems by Eustache Deschamps. In 1368 he wrote „Le Chartre des Fumeux“, a kind of manifesto describing a society of eccentric, juvenile bohemians. Fume seems to be the humor of those drinking, dancing and debating aesthetes, expressing itself not in wrath, but in some kind of youthful jollity, folly and extraordinary way of life. It is not known wether this group really existed, it may as well be a pure brainchild of Deschamps. But then we virtually have a group of high-class poets, composers and aesthets at the end of the 14th century: Machaut compiling his own work, Deschamps debating poetry without music, Pizan criticising women’s role in the „Roman de la Rose“, the Duke of Berry appointing the „Très Riches Heures“, etc. All of them develop an extraordinary, artistic emanzipation and all of them point to the French royal court.

It is likely not only that Solage knew the work of Deschamps, but that his exclusive audience did, too. Whether it refers to smoking or to fuming it does especially one thing – presenting itself as an extraordinary piece of art. It is done by ambiguous arrangement, oscillation between literal and metaphorical meaning, by playful and creative exposure to features of poetical form and language, but especially by musical composition, as I will show now.

3.2 Music

The rondeau is poetica per musica, which means the text is supposed to come forth with music. Pleasantly, the Chantilly Codex passes down „Fumeux fume“ with musical notation. The graphical system is quite different from the system today: Music of the 14th Century has no bars and uses square notes – to mention only the most distinctive features. But unlike Baude Cordier’s „Belle, bonne, sage“ from the same source, „Fumeux fume“ shows no particularities, no symbolic meaning in notation. In fact, it looks quite normal with its three consecutively notated voices, its red notation and its prolatio. If it wasn’t for the accumulation of accidentals, the symmetric sequences and the low tessitura, none would expect a piece of extraordinary music from just glimpsing its source.

As every rondeau „Fumeux fume“ musically consists of two parts, A and B. As the text is structured AB aA ab AB those two parts are repeated identically for performance, resulting in a 3 times repetition of A in the middle of the piece. Part A has a length of 126 brevis, while B consists of only 88. This makes B a little more than two thirds as long as A, yet, missing golden ratio by 0,11. The tonal range of A is one and a half octaves, it is nearly two in B. It is most interesting that the final of A is vertically seen one tone lower than the final of B, cantus and contratenor changing registers. This new and unique option of cadencing will have struck contemporary auditors beyond doubt. Peter M. Lefferts even thinks testing it for Solage was the raison d’être of „Fumeux“.

But there are more distinctive features striking the ear. The hoquet-like sequence of descending breves in the end of A is not to be ignored. The same rhythmical motive appears six times in all three voices shifted by a brevis. It descends sequential in the cantus. And when reduced to its tonal scaffold, cantus and tenor are forming a sequence of descending thirds.

Another descending sequence can be found in the middle of B. This time the rhythmical motives are different in each voice. But similar to the first example this one is dominated by descending thirds and complementary sixths between cantus and tenor.

Thanks to the marked sequences, both parts, A and B, have a structured disposition of constitutive character: hovering around a high note, descending in a sequence, cadencing on a low note. The sequential descent is a troublesome step by step execution of a strange tonal material. Performers had and have to deal not only with chromatic semitones, but even with enharmonics. „Fumeux fume“ is musica ficta in its finest, recalling distant hexachords far off the Guidonian gamut.

It is not unusual for 14th century music to use musica ficta. Unusual is the consequency with which it is done here, the density of accidentals and the tonal distances reached therefore. The quantity of hexachordal mutation throughout the piece is remarkable. As the melody leads lower and lower, tonality leads far and far away.

All in all „Fumeux fume“ is noted on a remarkably low tessitura, reaching the E fa below Gamma ut in the tenor and contratenor and forcing the cantus down to the A re in the graves. Though it is not the only chanson reaching as low, all other examples occur in the same source – the Chantilly Codex. Ursula Günther therefore assumes that Solage’s rondeau may have been written for a special group of singers. Peter M. Lefferts however concludes, that „there is no compelling musical reason for this notation„. Singers could have transposed any musical composition to any comfortable level.

Anyways, the descent of melody, the distance of tonality, the grave register and the circular, repetitive structure of „Fumeux fume“ evoke an image of drowsiness, of fading away and loosing oneself. Music, by this realisation, destinctly embodies a hallucinogetic state, known to be caused by consumption of substances like hashish or opium. It is plausible to associate „Fumeux fume“ with some kind of hallucinogetic aesthetics, when listening to the music, rather than ideas of wrath or even rage. On the other hand it plys the audience with its artistic elaboration as if it wanted to say: „Hey, look at me, I’m extraordinary!“

4. Conclusion

„Fumeux fume“ is poetica per musica, finest poetry emphasised by excellent music. There are two main aspects of meaning in it. One arising from referential semantics, the other from some identificational process. Referential meaning points to two poles – the literal one of smoking and the metaphorical one of fuming. Both interpretations meet on a third point of vapoured drowsiness and/or confusion. May those confusing vapours be a result of drug consuming or the existence of bodily liquors. Some syntactical features of poetry and music encourage this assumption: the circular structure of the rondeau, the repetitions of refrain, rhyme and melody, the onomatopoetical use of consonants, the descent to remote tonality, the tonal and semantical ambiguity, and the allusion to intellectual contexts of fumeuse speculations and musica ficta.

Asides, there is this strong aspect of intellectual identification by defining correlation and differentiation. „Fumeux fume“ alludes to a manifesto of a colleague, adopting its bohemian character and giving it an individual note or interpretation. Only a small group of listeners will have noticed this allusion, knowing the „Chatre des Fumeux“ and perhaps understanding the complexity of alien and kind of „crazy“ musical features exectued in the chanson. The rondeau does not only fit into Deschamp’s image, it is actively participating in the idea of „Fumeux“ and addressing to insiders by marking itself.

Today, 700 years later, this second aspect of meaning could not have been noticed without the knowledge and investigation of medieval standards. Still „Fumeux fume“ is highly inspiring – it sure was back then.

5. Sources

  • Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences: „Spiegelbild der Sprache – Neurokognition von Musik“, Leipzig 2004; http://www.cbs.mpg.de/MPI_Base/NEU/institute/research_teams/team_koelsch
  • Jeff Hawkins/Sandra Blakeslee: „On intelligence. How a new understanding of the brain will lead to the creation of truely intelligent machines“, Times Books, New York 2004
  • Facsimile: „French Secular Music of the Late Fourteenth Century“, edited by Willi Apel, Cambridge/Massachussetts: Medieval Academy of America, 1950, plate V
  • Ian Laurie: „Deschamps and Comedy“, http://tell.fll.purdue.edu/RLA-Archive/1995/French-html/Laurie,Ian.htm
  • Ursula Günther: „Ars Nove – Ars Subtilior“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 1, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 1994
  • Yolanda Plumley: „Solage“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 15, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 2006
  • David Fallows: „Rondeau – Rondo“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, Friedrich Blume, Ludwig Fincher [ed.], Bärenreiter, Kassel u.a. 1998
  • Peter M. Lefferts: „Subtilitas in the tonal language of „Fumeux fume“, Early Music, 16 (1988), p. 176 – 183
  • Margo Schulter: „Hexachords, solmization, and musica ficta“, http://www.medieval.org/emfaq/harmony/hex1.html

Thanks to Prof. Dr. Martin Haase for translating some parts of Deschamps‘ „Chartre des Fumeux“ for me and thus helping me to understand it and to Prof. Dr. David Lidov giving his comments on this essay and thus helping me to improve it.

August 2007

Neurokognition musikalischer Zeichen

Donnerstag, 12. Juli 2007

In diesem Semester ist es meine Abschlußaufgabe, ein musikalisches Stück meiner Wahl nach semiotischen Gesichtspunkten zu analysieren. Wie steht es aber um die musikalische Semiotik und welche Analysemethoden sollte ich anwenden? Um dieser Frage näher zu kommen, schaute ich mir an, wie Musik im Gehirn verarbeitet wird, in der Hoffnung, dadurch mehr über die Beschaffenheit musikalischer Zeichen zu erfahren. Meine Ergebnisse habe ich in diesem Essay zusammengefaßt.

Neurokognition musikalischer Zeichen

Auf der Suche nach einer musikalischen Semiotik, also einer Theorie des Zeichensystems Musik, ging ich von einer oft gehörten Behauptung aus, nämlich der These, dass Sprache und Musik sehr viel gemeinsam haben. Aber worin bestehen diese Gemeinsamkeiten? Sprache ist ein Zeichensystem, genau wie Musik. Aber die sprachlichen Zeichen (z.B. Wörter) sind größtenteils Symbole – es gibt eine stillschweigende Übereinkunft darüber, was sie bedeuten. Dog, chien oder Hund beziehen sich alle auf ein vierbeiniges Säugetier der Familie Canidae. Aber die Wörter haben mit dem Ding an sich nichts gemein. In der Musik ist das ein bisschen anders. Zwar gibt es auch dort Symbole, aber größtenteils können wir nicht sagen, eine Tonfolge, ein Motiv oder ein Rhythmus stünde für dieses oder jenes Ding in der Welt. Dennoch schient Musik eine Bedeutung zu haben, denn sie kann verschiedene Individuen in ähnliche Stimmung versetzen oder ähnliche Assoziationen bei ihnen hervorrufen. Aber wie funktioniert diese Verbindung zwischen der Erscheinungsform eines musikalischen Zeichens und seines Bedeutungsinhaltes?

Ich dachte mir, dass mir die Kenntnis darüber, wie ein musikalisches Signal im Gehirn verarbeitet wird, vielleicht bei der Frage weiterhelfen könnte, wie musikalische Zeichen beschaffen sind. Musik ist wie Sprache ein akustisches Signal zeitlicher Dimension, das charakterisiert durch Frequenz und Rhythmus durch’s Ohr in unser Bewußtsein dringt. Lange glaubte man, bei der Verarbeitung von Musik würden exakt die Areale auf der rechten Hirnhälfte aktiv, die auf der linken Seite für die Sprachverarbeitung zuständig sind, z.B. das Broca-Areal und das Wernicke-Areal. Experimente einer Forschergruppe des Max Planck Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig1 lieferten dahingehend spannende Ergebnisse. Hörer reagierten auf musikalische Inkongruenzen, wie unerwartete oder dissonante Akkorde, mit einer starken Hirnaktivität in dem dem Broca-Areal gegenüberliegenden Bereich. Auch wenn das nicht für die Theorie Sprache links und Musik rechts spricht, so spricht es doch für einen semiotischen Aspekt. Wenn das Gehirn auf der rechten Seite in gleicher Weise gegen Störakkorde protestiert, wie es auf der linken Seite gegen grammatische Störungen in der Sprache protestiert, so ist das ein Indiz für eine musikalische Grammatik, also ein Regelwerk der Formenzusammensetzung musikalischer Zeichen.

Ebenso wie mich interessiert die Forscher nun, ob es demzufolge auch eine musikalische Semantik gibt. Trotz einiger Experimente scheint dies noch immer schwer zu sagen, denn man ist sich uneins darüber, welche Merkmale überhaupt eine musikalische Semantik evozieren. Es scheint dabei um Emotionen, Affekte, aber auch Programmatik und Bekanntheit gehen. So zeigten weitere Experimente des MPI-Teams z.B., dass das Gehirn relativ schnell auf bekannte Melodien reagierte, während es über unbekannte länger nachgrübelte. Womöglich gibt es sogar eine Art Lexikon, das musikalische Phrasen speichert, aber so richtig weiter bringen, tut mich das noch nicht.

Dies Frage nach der Semantik ließ mich nicht ruhig und ich wollte weiter in die neurologischen Verarbeitungsprozesse eindringen. Auf einen interessanten Ansatz stieß ich bei Jeff Hawkins, der einst am MIT künstliche Intelligenz erforschte und in seinem Buch „On Intelligence“2 über die Funktionsweise des Kortex‘ schrieb. Die Verarbeitung von auditiven, visuellen oder somatosensorischen Sinneseindrucken erfolgt nämlich in mehreren stemmatischen angelegten Schichten, die alle gleichermaßen versuchen die Muster und Sequenzen von Signalen wiederzuerkennen und Prognosen darüber anzustellen, welches Muster als nächstes die Wahrnehmung treffen müßte. Dabei nehmen die tiefer liegenden Schichten kleinteiligere, detailliertere Muster wahr, ordnen den zusammenhängenden unter ihnen einen „Namen“ zu und geben diesen „Namen“ an die nächst höhere Schicht weiter. Die nächst höhere Schicht nimmt dann schon einen nicht mehr ganz so kleinen, weniger detaillierten Teil des Musters wahr, ordnet Zusammenhängendem wiederum einen „Namen“ zu und gibt ihn an die nächst höhere Schicht weiter, bis dann im Assoziationsfeld ein ganzheitlicher Eindruck z.B. eines Gesichtes, einer Tonfolge oder eines gefühlten Gegenstandes ankommt. Gleichzeitig gibt jede Schicht ihre Prognose darüber ab, was die Wahrnehmung als nächstes trifft, denn anhand der Namensgebung werden bekannte Sequenzen erkannt. Zu jedem reinkommenden Signal gibt es also ein Feedback. Da alle Hirnregionen mehr oder weniger eng miteinander verknüpft sind und ein großes Netzwerk bilden, kann zum Beispiel auf den Höreindruck von Schritten das visuelle Feedback erfolgen, dass demnächst eine Person in meinem Blickfeld auftaucht. Auch an den motorischen Kortex wird ein solches Feedback weitergegeben. Die Prognose ist hier eine Handlungsanweisung, z.B. sich erschreckt umzudrehen, wenn man hinter sich im dunklen Wald plötzlich ein knackendes Geräusch hört und dabei ein bisschen Adrenalin auszuschütten.

Es ist ein Verhalten, eine Erkennensreaktion, die dem graphischen Muster |HUND| im Gedächtnis die Assoziation eines zottigen Vierbeiners hervorruft. Aber auch beim Hören einer Melodie etwas zu fühlen, ist ein Verhalten, denn das Gehirn reagiert auf das Erkennen eines musikalischen Musters oder einer musikalischen Sequenz mit bestimmten elektrischen Impulsen oder der Ausschüttung bestimmter Hormone, was wir u.U. als Gefühl wahrnehmen. Was wir assoziieren, wenn wir das Wort „Hund“ lesen, klärt uns über die Semantik der Sprache auf. Was wir assoziieren, wenn wir eine Melodie, einen Rhythmus, eine Sinfonie hören, verweist uns hingegen auf die Semantik der Musik, egal ob wir es abstrakt fühlend, denkend oder vor dem inneren Auge sehend assoziieren.

Auf meiner Suche nach einer Semiotik der Musik hat mich die Betrachtung der kognitiven Verarbeitung musikalischer Signale also schon sehr viel weiter gebracht. Ich habe Argumente gefunden, die für das Vorhandensein einer musikalischen Syntax (also einer zeichentheoretischen Formebene) sprechen und gleichzeitig eine Idee davon bekommen, wo nach einer musikalischen Semantik (also einer zeichentheoretischen Bedeutungsebene) zu suchen ist. Unklar ist nachwievor, welchen Regeln die musikalische Grammatik folgt und nach welchen Kriterien die semantische Assoziation erfolgt.

Es ist naheliegend, davon ausgehen, dass es die musikalische Grammatik nicht gibt. Denn ebenso wie sich das Griechische und das Indische sprachlich unterscheiden, unterscheidet sich auch die griechische von der indischen Musik. Beide folgen einem eigenen systematischen Regelwerk. Es ist Aufgabe der Musikethnologen und -historiker, näheres darüber in Erfahrung zu bringen. Doch auch hier mag man (wie Chomsky in bezug auf die Sprache) über mögliche universelle Aspekte spekulieren. Denn immerhin sind Grammatik und Semantik auch in einem Sprachsystem nicht immer sauber zu trennen und bedeuten tun letztlich alle sprachlichen Formen Dinge in der realen Welt. Zwischen der realen Welt in Indien und der in Griechenland gibt es viele Unterschiede – aber es gibt eben auch unleugbare Gemeinsamkeiten.

Die Zuordnung sprachlicher Formen zu ihren Bedeutungen in der realen Welt basiert auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft, einem Code. Deshalb sprechen wir bei sprachlichen Zeichen von Symbolen. Im Gegensatz dazu stehen Ikonen, wo die Relation zwischen Form und Bedeutung eines Zeichens auf Ähnlichkeit basiert, und Indices, wo die Relation auf der Kontiguität von Zeichen und Bedeutung beruht. Wir haben uns irgendwann geeinigt, dass der haarige Vierbeiner der Familie der Canidae Hund oder dog oder chien heißt; als Kinder haben wir es von unseren Eltern so gelernt. Bei der Musik ist das nicht so einfach. Es steht fest, dass das graphische Zeichen der Viertelnote das zeitliche Längenverhältnis eines Tons von 1:4 kennzeichnet, einige haben sich geeinigt, dass das „ta-ta-ta-da“ am Anfang der Fünften Sinfonie von Beethoven ein Schicksalsmotiv ist und vielleicht mögen zwei Menschen auch darin übereinkommen, dass sie ein und dasselbe Stück beide als traurig oder agressiv empfinden. Aber systematisch untersucht hat man das bisher nur wenig, undzwar weil es noch keine etablierten Analysemethoden gibt. Die Musiksemiologie versucht, solche zu finden und anzuwenden und anhand ihrer Arbeit mehr Aufschluß über das Zeichensystem Musik zu erlangen.
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Quellen:

1. Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften: Spiegelbild der Sprache – Neurokognition von Musik, Leipzig 2004
2. Jeff Hawkins, Sandra Blakeslee: On Intelligence. How a new understanding of the brain will lead to the creation of truly intelligent machines, Times Books, New York 2004
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Ich bitte zu beachten, dass es sich bei diesem Text um einen Teilvorentwurf zu meiner inzwischen veröffentlichten Semesterarbeit Fumeuse speculations. An Essay on Musical Semiotics and a Semiotic Analysis of the Fourteenth Century Rondeau „Fumeux fume“ [Link] im Fach Musikwissenschaft handelt. 😉

Die Wurzeln der Bohème im Spätmittelalter

Dienstag, 03. Juli 2007

„Fumeux fume par fumee, fumeuse speculation“, lautet der Refrain eines außergewöhnlichen Rondeaus aus dem späten 14. Jahrhundert. Überliefert ist es im Codex Chanitlly (Musée Condé) unter dem Namen Solage (ich lese Solige). Über Solage, den Komponisten und vermutlich Dichter des Stückes, ist nicht viel bekannt, außer dem, was uns die Texte seiner Lieder offenbaren. Im Falle „Fumeux“ fragt man sich eventuell, was Solages Zeitgenossen damals wohl geraucht haben mögen, als Tabak in Mitteleuropa noch gar nicht bekannt war und die musikalische Anlage läßt zunächst einen Opium- oder Haschischrausch vermuten. Der Text hält aber mehr bereit.

Eifrige Romanisten haben nämlich herausgefunden, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Anspielung auf die „Chartre des Fumeux“ des französischen Dichters Eustache Deschamps handelt. Dieser verfaßte die Charta im Dezember 1368 als eine Art Manifest der exzentrischen Literatengruppe der „Fumeux“, die sich zum gemeinsamen Debattieren über Musik, Literatur und Sprache bei genüßlicher Einnahme bewußtseinserweiternder Substanzen traf. Es ist unklar, ob diese Clique nur eine künstlerische Idee des Dichters ist oder ob sie tatsächlich existierte. Fakt ist aber, dass im direkten Umfeld Eustaches Deschamps die Namen einer ganzen Reihe interessanter Literaten auszumachen sind und dass wir auf eine Zeit der literarischen Emanzipation zurückschauen.

Dante, Petrarca, aber auch Froissart und Chaucer fingen an, weltliche, von Musik unabhängige Lyrik in ihrer Nationalsprache zu verfassen. In Frankreich hatten die Lieder des Dichterkomponisten Guillaume de Machaut neue Maßstäbe gesetzt. Deschamps bezeichnete sich selbst als Machauts Neffe und war wohl auch in seiner Lehre, als dieser Kanon in Reims, der traditionellen Krönungsstadt der französischen Könige, war. Machaut hatte zunächst einige hohe Ämter bei Johann von Luxemburg inne, der Sohn des deutsch-römischen Kaisers, Heinrich VII, und selbst König von Böhmen war. Befreundet war Machaut auch mit dem späteren König Karl V., unter dessen Protektorat nun zufällig auch Eustache Deschamps und der Vater einer gewissen Christine de Pizans standen. Diese emanzipierte Autorin, Christine, ist nicht nur eine weitere Protagonistin unseres Pariser Literatenkreises, sondern auch frühe Feministin. Sie befaßte sich lange vor der Renaissance mit Studien der Antike und humanistischem Gedankengut, regte 1399 eine literarische Debatte um die Frauenverachtung im „Roman de la Rose“ an und verfaßte vor ihrem Tod die älteste, mir bekannte Utopie einer Gesellschaft, die Frauen gleiche Rechte gewährt. Sie hatte viele Gönner, u.a. Karls Bruder Johann, Graf von Berry, der Kunsthistorikern als bibliophiler Auftraggeber diverser, heute unbezahlbarer Handschriften bekannt sein dürfte, allen voran seine von den Brüdern Limburg illuminierten Très Riches Heures.

Ein weiterer Bruder Karls war Philipp II. der Kühne, Herzog von Burgund, auf dessen Umfeld einige Lieder unseres ersterwähnten Chantilly-Meisters Solage verweisen. Es ist daher anzunehmen, dass Solage unter Philipps Protektorat und damit ebenfalls in direkter Verbindung zu unserem Pariser Literatenkreis stand. Die Überlieferung zeigt jedenfalls mit Machaut, Deschamps, Pizan und Solage vier Gestalten, die sich allesamt im gehobenen Kreis der französischen Prinzen bewegten und deren künstlerischer Output für ihre Zeit außergewöhnlich exzentrisch und individuell war. Eventuell waren sie ja Teil der von Deschamps idealisierten „Fumeux“.

Précis: Linguistik und Poetik

Sonntag, 03. Juni 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich den ersten Teil von Roman Jakobsons Abschlußrede „Linguistics and Poetics“ (1958/1960), darin er anhand seines Sender-Empfänger-Modells sechs Funktionen der Sprache postuliert. Besonderen Wert legt er dabei auf die poetische Sprachfunktion.

Linguistik und Poetik ~ Roman Jakobson

Da ich heute 8 Stunden im Blockseminar zum Thema „Issues in Musical Semiotics“ saß, habe ich mir geschworen, am Abend keine geistigen Höchstleistungen mehr zu vollbringen. Dennoch kann ich mich der Aufbereitung eines kleinen Teils des dort Besprochenen nicht erwehren, zumal es schon lange mein Anliegen war, hier darüber zu sprechen. Es geht um die von Roman Jakobson in seiner Abschlußrede „Linguistics and Poetics“ entwickelte Theorie der sechs Sprachfunktionen.

In Anbetracht der Erkenntnisse des russischen Strukturalismus*1 scheint seine These naheliegend: Sprache hat mehr Funktionen als das bloße Übermitteln von Inhalten. Welche Funktionen das sind, entwickelt Jakobson anhand eines einfachen Sender-Empfänger-Models. Ein Sender sendet sein sprachliches Zeichen durch einen Kanal einem Empfänger, das heißt zu deutsch, einer spricht mit einem anderen, der zuhört. Das sprachliche Zeichen ist das akustische Signal, das der Zuhörer wahrnimmt und der Kanal ist die Verbindung, die zwischen beiden bestehen muß, damit sie Kommunizieren können. Der Kanal kann also z.B. das gesprochene Wort sein oder ein geschriebenes Buch oder auch die Internetverbindung zweier Chatter. Das sprachliche Zeichen hängt nicht in der Luft, es steht in einem Kontext. Beide sind durch den Code miteinander verbunden. Der Code ist etwas schwierig zu erklären; er ist das, einen Baum in der Landschaft mit dem Wort „BAUM“ verbindet, das wir verwenden, um über ihn zu sprechen. Er ist quasi eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, auf was für ein Ding sich das Wort „BAUM“ bezieht. (Wenn jemandem eine bessere Erklärung einfällt, nur zu!)

Jedem Element dieses Models, also dem Sender, dem Empfänger, dem sprachlichen Zeichen, dem Kanal, dem Kontext und dem Code ordnet Jakobson eine Sprachfunktion zu, welche ich erst auflisten, dann erklären möchte.

  • emotiv/expressiv → Sender
  • konativ → Empfänger
  • poetisch → sprachliches Zeichen
  • phatisch → Kanal
  • referentiell → Kontext
  • metalinguistisch → Code

Die referentielle Sprachfunktion ist jene, die wir mit dem Naheliegendem, dem „Übermitteln von Inhalten“ verbinden. Wir verwenden Sprache, um etwas über die uns umgebene Wirklichkeit (Kontext) und die darin befindlichen Dinge (Referenten) zu vermitteln. Sei es den Philosophen überlassen, an dieser Stelle über den Wahrheits- oder Wirklichkeitsgehalt dessen, was wir um uns und an uns wahrnehmen, zu spekulieren. Wichtig für die Linguistik ist die Feststellung, dass Sprache referenziert, also referentielle Funktion hat. Referentielle Sprache ist relativ wertfrei, das ist sie nicht, wenn sie dem Empfänger etwas über die Befindlichkeit des Senders vermittelt, was er fühlt, denkt, wünscht, braucht. Tut sie dies, nennt man das emotiv*2 oder expressiv. Die konative Sprachfunktion ist es hingegen, einen Apell an den Empfänger zu richten. Wenn man z.B. möchte, das jener das Fenster schließt, weil es kalt ist, so könnte man ihn sprechend dazu auffordern oder auch einfach bemerken, dass es ja ziemlich kalt sei und hoffen, dass er die implizite (hineingelegte) Aufforderung versteht. Meine Mutter neigt dazu, bei längeren Erklärungen an jeden Satz ein „Weißte!?“ anzuhängen. Das ist Berlinerisch und heißt so viel wie: „Verstehst du mich? Hörst du zu?“ Sie testet dann, ob ich ihr noch zuhöre (oder ob in der halben Stunde, in der sie mich nicht hat zu Wort kommen lassen, meine Gedanken vielleicht schon nach ganz woanders abgeschweift sind). Sprache dient also auch dazu, den Kanal zu testen, hat phatische Funktion, sagt der Linguist. „Der wer?“, wird der ein oder andere Leser fragen und ich sage: „Der Linguist, das ist ein ‚Sprachforscher‘.“ Schon haben wir uns über den Code verständnigt, abgecheckt, ob wir auch dieselbe Sprache sprechen. Jakobson nennt das die metalignuistische Sprachfunktion.

Eine Sprachfunktion fehlt noch, weiß jeder, der mitgezählt hat, das ist die poetische. Die interessiert alle Dichter ganz besonders, denn es geht um die Frage der Poetizität, also den Umstand, dass Sprache poetisch ist/sein kann. Für Jakobson ist Poetizität eine Strukturfrage. Wenn wir sprachliche Äußerungen, wie eine Phrase, einen Satz, einen Text produzieren, wählen wir aus, was wir referenzieren möchten (Selektion) und setzen danach die Worte zusammen (Kombination).

  • Der Hund hat Hunger.
  • Die Katze hat Hunger.
  • Die Katze hat Durst.

Die horizontale Achse, also die Auswahl zwischen Hund und Katze, sowie die Auswahl zwischen Hunger und Durst, ist die Selektion. Je nach dem, für welches Wort ich mich entscheide, kann ich nur bestimmte Worte kombinieren, also in der vertikalen Achse anhängen. ‚Der Baum hat Hunger‘ oder ‚Die Katze hat Blätter‘ sind Kombinationen, die eher befremdlich bis sinnlos erscheinen. Auf welche Regeln wir uns unbewußt berufen, wenn wir fühlen, dass etwas mit diesen Sätzen nicht stimmt, das herauszufinden versuchen die Linguistien unter den Semiotikern.

Bei der Entstehung eines Gedichtes (Jakobson geht freilich von Wortkunstwerken aus) passiert mehr als das. Prof. Dr. David Lidov, der Dozent meines Blockseminars, drückte das heute so aus: „Poetical function projects the axis of selection into the axis of combination.“ Also, die poetische Funktion projiziert die selektive Achse auf oder in die kombinatorische. Ich glaube, was er damit meint, ist Folgendes: Katze und Hund, aber auch Hunger und Durst sind Elemente zweier Kategorien, die neben anderen Elementen derselben Kategorie zur Auswahl stehen. Dem Dichter stehen aber Kategorien zur Verfügung, die über die Kategorien von „Alltagssprache“ hinausgehen, z.B. der Reim*3. Normalerweise sprechen wir nicht in Reimen. Der Umstand, dass aber Katze, Matratze, Glatze und Fratze sich reimen, läßt diese ansonsten heterogenen Worte zu Elementen einer möglichen Kategorie werden: ‚Katze kratzt mit Tatze Kratzer in Glatze auf Matratze, Fatzke zieht Fratze‘, fällt mir dazu spontan ein. Das ist nicht besonders tiefgründig, aber dafür sehr poetisch. 🙂

Die poetische Funktion von Sprache ist es, mit sich selbst zu spielen, hat der Dichter in mir oft räsonniert und dahingehend ist er wie ein Kind, das gerade die Welt entdeckt – er hat Spaß daran, beim Sprechen mit Sprache zu spielen oder um des Spiels mit Sprachen Willen zu sprechen.

Nun darf man sich das Ganze Brimorium um die sechs Sprachfunktionen nicht so vorstellen, dass jeder Aussage, die wir machen, ganz deutlich eine Sprachfunktion zuzuordnen ist. Bei sehr minimalistischen Äußerungen mag das noch angehen, wird unsere Rede aber komplexer, verschwimmen hier die Grenzen, und verschiedene Sprachfunktionen treten mit unterschiedlicher Dominanz nebeneinander auf. Alltagssprache kann poetisch sein, ist dies aber nicht in erster Linie. Sprache, die in erster Linie poetisch ist, findet sich z.B. in Gedichten, Tragödien, Romanen, also Texten der sogenannten ’schönen Literatur‘. Wer aber mal einen Roman gelesen hat, weiß, dass da irgendwie mehr passiert, als ein Spiel mit Sprache. Die Sprache in einem Roman ist nicht nur poetisch, sie ist auch (und zwar an zweiter Stelle) referentiell/narrativ – d.h. sie erzählt uns etwas und bezieht sich dabei auf die uns umgebende Wirklichkeit. Alle Texte, die an erster Stelle poetisch und an zweiter Stelle referentiell/narrativ sind, nennt man episch.

Bei Gedichten wird auch etwas referenziert, aber nicht an zweiter Stelle. „In Gedichten geht es um Gefühle“, habe ich im Lyrikforum oft gelesen. Das ist insofern richtig, als dass Gedichte uns Optionen subjektiver Emotionalität (oder besser Emotivität) vermitteln. Sicher ist das Ich eines Gedichtes nicht mit dem Sender, also dem Autor gleich zu setzen, aber das ist eine andere Geschichte. Fakt ist, wir nennen Texte, die an erster Stelle poetisch und an zweiter Stelle emotiv sind auch Lyrik.

Die von allen sicher schon erwartete Dramatik ist nicht so ohne weiteres anhand der Jakobsonschen Theorie der sechs Sprachfunktionen zu erklären. Zwar sind auch Dramen in erster Linie poetisch (man schaue sich nur die Shakespearschen Pentameter an!), allerdings gibt es keine Funktion, die an zweite Stelle treten könnte, die die Idee des Dialogs, der gesprochenen Rede als Unikum betrachtet. Dennoch dürfte aber anhand der an Jakobson entwickelten Gattungstheorie schon klar werden, weshalb es mehr als problematisch ist, jede Epik als Prosa zu bezeichnen, alles, was metrisch ist, aber Lyrik zu nennen*4.

Jakobson geht im weiteren Verlauf seines Textes auf metrische Besonderheiten der russischen und anderer Sprachen ein, was für mich an dieser Stelle erst einmal nicht weiter von Interesse ist. Hier sollte es insbesondere um die poetische Sprachfunktion und die daraus abgeleiteten literarischen Gattungen gehen.

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  1. Um es kurz und knapp, dafür aber auch oberflächlich und ungenau zu machen: Der Strukturalismus ist eine Theorie, die Sprache als System von Zeichen versteht. Die Zeichen haben eine Form (Signifikant/Ausdruck) und einen Inhalt (Signifikat/Sinn). Die Theorie der Zeichensysteme (Sprache ist eines, aber es gibt mehr) bezeichnet man hingegen als Semiotik/Semiologie.
  2. Ich erinnere mich an vor Jahren geführte, lange Debatten, die zu erklären versuchten, warum das Wort „emotiv“ anstelle von „emotional“ gebraucht wird und ich weiß noch, dass es etwas mit der Absicht des Senders zu tun hatte. Denn sein Seufzen muß kein Indix für seinen emotionalen Zustand sein, es kann genausogut sein, dass er den Empfänger nur glauben machen möchte, ihn bedrücke etwas. Kann mir das jemand noch mal genauer erklären?
  3. Man spricht bei poetischen Kategorien, wie Reim, Metrum, Metapher, Pleonasmus, etc. auch von Paradigmen. Wir erkennen unterschiedliche poetische Stile in verschiedenen Epochen anhand von Paradigmenwechseln.
  4. Denn ohne Zweifel sind prosaisch und metrisch Aspekte der Form, episch und lyrisch Asekte der Funktion und ein epischer Text kann ebenso metrisch sein, wie ein Lyrischer Text prosaisch sein kann.

Quellen/Links:

Seminararbeit: Das Liedgut des Jehannot de Lescurel

Montag, 14. Mai 2007

Das Liedgut des Jehannot de Lescurel. Zum musikalischen Anhang von Ms. F-Pn fr. 146 („Roman de Fauvel“), Freie Universität Berlin, WS 03/04
[Referat zum Proseminar „Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400“ der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Überlieferungssituation und biographische Thesen

Der Dichter und Komponist Jehannot de Lescurel ist und lediglich aus einer einzigen Handschrift namentlich bekannt, aus dem Manuskript des Roman de Fauvel (Gervais du Bus), welches unter dem Einfluss Chaillou de Pestains mit musikalischen Interpolationen versehen und zusammengestellt wurde. Darin findet sich sein Name zwei Mal: Zum einen ist er als Verfasser der Balladen, Rondeaux und Dits entez (sus Refroiz de Rondeau) im Index aufgeführt, zum anderen findet sich in einem der Liedtexte ein Akrostichon, das „Dame, Jehann de Lescurel vous salue“ (Nr. 29), lautet.

Die Lieder Jehannots sind nicht, wie die anderen Musikstücke, in den Roman integriert, sondern befinden sich im Anhang zischen einem Dit des Geoffrey de Paris und einer anonymen, französischen Verschronik, die man ebenfalls Geoffrey zuschreibt. Die Stücke sind fast ausschließlich einstimmig. Eine einzige Ausnahme, das dreistimmige Rondeau, „A vous douce debonnaire“, werden wir uns nachher gemeinsam näher ansehen. Sowohl Liedkorpus als auch Index führen nach Alphabet und Genre geordnete Werke bis zum Buchstaben „G“ auf. Diese Anordnung und der Abbruch bei „G“ legen die Vermutung nahe, dass das Gesamtwerk Jehannots weitaus umfangreicher gewesen sein dürfte. Es sind uns immerhin 21 Balladen, elf Rondeaux (davon eines doppelt) und zwei Dits überliefert.

Zu zahlreichen, zum Teil wie phantastische Heldenmärchen anmutenden Spekulationen über Jehannots Herkunft und Biographie regten die Musikforschung zwei Pariser Chroniken an. Diese berichten von der Hinrichtung einiger Kleriker im Jahre 1303, die wegen sexueller Vergehen an Nonnen gehängt wurden, unter ihnen ein gewisser Jehan de L’Escurel. Eine Urkunde der Cathédrale Notre-Dame de Paris aus dem Jahre 1304 berichtet weiterhin, dass das Vermögen dieses Jehan an dieselbige Kirche übergegangen ist, was auf eine Verbindung zwischen dem Kleriker Jehan und Notre Dame de Paris hinweist.

Diese Dokumente und der Fakt, dass der Dichter Jehannot aufgrund der Datierung des Fauvel-Manuskripts und sprachlicher, sowie inhaltlicher Aspekte der Liedtexte im Paris um die Jahrhundertwende lokalisiert werden kann, gaben Anlass dazu, den Dichter Jehannot mit dem erhängten Kleriker Jehan gleichzusetzen. Als Vater nahm man den vermögenden Grundbesitzer Pierre a L’Escurel, als Mutter Aalis à L’Escurel an, die vermutlich als Buchhändlerin tätig war. Beide Namen tauchen in verschiedenen Pariser Steuerrollen der Jahre 1296-1300 auf, müssen aber nicht unweigerlich familiär verbunden sein, geschweige denn mit dem Kleriker in Verbindung stehen. Der Name L’Escurel war anscheinend durchaus nicht einzigartig in Paris.

Ein Aspekt, der laut Vorwort der Lescurel Gesamtausgabe CMM30 (N. Wilkins) für die Identität von Dichter und Kleriker spräche, sei das Material des Manuskripts Montpellier H. 196, das musikalisches Material der Cathédrale Notre-Dame aus dem 13. Jh. aufführt. Jehannots Stil tauche dort in einigen Motetten auf, die Werke selbst sind jedoch anonym überliefert.

Fakt ist leider, dass es bisher keine sicheren Zeugnisse gibt, die Rückschlüsse auf die Identität des Dichters Jehannot de Lescurel zulassen, dessen Werke uns in Ms. F-Pn fr. 146 überliefert sind. Alle Hinweise bleiben bisher rein spekulativ.

2. Balladen und Rondeaux
2.1 Jehannot und die formes fixes

Mit dem Werk des Dichters und Komponisten Guillaume de Machaut, der von ~1300 bis 1377 in Frankreich lebte, wird im Bereich der Liedkunst die Entwicklung von Ballade, Virelai und Rondeau zu gattungsspezifischen, festen Liedformen, den so genannten formes fixes weitestgehend abgeschlossen. Die Lieder Jehannots bezeugen einen dieser Endphase vorangehenden Entwicklungsstand.

Im gesamten Liedœuvre des Roman de Fauvel, so auch bei Jehannot, wird nur zwischen Rondeaux einerseits und Balladen andererseits unterschieden. Der zweite Typus enthält dabei sowohl Stücke mit der Struktur der barförmigen Ballade mit Endrefrain, als auch der späteren chansons balladés, genannt Virelai.

Die Ursprünge der beiden Gattungen sind unklar, doch sowohl das altfranzösische Wort „Rondeau“, als auch das provenzalische „Ballade“ findet sich seit Mitte des 12. Jh. in literarischen Quellen belegt. Der Gebrauch der Begriffe deutet zunehmend eine literarische Emanzipation der Formen an. Mit ihnen verbinden sich bald Anspruch und Wert einer qualitativ verfeinerten, poetischen Sprache. So hebt die Schöpfung von Balladen bspw. laut König Alfons X. von Kastilien den Trobador bereits 1275 über den gewöhnlichen Spielmann hinaus.

Während das Rondeau als Begleitlied eines Rundtanzes (carole) relativ schnell zu einer feststehenden Form findet, ist dieser Prozess im Falle der Ballade weniger distinkt. Ihre Formen sind zunächst mannigfaltig. Neben Tanzliedern mit refrainartig-exklamatorischen Einwürfen, stehen Strophen mit festen Refrains oder Voltas (in Metrik, Reim und Musik identisch), bis sich irgendwann eine Art Grundform herausbildet, mit Refrain (R), Stollen (A), Gegenstollen (A‘), Strophenabschluss (B) und Refrain (R), wobei der Refrain selbst und der zu ihm zurückführende Strophenabschluss äußerst variabel bleiben (R AA’B R).

Den meisten Balladen Jehannots, sowie der Ballade „Ay amours“ aus dem Roman de Fauvel fehlt ein Refrain am Anfang des Liedes. Erst am Schluss wird ein solcher aufgeführt. Dieser ist jedoch so gestaltet, dass sich der erste Vers melodisch an den Refrain anschließen könnte, stünde dieser davor. Die Strophe selbst ist jedoch wie schon bei Guillaume li Vinier und Adam de la Halle barförmig (AAB) aufgebaut. Dieser Balladentypus wird später die Grundlage für die Ballades Guillaume de Machauts bilden.

Der andere unter dem Begriff Ballade bei Jehannot vertretene Typus, unterscheidet sich von dem erstgenannten dahingehend, dass sowohl am Anfang, als auch am Ende des jeweiligen Stückes ein Refrain auftritt, während der Strophenabschluss eine Volta darstellt, d.h. eine Versperiode, die in Metrik Reim und Musik mit dem Refrain identisch ist und nicht nur, wie in der barförmigen Ballade, auf diesen zurückführt. (A bb’a A) Diesem Typus entspricht die italienische Ballata und der sich später bei Machaut etablierende chanson balladé, genannt Virelai.

Während Virelai und Ballade auch im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts eher zur Einstimmigkeit tendieren, wird für das Rondeau die Mehrstimmigkeit bald zur Regel. Bereits im Liedkorpus Jehannots ist ein erstes, mehrstimmiges Rondeau aufgeführt, bei welchem die Melodien in einem Note-gegen-Note-Satz melismatisch zusammentreten. Dazu nun ein wenig mehr.

2.2 Analyse des Rondeaus „A vous douce debonnaire“

[audio:lescurel-w1.mp3]

Abb. 1: Noten (transkribiert + diplomatisch) [JPG]

Kommen wir nun zur Analyse des 3-stimmigen Rondels „A vous douce debonnaire“, die ich mit euch gemeinsam machen möchte. Da wir es hier nicht mit einer Motette zu tun haben (alle drei Stimmen singen denselben Text), können wir uns nicht, wie wir es aus den vorangegangenen Seminaren gewohnt sind, am Tenor des Stückes entlanghangeln. Wie ich jedoch bereits erwähnte, sind die Liedformen des frühen 14. Jahrhunderts literarisch emanzipierte Formen, d.h. die formale Struktur der Lieder sollte bereits in den Texten erkenntlich sein. Daher bitte ich euch zunächst, 5 Minuten selbstständig den Text zu beschauen. Die Gliederung dürfte in den Silbenzahlen, Reimen und Versparallelen deutlich werden.

A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.

Vo vair euil mi font atraire
a vous, dame debonnaire:
Ne ja ne m’en quier retraire   
   ains vous serviré
   tant com[me] vivré.
A vous, douce debonnaire
   ai mon cuer donné
   ja non partiré.
A: 1 7_a
B: 2 5b
B: 3 5b
a: 4 7_a
A: 5 7_a
a: 6 7_a
b: 7 5b
b: 8 5b
A: 9 7_a
B: 10 5b
B: 11 5b

Wir sehen also, dass es sich eindeutig um eine uns schon von Machaut bekannte Liedform, das Rondeau (AB aA ab AB) handelt, bei der am Anfang und am Ende des Stückes ein Refrain auftreten, dessen erster Teil am Ende der ersten Strophe wiederholt wird. Betrachten wir uns nun gemeinsam, wie sich die Musik auf diesen Text verteilt:

  • Was erklingt auf den ersten Vers?

Auf den ersten Vers verteilt sich die Musik der ersten 10 Takte (30 Brevis). Dabei ist die Vertonung melismatisch und die Melismen durchziehen den ganzen Text. Auf der 4. Silbe kommt es zu einer Kadenz auf E/G (T.5/15B). Ebenso kommt es auf der 8. Silbe (7_) zu einer Kadenz auf C/E (T.10/30B), mit der der erste Vers endet. Der Satz schreitet weitestgehend simultan (Note-gegen-Note) voran.

  • Was erklingt auf den zweiten und dritten Vers?

Auf den zweiten Vers verteilt sich die Musik der Takte 11-14 (12 Brevis). Die Vertonung ist am Anfang des Verses (T.11-12) weniger melismatisch als am Schluß, der Satz noch immer simultan. Der Vers endet auf der Kadenz A/F. Auf den dritten Vers verteilt sich die Musik der Takte 15-20 (18 Brevis). Die Melismen sind wieder über den ganzen Vers verteilt, der Satz bleibt simultan und endet auf F/C.

Mit Noten versehen ist also nur der Refrain, doch die Textur der übrigen Verse verrät uns, dass sie auf dieselben Melodien gesungen werden. Es kommt also zur Abfolge: ABaAabAB, wobei im B-Teil die zwei kurzen Verse zusammengefasst sind.

Beide Teile weisen ein binär-harmonisches Verhältnis auf, so umfasst die Musik des A- und des B-Teils jeweils 30 Brevis (10 Takte). Jeder Teil hat zwei Kadenzen, die eine Länge von 2×15, 12 und 18 Brevis haben und denen jeweils eine Brevis Pause als Gliederungselement nachfolgt. Darüber hinaus bleibt das Stück pausenlos. Die Schlusskadenz ist identisch mit der Initialis und einzige perfekte Konsonanz (1-5-8). Alle übrigen Kadenzen und Initialis-Klänge sind imperfekte Konsonanzen (1-3-8). Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn man sich die Fundamenttöne des Stückes in einem Schema betrachtet.

Abb. 2: Fundamenttöne [jpg]

An diesem Schema wird neben den Kadenzen auch der Stimmverlauf sehr deutlich. So ist bspw. zu bemerken, dass Tenor und Cantus sich kreuzen, während das Triplum immer über diesen beiden Stimmen schwebt. Ebenfalls deutlich werden die extremen Sprünge des Tenors, die nur durch die melismatischen Verziehrungen der Melodie kaschiert werden. Es wäre daher plausibel, wenn diese Stimme von einem Instrument gespielt würde. Der Cantus bleibt in jedem Falle textierte Stimme, denn dieser ist uns als drittes Werk in Jehannots Liedkorpus als Einzelstimme überliefert. Dies zeigt auch, dass der Cantus die bedeutungstragende Stimme des Rondeaus ist, um die sich Triplum und Tenor gruppieren.

An unserem Fundamentton-Schema ist aber noch eine sehr interessante Auffälligkeit zu erkennen. Diese betrifft den ersten Teil des B-Teils, jenen, den wir schon vorhin als weniger melismatisch entlarvt haben. Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass Triplum und Tenor sich an dieser Stelle spiegeln. In den Takten 11-12 reicht diese Spiegelung bis in die Semibrevisgruppe hinein. Doch nicht nur das, auch die Fundamenttöne des Cantus spiegeln mit denen des Tenors, während sich beide Stimmen dabei sogar überkreuzen. Der Cantus erhebt sich hier über den Tenor. Dies und die Raffung der Passage bewirken an dieser Stelle eine unglaubliche, innere Spannung.

Es ist eigenartig, dass dieser Teil nur 12 Brevis hat, wo er doch ebenso viele Silben zählt, wie der darauffolgende. Eine Teilung in 2×15 Brevis wäre auch hier möglich gewesen und hätte damit sogar eine Symmetrie mit dem A-Teil aufgewiesen. Doch Jehannot entschied sich anders und er tat dies vermutlich aus poetischen Gründen.

Wenn wir uns an Christopher Pages Urteil zu dem anonymen Rondeau „Las, que me demanderoye“ erinnern, so bemängelte er daran, die starke Geste des A-Teils, die sich in ihrer formell bedingten, ständigen Wiederholung irgendwann selbst erbricht. Jehannot setzt die große Geste zu Beginn des B-Teils und erzielt damit nach der dreimaligen Wiederholung des A-Teils beim erneuten Einsetzen des B-Teils einen Effekt von geradezu überragender Wirkung.

2. 3 Zur musikwissenschaftlichen Bedeutung Jehannots

Das Œuvre Jehannots stellt in jedem Falle ein wichtiges Zeugnis für die vielschichtige Umbruchszeit zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit und zwischen schriftloser und schiftgebundener Praxis in der Musik um 1300 dar. Die Entwicklung der monodischen Gattungen wird daran ebenso deutlich, wie die Entwicklung neuer Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Jehannot sagt sich in seinen Liedern von dem engen Korsett modaler Schemata los und durchbricht darüber hinaus sogar deren ternäre Rhythmen. Durch die Vorteile der Mensuralnotation können nun erstmals auch kleinteilige Verziehrungen unterhalb der dreigeteilten Brevis notiert werden. Diese finden sich z.B. als Melismen über den ganzen Text verteilt, was die Lieder weitaus cantabler macht, als die älteren Conductus, die nur am Anfang und am Ende Melismen aufweisen. Kleine Notenwerte finden sich aber auch innerhalb schnell deklamierter, syllabischer Passagen. Eine Technik, die Jehannot von Petrus de Cruce übernimmt und hier zum ersten Mal auf die Monodie anwendet.

Mit seinem dreistimmigen Rondeau dürfte uns zudem wohl einer der frühsten, mehrstimmigen Liedsätze überliefert sein. Die hohe Qualität und die Kohärenz der Komposition lassen vermuten, dass Jehannot bereits gute Erfahrungen auf dem Gebiet der Mehrstimmigkeit hatte. Seinen Innovationsstatus beweist auch die Etablierung der zwei neuen Balladentypen. Sowohl die barförmige Ballade mit Endrefrain, als auch das Virelai begegnen uns als musikalisch-dichterische Formen bei Jehannot zum ersten Mal.

Sollte sich die zweifelhafte These der Identität von Dichter und Kleriker jemals bestätigen, wären diese zahlreichen Neuerungen bereits in der Zeit um Ende des 13. Jahrhunderts anzusiedeln. Also noch bevor sie im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts durch Philippe de Vitry und Johannes de Muris im Sinne einer „Ars Nova“ ausformuliert und etabliert werden.

Doch auch wenn sich dieser Verdacht nicht erhärten lässt und die Lieder also erst in den 1310er Jahren entstanden sein sollten, so dürfte Jehannot dennoch unter die frühen Wegbereiter der so genannten „Ars Nova“ gezählt werden.

3. Notation & Fragen zu Metrik und Rhythmik

Die frankonische Notation kennt grundlegend vier Notenwerte (Maxima, Longa, Brevis und Semibrevis) und drei Mensurverhältnisse (Maximodus, Modus und Tempus). Aus der Theorie wissen wir, dass eine Brevis den Teilwert von zwei oder drei Semibrevis haben kann. Die kürzeste Note, die demnach möglich wäre, wäre also eine Semibrevis im Tempus perfectum.

In der modifizierten Notation des Fauvel-Manuskripts, also auch in Jehannots Rondeau W1, finden sich Gruppen mit 2, 3 und sogar 4 Semibrevis, die insgesamt den Wert einer Brevis haben. Dies zeigt, dass es hier einen Notenwert geben muß, der kürzer ist, als der 3. Teil einer Brevis im Tempus perfectum. In der Theorie der „Ars Nova“ entspräche dieser Wert einer Minima. Ihr Notenzeichen existiert zu Jehannots Zeiten jedoch noch nicht, weshalb ihr Wert nicht eindeutig notiert werden kann.

Im Nachhinein bleibt fraglich, ob dennoch schon ein Verständnis für die Prolatio, also das Verhältnis zwischen Semibrevis und Minima, existierte oder nicht. Diese Leerstelle muß unweigerlich zu einem Transkriptionsproblem führen. Schauen wir uns an, wie Friedrich Gennrich, Nigel Wilkins und Elisabeth Aubrey es zu lösen versuchten.

Abb. 3: Transkriptionen: Gennrich, Wilkins, Aubrey [JPG]

Alle drei gehen davon aus, dass es sich im Falle von W1 um ein Tempus imperfectum handelt. Vermutlich lehnen sie sich mit dieser Entscheidung an eine Äußerung Philippe de Vitrys, der über die Motette „Adesto – Alleluia Benedictus“, die sich ebenfalls im Fauvel-Manuskript findet und ebenfalls solche Semibrevisgruppen aufweist, sagt, dass ihr Tempus imperfekt wäre. Darüber hinaus treten Gruppen mit zwei Semibrevis weit häufiger auf, als solche mit dreien. Dagegen spräche jedoch, dass in der „Ars Antiqua“ imperfekte Tempora eher selten waren. Letztlich kann das Tempus in W1 nicht zweifelsfrei bestimmt werden, da Semibrevis nie einzeln, sondern immer nur in Gruppen auftreten.

Was nun die Prolation betrifft, bewegen wir uns auf noch glatterem Eis. Während Gennrich eine imperfekte Prolation annimmt, übersetzt Aubrey eine perfekte. Wilkins nimmt hingegen für die Dreiergruppen imperfekte, für die Vierergruppen aber perfekte Prolation an, was inkonsequent erscheint.

Völlig unklar bleibt aber so oder so, inwiefern hier Alterations- und Diminutionsregeln auf die Prolation anwendbar sind. Gennrich alteriert in der Dreiergruppe, wohl von der Cauda verleitet, die erste Semibrevis, lässt aber in den Zweier- und Vierergruppen die Caudas unbeachtet. Wilkins und Aubrey beachten die Caudas in den Dreier- und Vierergruppen, nicht aber in den Zweiergruppen.

Ein sachkundiger Blick in das Manuskript zeigt aber, dass die Caudas mit zaghafter und von der Haupthand verschiedener Hand eingefügt wurden. Willi Apel betrachtet sie nicht als original. Dies würde bedeuten, dass sich unter Beachtung der frankonischen Diminutions- und Alterationsregeln andere Figuren für die Prolatio ergeben müssten. Probieren wir das mal selbst aus.

Abb. 4: Versuche zur Übertragung [JPG]

Bei all diesen Versuchen sind wir nun immer davon ausgegangen, dass es zu der Zeit bereits ein Verständnis für die Prolation gab, so dass also auch Diminutions- und Alterationsregeln auf die angewandt werden können. In den theoretischen Quellen wird darüber jedoch nichts berichtet und es ist durchaus anzunehmen, dass es ein solches Verständnis nicht gab. Zumal Stücke überliefert sind, in denen solche Semibrevisgruppen syllabisch vertont wurden. Dass es aber aufführungstechnisch möglich gewesen sein soll, in solchen Fällen Differenzierungen im Bereich von „16tel-Triolen“ zu singen, erscheint aus rein praktischen Gründen zweifelhaft. Wahrscheinlicher wäre, dass die Semibrevisgruppen in solchen Fällen einer unabhängig von einem Prolationsverständnis als undifferenzierte Teilwerte der Brevis verstanden wurden, ähnlich wie man es sich bei den Stücken Petrus‘ de Cruce vorstellen kann.

WS 03/04

Werkeinführung: Joseph Haydn ~ Die Jahreszeiten

Montag, 07. Mai 2007

„Die ‚Jahreszeiten‘ haben mir den Rest gegeben. Ich hätte sie nicht schreiben sollen“, bemerkte Haydn (1732 – 1809) einmal zu seinem zweiten Oratorium. Auf seinen zwei Englandreisen in den 1790ern hatte der Wiener Komponist das Potential großer Oratorienkompositionen kennengelernt. Händel wurde nach wie vor aufgeführt und vom Publikum verehrt und so sann Haydn über die Komposition eigener Oratorien nach. Mit John Miltons „Creation“ und James Thomsons „The Seasons“ brachte er sich englische Textvorlagen in die Heimat mit, wo ihn der Wiener Hofbibliothekar, Baron Gottfried van Swieten, drängte, das Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Van Swieten war ein Liebhaber der Oratorienkunst und organisierte regelmäßig private Aufführungen von Händel-Oratorien. Mozart schrieb aus diesem Anlass seine deutsche Fassung des „Messiah“ und Haydn ließ sich schließlich auf die Zusammenarbeit mit dem Amateurdichter ein. Van Swieten übersetzte das Versepos „Creation“ ins Deutsche und obgleich Haydn vom Libretto nicht sonderlich begeistert war, ging die Arbeit zügig vonstatten. Die ‚Schöpfung‘ wurde ein großer Erfolg und machte Haydn über Nacht zu einem Stern am Komponistenhimmel.

Schon während der ersten Aufführungen der ‚Schöpfung‘ arbeitete er an den ‚Jahreszeiten‘ und das Publikum erwartete deren Uraufführung sehnsüchtig. Doch die Entstehung sollte sich noch zwei Jahre mühsam hinziehen. Immer wieder mischte sich van Swieten in die musikalische Umsetzung ein, er verlangte üppige tonmalerische Umsetzungen der Naturschilderungen und ließ Haydn wenig kreativen Freiraum. Empört über den rechthaberischen Starrsinn des Barons kritzelte er bei der Korrektur des Klavierauszugs eine Notiz in die Noten: „Diese ganze Stelle […] ist nicht aus meiner Feder geflossen; es wurde mir aufgedrungen, diesen französischen Quark niederzuschreiben.“

In Oratorien waren es üblicherweise Helden der Antike oder des Christentums, die durch profonde Themen führten, genau wie in der ‚Schöpfung‘. In den ‚Jahreszeiten‘ sangen hingegen Bauern von irdischen Belanglosigkeiten und Haydn hatte große Probleme, sich damit anzufreunden. Dennoch gelang ihm im Frühjahr 1801 die Fertigstellung einer großartigen und zukunftsweisenden Komposition. Ideen der idyllischen Naturverbundenheit und der Flucht ins Private verweisen bereits auf die herannahende Kulturepoche des Biedermeier und Romantiker wie Weber, Schubert oder Lorzig inspirierten sich bald am volkstümlichen Ton des Haydn-Oratoriums.

Dem Jahreszeitenzyklus entsprechend ist es in die vier Teile eingeteilt. Eine stürmische G-Moll-Einleitung vollzieht den Übergang vom Winter zum Frühling, der vom Chor freudig begrüßt wird. Wohlgemut pfeift Pächter Simon (Bass) sich mit dem Thema aus der ‚Sinfonie mit dem Paukenschlag‘ bei der Arbeit ein Lied und bringt damit eines der seltenen Selbstzitate Haydns. Seine Tochter Hanne (Sopran) und Bauer Lukas (Tenor) stehen ihm zur Seite. Ähnlich wie in Vivaldis „Jahreszeiten“ erklingt auch hier ein Loblied auf den Wein im Sommer und ein Jagdlied im Herbst, und im fugaten Schlußchor gen Winter werden ernstere Töne angestimmt, wie man sie aus der Schöpfung kennt.

Haydn mag das Libretto nicht gemocht haben, seine Komposition fand ihre Bewunderer. So stand im Winter 1801 in einer Ausgabe der „Zeitung für die elegante Welt“: „Demungeachtet hat und behält das Werk unübertreffliche Schönheiten, herrlich und großartig gearbeitete Partien und Tongemälde […], wodurch es sich zu allen Zeiten auszeichnen wird.“

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Quellen: K. Schumann, D. Starke, Wikipedia