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Essay: Formlos bloß lose Form

Freitag, 10. März 2006

Wenn ich an Gedichten von Hobbyautoren die mangelnde Form kritisierte, hielten diese oft entgegen, Gedichte müßten nicht immer reimen. Das ist korrekt, doch wie sollte ich klarmachen, dass es meine Kritik trotzdem nicht entkräftete? Was ist eigentlich poetische Form, wodurch und wie ergibt sie sich in einem Gedicht? Der Antwort auf diese Fragen rückte ich näher, als ich mich mit dem Werk des Komponisten Claude Debussy befaßte, dem man seinerzeit ebenfalls vorwarf, seine Stücke seien formlos. Ausgehend von einem Zitat Adornos schreibe ich in diesem Essay über die Formbarkeit poetischer Sprache.

Formlos bloß lose Form
Ein kurzer Versuch über sprachliche Form und Formbarkeit von poetischen Texten

Noch vor 70 Jahren warfen Gelehrte dem französischen Komponisten Claude Debussy (1862 – 1918) vor, seine Musik sei formlos. Sie folgt nicht den klassischen Mustern von Fuge, Sonate oder Tanz und war damit schwer fassbar. Dass sie dennoch funktioniert und alles andere als formlos ist, haben Studien inzwischen aufgedeckt. Sie organisiert sich auf einer anderen Ebene und durch andere Elemente, als ihre klassischen Vorläufer, ist aber deswegen nicht weniger formvollendet.

Auch ein Gedicht, welches nicht in Sonett-, Oden- oder sonstigen Strophen verfasst ist, ist nicht automatisch formlos und dennoch verbinden viele Dichter auch im Zeitalter der prosaischen Lyrik den Begriff der Form fast ausschließlich mit den Möglichkeiten metrischer Gestaltung. Wie arm erscheint dieser Blickwinkel doch in Anbetracht der hohen Komplexität des Zeichensystems Sprache! Die daraus folgende Konsequenz ist eine Unsensibilität gegenüber anderen Möglichkeiten formeller Gestaltung und natürlich deren Vernachlässigung während des Schaffensprozesses.

Metrikbefürworter verlassen sich darauf, dass allein die Anwesenheit von Versen und Strophen ihrem Gedicht Struktur und Linie gäben und schärfen den Blick nicht für die darüber hinausgehenden Elemente sprachlicher Ordnung. Metrikgegner üben sich hingegen oftmals überzeugt in genereller Ignoranz gegenüber allem, was eine Idee von Form vermitteln könnte. Der eine Standpunkt erscheint so blauäugig, wie der andere. Dabei ist der hohe Grad an sprachlicher Formalisierung, den wir in den Sonetten Dantes (1265 – 1321) ebenso finden, wie in den Konstellationen Gomringers (*1925), neben der relativen Kürze, wohl eines der anerkanntesten Charakteristika des Gedichtes.

Form ist “der Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert”, schreibt Theodor W. Adorno (1903 – 1969) in seinem Aufsatz “Form in der neuen Musik”. Sie beziehe sich “auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht.”

Form ist also etwas, das sinnlich wahrgenommen wird, ein wesentlicher Aspekt eines jeden ästhetischen Geschöpfs, so auch des Gedichts. Wenn wir der strukturalistischen Sprachwissenschaft (Linguistik) glauben dürfen, ist sie der Sprache ureigen. Denn jedes sprachliche Zeichen, z.B. ein Laut, ein Buchstabe, eine Silbe, ein Wort oder dergleichen, verweist gleichsam auf das durch dieses Zeichen Bezeichnete, seinen Inhalt. Form (z.B. /Baum/) und Inhalt (z.B. /stämmige Grünpflanze/) sind also untrennbar miteinander verbunden.

Die bloße Tatsache, dass Sprache ohne Form also nicht möglich ist, scheint allein aber nicht auszureichen, um sie als Quell ästhetischer Komposition formell vernehmbar zu machen. Denn ein sprachlicher Text erscheint schnell unordentlich und chaotisch, wo er keine Linie verfolgt. Die Frage ist also nicht nur, welches die Elemente der Sprache sind, die einem Text Form geben, sondern auch, wie diese sinnvoll organisiert werden könnten, um einen Eindruck formeller Ordnung zu vermitteln, der über bloße metrische Strukturen hinausgeht, bzw. derer ungeachtet funktioniert.

Was genau als ordentlich/geordnet empfunden wird, ist relativ schwierig zu verallgemeinern. Sicher ist aber, dass ein gewisser Grad der Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit damit einhergeht und dass Wiederholung und Variation starken Einfluss darauf haben. Ein Text, der sich z.B. aus willkürlich zusammengesetzten Gedankensplittern ergibt, vielleicht nur unvollständige Sätze bringt, abgehackt und unflexibel klingt und dazu noch kreuz und quer auf dem Blatt angeordnet ist, wird schwerlich als ordentlich empfunden werden, selbst wenn der offensichtlichen Unordnung ein System zugrunde liegen sollte. Demgegenüber fällt einem die formelle Ordnung eines kohärenten und gegliederten Textes vielleicht erst einmal gar nicht auf, weil man sie als Selbstverständlichkeit empfindet.

Grundlegend unterscheide ich vier Ebenen, auf denen sprachliche Formalisierung möglich ist. Diese Ebenen greifen natürlich ineinander, sind kombinierbar und daraus ergeben sich ganz herrliche Möglichkeiten.

Eine Ebene, die mit dem Begriff “Metrik” bereits angesprochen wurde, ist die Ebene der Lautlichkeit, phonetische Ebene genannt. Alles was an Sprache klingt, also z.B. Gleichklangsgebilde, wie Reime, Assonanzen oder Alliterationen, Akzente, aber auch Pausen, Betonungen, Konsonant- und Vokalfarben, alles, was akustisch wahrnehmbar ist, gehört in diesen Bereich. Ein metrischer Text ist im Bereich der Lautlichkeit sehr streng geordnet, weil die Abfolgen von betonten und unbetonten Silben, von Pausen und z.T. auch von Reimen sehr vorhersehbar sind. Aber auch ein prosaischer Text muss auf lautlicher Ebene nicht unweigerlich unordentlich sein. Auch hier können sich Tendenzen der Periodisierung herausstellen, z.B. Abschnitte von gleicher Silbenzahl zwischen Pausen oder Gebilde von symmetrischer Betonungsfolge, doch sind diese bei weitem nicht so regelmäßig, wie in einem metrischen Text (s. dazu “Zwei ungleiche Paare”).

Eine weitere, relativ naheliegende Ebene der Strukturalisierung, ist die syntaktische Ebene. Dazu gehört alles, was mit dem grammatischen Bau der Sprache zusammenhängt, also z.B. Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, Verbindungselemente, grammatische Phrasen und Figuren, wie Chiasmen, aber auch Beugung von Nomen in den verschiedenen Fällen (Deklination), Steigerung von Adjektiven (Komparation) oder in den verschiedenen Personen gebeugte Verben (Konjugation). Die großen Redner der Antike setzten die Gliederung auf syntaktischer Ebene sehr bewusst ein und formten oft Sätze, denen eine grammatische Periodik zugrunde lag. Syntaktische Elemente verschiedener Art können dabei zu symmetrischen oder sonstig regelmäßigen Gebilden geformt werden.

Intrigen und Zwietracht, Gezanke und Streit – wer wird dieses Feuer jemals löschen, wer wird es sein?

Dieser Satz teilt sich in vier Perioden, zwei Aufzählungen und zwei Fragen. Die Aufzählungen bestehen jeweils aus zwei Elementen, die durch ein ‘Und’ verbunden sind und folgen beide dem Schema a + b. Die zwei Fragen beginnen jeweils mit einem Interrogativpronomen und enden mit einem Infinitiv. In der zweiten Frage ist das Akkusativobjekt durch ein unspezifisches ‘Es’ ersetzt. Ansonsten haben auch diese beiden Teile dieselbe grammatische Form. Zusätzlich werden bei diesem Beispiel auch lautliche Schemata wieder aufgenommen.

Eine dritte Ebene ist seit den Versuchen der konkreten Poesie zunehmend ins Blickfeld formaler Sprachbetrachtungen gerückt, die graphische. So hat jeder geschriebene Text ein Aussehen, das sich aus den einzelnen Zeichen für die Buchstaben und der Anordnung dieser Zeichen auf dem Blatt oder dem zu beschreibenden Medium ergibt. Die für das Gedicht typische Optik ist die Anordnung des Textes in kürzere Zeilen und Absätze, so dass um das Geschriebene herum viel unbeschriebener Raum ist. Diese Anordnung entwickelte sich ursprünglich aufgrund der lautlichen Strukturen von Gedichten. So machte man Zeilenumbrüche nach Kadenzen (Pausen, die am Versende entstehen) und Absätze nach Strophen, um dem stummen Leser das Erfassen dieser lautlichen Strukturen zu erleichtern. In prosaischen Texten, wie Romanen oder Essays, werden Absätze hingegen nach Sinneinheiten gemacht, während Zeilen meist nicht umgebrochen werden.

Verschiedene andere Aspekte sprachlicher Formalisierung waren früher also dafür verantwortlich, dass ein Text diese oder jene Optik erhielt. Heutzutage ist die Optik selbst jedoch zu einem Aspekt sprachlicher Formalisierung und also künstlerischen Ausdrucks geworden. So finden sich Gedichte, die den Gegenstand abbilden, den sie thematisieren, oder auch mit der Anordnung der Worte selbst spielen, in dem sie Kaskaden oder andere Linien nachbilden und Worte kreuzen, spiegeln oder ähnliches.

Der am schwersten zu fassende Bereich sprachlicher Formalisierung dürfte aber wohl die semantische Ebene, die Ebene der Bedeutung von Wörtern, Phrasen und Sätzen sein. Diese ist deshalb so schwierig zu beschreiben, weil es zwischen unterschiedlichen Menschen, selbst wenn sie die gleiche Sprache sprechen) zu ganz unterschiedlichen Ansichten dessen kommen kann, was ein Wort oder ein ähnliches Element bedeutet. Jeder Mensch hat ein anderes Empfinden für die durch Sprache transportierten Inhalte und die sich daraus ergebenen Beziehungen zwischen diesen Elementen. Gleichwohl ist es aber diese Ebene, an der sich die Geister scheiden, die die größte Sensibilität und Spracherfahrung erfordert, eben weil sie so schwer zu verallgemeinern ist.

Auf der semantischen Ebene sind es Fragen der Beziehungen zwischen Wörtern, Phrasen und Sätzen, die über Ordnung oder Unordnung entscheiden. So kann es zu Brüchen kommen, wenn man Wörter unterschiedlicher Stilebenen kombiniert. In dem Satz: “Das Diner war beschissen”, passt entweder das ‘Diner’ oder das ‘beschissen’ nicht. Denn das eine ist ein gestelztes Fremdwort und das andere entstammt der Fäkalsprache. Brüche können sich aber auch ergeben, wo Wörter verschiedener Bedeutungskategorien aufeinanderprallen. Die Wörter Fisch, Frosch und Flusskrebs bezeichnen bspw. relativ kleine, im Wasser lebende Geschöpfe. Das Wort Elephant würde nicht dazu passen. Ebenso kann ein Satz wie “Gelbes Sonnenlicht durchströmte warm die Axt”, zu Verwunderung führen, weil die Axt als etwas Kaltes, Hartes und Scharfes empfunden wird, also eine völlig andere Atmosphäre schafft, als das warme Licht.

Auch zwischen größeren semantischen Einheiten sollten diese Relationen bedacht werden. So erscheint es zum Beispiel nicht sinnvoll, einen anderen Menschen zu beschreiben und nachdem man bei den Haarspitzen begonnen hat, bei den Fingernägeln weiter zu machen, dann zu den Lippen und den Ohrläppchen zu kommen, um danach etwas über die Fersen und die Oberschenkel zu sagen. Viel besser gegliedert ist solch eine Beschreibung, wenn sie bspw. von unten nach oben oder von links nach rechts geschieht oder wenn bei den großen Gliedern des Körpers begonnen wird, um dann mit den kleinen Gliedern des Gesichtes fortzufahren oder dergleichen mehr.

Wenn wir Dinge thematisieren, sei es in einem Roman, einem Essay oder einem Gedicht, dann ist es sinnvoll, die Einzelaspekte geordnet vorzutragen, z.B. nach ihrer Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, nach ihrer Farbe, ihrem Klang oder ihrer Wichtigkeit und nicht in den Gedanken hin und her zu springen und dadurch Unruhe und Verwirrung zu stiften Dies erlaubt es dem Zuhörer oder Leser, der Sache besser zu folgen und diese zu erinnern. Außerdem ist es möglich, auf semantischer Ebene hervorragende Redefiguren zu erzeugen, in dem man z.B. mit Vergleichen arbeitet, homonyme Worte (z.B. Ball und Ball) umdeutet oder bewusst Gegensätzlichkeiten gegenüberstellt. Auch dadurch können sich wieder sprachliche Muster ergeben, die letztlich eine Idee von Form vermitteln.

Sprache ist ein komplexes System aus Zeichen, kleinen Elementen, die zu größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Wie wir diese Elemente zusammenfügen und nach welchen Kriterien wir sie (an-)ordnen hängt ganz davon ab, in welcher Sprechsituation wir uns befinden, bzw. was wir mit unserem Sprechen bezwecken. Der Künstler ist dabei nur sich selbst verpflichtet. Seine Kreativität wird einzig durch sein Können begrenzt.

Aug. 2005

Essay: Zwei ungleiche Paare

Freitag, 10. März 2006

Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.

Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”

Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.

Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.

Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.

Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.

Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.

Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.

Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.

Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.

Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.

Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”

Jul. 2005

Schwarze Mensuralnotation

Mittwoch, 08. März 2006

Wie funktioniert eigentlich so die schwarze Mensuralnotation.

Schwarze Mensuralnotation

Werkeinführung: Arthur Honegger ~ Jeanne d’Arc au bûcher

Montag, 27. Februar 2006

Was sich am 6. Mai 1939 während der Frankreich-Premiere von „Jeanne d’Arc au bûcher“ (Johanna auf dem Scheiterhaufen) in Orléans abspielt, gleicht auf traurige und groteske Weise der Thematik des dramatischen Oratoriums selbst. Das reaktionäre und rassistische Publikum eines auf Krieg eingestimmten Frankreichs verschreit Ida Rubinstein, Hauptdarstellerin und Auftraggeberin des Werkes, als Jüdin, der es nicht zustehe, die Rolle der reinsten, französischen Nationalheldin und Christin Johanna von Orléans zu spielen.

Nur ein Jahr zuvor, bei seiner konzertanten Uraufführung in Basel am 12. Mai 1938 unter Paul Sacher, riß „Jeanne d’Arc au bûcher“ Publikum und Presse zu Begeisterungsstürmen hin. Das Oratorium ist nicht das einzige Auftragswerk der russischen Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, das große Berühmtheit erlangt hat; zu nennen sind Highlights wie „Le Martyre de Saint Sébastian“ (Annunzio/Debussy) oder der „Boléro“ (Ravel). Sie und Arthur Honegger lernten sich über Jean Cocteau und die Group de Six kennen. Als sie im Frühjahr 1934 mit der Idee zu „Jeanne d’Arc“ zu ihm kam, war es nicht ihr erstes, gemeinsames Projekt. Als Textdichter hatte man Paul Claudel, den jüngeren Bruder der Bildhauerin Camille Claudel, vorgesehen. Dieser wagte sich als strenger Katholik zunächst nicht an die Thematik heran. Eine Vision, die er auf einer Bahnfahrt nach Brüssel hatte, gab ihm jedoch ein, es dennoch zu tun und so hatte er innerhalb weniger Wochen das Libretto komplett skizziert. Honegger konnte sich noch im selben Jahr an die kompositorische Arbeit machen.

Dabei hatte der Dichter genaue Vorstellungen von der musikalischen Umsetzung seines Textes; seine klaren Vorgaben waren eine Herausforderung für den Komponisten. Ausgehend vom Tag ihrer Hinrichtung erzählt „Jeanne d’Arc au bûcher“ die Geschichte der Märtyrerin Johanna, die als Sechzehnjährige ihre Heimat in Lothringen verließ, um das belagerte Frankreich von den Engländern zu befreien, dem Dauphin, Karl, zur Krone zu verhelfen und schließlich aus politischem Machtinteresse als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Dabei bedient sich das Oratorium Elementen des Mysterienspiels, der Oper und des antiken Dramas, vor allem aber einer Technik der Kinematographie. Dem Zuhörer erschließt sich die in einen Prolog und elf Szenen gegliederte Handlung durch ineinander verschränkte und sich überlagernde, teils historische, teils fiktive Rückblenden erst im Nachhinein.

Die Stimmen des Himmels rufen Johanna zu sich. Bruder Dominik liest ihr aus dem Buch ihres Lebens vor, da dringen die bestialischen Stimmen der Erde zu ihr, die Johanna anklagen und verwünschen. Einem Tiergericht soll sie übergeben werden, das in der Tradition des „Roman de Fauvel“ (Gervais du Bus, ~ 1310) über ihr Schicksal entscheiden soll. Zum Vorsitzenden ernennt sich Porcus, das Schwein (frz. Cochon), selbst; eine deutliche Anspielung auf den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, der in der Historie tatsächlich den Vorsitz im Prozess gegen Johanna innehatte. Die Schafe fungieren als Beisitzer und der Esel soll Schreiber sein. Von diesem Tiergericht wird Johanna verurteilt und findet sich am Pfahl auf den Scheiten wieder. Auf die Frage, wie sie dorthin gekommen sei, berichtet ihr Bruder Dominik vom Kartenspiel der Könige von Frankreich und England und des Herzogs von Burgund, die symbolisch für Torheit, Hoffahrt und Habgier stehen. Johanna selbst ist der Einsatz der Partie und dem Sieger, England, wird sie ausgeliefert. Ihre Schutzheiligen Katharina und Margarethe erbitten göttlichen Beistand und in der Geborgenheit ihrer Schutzheiligen erinnert sich Johanna an die Krönung des Dauphin. Unter Jubel und Tanzmusik zieht er in Reims, der Krönungsstadt, ein. Mühlenwind und Mutter Weinfaß begrüßen sich freudig, denn durch die Krönung ist die Wiedervereinigung des weizenbringenden Nordens mit dem weinreichen Süden Frankreichs zustande gekommen. Doch als Johanna sich über den auf sie zurückzuführenden Erfolg freut, werden wieder die sie anklagenden Stimmen auf der Erde vernehmbar. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, ihre Unschuld zu der Zeit als ihr das Schwert, mit dem sie Frankreich befreite, übergeben wurde und sie mit den anderen Kindern das Trimazô-Lied sang. Dieses Lied versucht sie nun noch einmal zu singen, doch die Realität, in die sie zurückgeworfen wird, erstickt ihre Stimme. Johanna steht auf dem Scheiterhaufen, Bruder Dominik hat sie am Ende ihres Buches verlassen und ihre Schutzheiligen sprechen ihr Trost zu, bevor sie flammend in der Herrlichkeit des Himmels aufgeht.

Diese Szenen sind verknüpft durch die Verarbeitung einiger charakteristischer, wiederkehrender Motive, wie z.B. das Rufen des Höllenhundes am Beginn des Stückes, die Glockenakkorde, die die Stimmen ihrer Schutzheiligen begleiten oder das Trimazô-Lied, welches kindliche Geborgenheit symbolisiert. Zahl- und facettenreiche musikalische Quellen finden Verwendung und werden durch Diminutionen, Augmentationen, Umkehrungen, Sequenzierungen und andere thematische Spielereien szenenübergreifend miteinander verquickt. Elemente folkloristischer Musik, wie das Trimazô-Lied oder das alte, französische Volkslied „Voulez-vous manger de cesses?“ stehen neben Chorälen wie dem Antiphon „Aspiciens a longe“ oder dem Conductus der „Esel Sequenz“, das transponierte B-A-C-H Motiv neben Parodien auf die zeitgenössische Jazzmusik, wie der Arie des Porcus oder Parodien auf die Barockmusik selbst.

Auch die Klangvielfalt der chorischen und instrumentalen Besetzung ist groß. Chor, Kinderchor und Solisten singen, sprechen, schreien, summen, murmeln oder psalmodieren in Chorälen, Chören und rhythmischen Fugati. Die Hauptrolle verlangt nach einer Sprechpartie, denn Ida Rubinstein war Schauspielerin und nicht Sängerin. Auch Bruder Dominik und einige Nebenrollen werden von Sprechern dargestellt, so dass es insgesamt viele Passagen mit gesprochenem Wort gibt. Dennoch gibt es nur drei Stellen, an denen der musikalische Fluss unterbrochen wird. Das Orchester ist mit dreifachem Holz besetzt und anstelle der Hörner musizieren drei Alt-Saxophone. Celesta und zwei Klaviere reihen sich ein, die in Szene VI, der Kartenspielszene, durch auf die Seiten gelegte Metallbügel den spitzen Klang eines Cembalos mimen. Das wohl interessanteste Instrument ist aber das Ondes Martenot, ein monophones, elektronisches Tasteninstrument mit sieben Oktaven, das nach dem Prinzip des Schwebungssummers arbeitet, dessen Klang durch elektronische Filter variiert werden kann. Zum Einsatz kommt es schon zu Beginn beim Rufen des Höllenhundes. Honegger war einer der ersten, der diesem Instrument Platz im Orchester einräumte.

Durch den Zweiten Weltkrieg erlangte „Jeanne d’Arc au bûcher“ in den vierziger Jahren eine brisante Aktualität. 1941 wählte das Ensemble „Chantier Orchestral“ das Oratorium für eine Tournee durch mehr als 40 Städte des unbesetzten Frankreichs aus. Nach der Befreiung fügten Claudel und Honegger den bis dahin gefertigten elf Szenen noch einen Prolog bei, der Jeanne als Retterin und Befreierin Frankreichs preist. Seine szenische Erstaufführung hatte das Werk 1942 im Stadttheater Zürich in der deutschen Fassung von Hans Reinhard. Auf eben diese Fassung wird auch die Berliner Singakademie bei ihrer konzertanten Aufführung der „Jeanne d’Arc au bûcher“ am 28. April 2006 zurückgreifen.

Claude Debussy ~ 24 Préludes

Samstag, 30. April 2005

Dies ist die zweite der beiden Reden, die ich für meine Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005 vorbereitete. Sie beinhaltet eine Biographie Debussys, eine Werkeinführung in die 24 Préludes und die Analyse Präludiums „Danseuses des Delphes“. Alle drei Teile sind knapp und sollten lediglich die Grundlage für ein sich entwickelndes Prüfungsgespräch zum Thema bilden.

Claude Debussy (1862 – 1918)

Claude Achille Debussy wurde im August 1862 im Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie geboren. Weder Vater, noch Mutter hatten musikalische Prägung, doch 1870 erhielt Debussy ersten Klavierunterricht von seiner Tante in Cannes. 1871 übernahm Antoinette Mauté die pianistische Ausbildung des Knaben, so dass er 1872 die Aufnahmeprüfung am Konservatorium schaffte.

In den Klassen von Marmontel (Klavier) und Lavignac (Solfège) machte er, trotzdem er der akademischen Institution gegenüber stets abgeneigt war, zunächst gute Fortschritte. Doch Misserfolge ließen ihn schon 1878 die pianistische Laufbahn anstelle eines aufgeben, um Komposition zu studieren. Dies tat er ab 1880 bei Guiraud und als Gsthörer bei César Franck. Für die Kantate „L’enfant prodigue“ erhielt er 1884 den Rom-Preis.

Die folgenden Jahre verbrachte er gemäß den Pflichten des Preisträgers überwiegend in der Villa Medici in Rom. Dort las er Shakespeare und Poe und lernte unter anderem Franz Liszt kennen, mit dem er Wagner und die alten Meister, Lassus und Palestrina studierte.

Die auf den Romaufenthalt folgenden Jahre nennt Lesure in seiner 1992er Monographie „les années symbolistes“ und in der Tat – zurück in Paris wurde die Gruppe der Symbolisten zu einem wichtigen Bezugspunkt für den jungen Komponisten. In den Pariser Cafés (z.B. dem berühmten Chat Noir) lernte er Jean Moréas, den Verfasser des „Mannifeste du Symbolisme“ (1882), Erik Satie, Paul Valéry, André Gide und andere Symbolisten kennen. Mit ihnen verband ihn nicht nur seine Begeisterung für alles Sphärische, sondern auch die Abkehr von den Prinzipien der normativen Tradition der Akadémie française.

Die 1887-89 komponierten „Cinq poémes de Baudelaire“, die von dieser literarischen Orientierung zeugen, brachten ihm nach 1880 die Annerkennung Stephan Mallarmés ein, der Einfluß auf die Poetik des Komponisten gewann und später die Textgrundlage für das „Prélude à l’après midi d’un faune“ lieferte. Ende der 1880er Jahre waren Debussys Vorstellungen weitgehend entwickelt. Er nahm regelmäßig an den Dienstag-Abend-Zusammenkünften im Hause Mallarmé teil und die Ideale des Mallarmé-Kreises, sowie die Ästhetik Poes wurden zum Orientierungspunkt Debussys.

Die Entstehung und Uraufführung der Oper „Pelléas et Mélisande“ bedeuteten einen Wendepunkt in seinem Leben und brachten ihm über den Kreis der Symbolisten hinaus Erfolg und Anerkennung ein. In „Pelléas“ hatte Debussys Poetik eine Form gefunden, die das Programm des literarischen Symbolismus auf musikalischer Ebene einlöste.

Zu einem spezifischen Klavierstil fand Debussy 1905 mit der Entstehung der „Isle joyeuse“ und der „Estampes“. 1910 und 1913 führen die zwei Bücher der „Préludes“ ihn zu voller Reife. Das 1911 entstandene Oratorium „Le Martyre de Saint Sébastian“ nach einem Text von Gabrielle d’Annunzio erntete scharfe Kritik seitens der katholischen Kirche und bezeugt einmal mehr Debussys Abkehr von den Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft.

1912/13 lernte Debussy während der Zusammenarbeit mit den Ballets russes den Komponisten Igor Stravinsky kennen – eine fruchtbare Verbindung, die eine „Weichenstellung für die Musik des 20. Jahrhunderts“ bedeute, so Thomas Kabisch im MGG.

1915 ist das letzte produktive Jahr für den Komponisten. Mit „En blanc et noir“ und den „Douze Études“ legt er noch einmal Glanzstücke für das Klavier vor. Während der Fernbeschießung der Stadt im Frühjahr 1918 stirbt Debussy an den Folgen eines Mastdarmkarzinoms.

24 Préludes

Schon vor der Entstehung der Klavierpräludien hat sich Debussy der Form des Präludiums gewidmet. In der „Suite bergamasque“ und der Suite „Pour le piano“ verwendet er es in historisch motivierter Funktion als Einleitungs- und Eröffnungsstück, während er in dem die „Children’s Corner“ einleitenden „Dr. Gradus ad Parnassum“ seine Schablonenhaftigkeit persifliert.

In den „24 Préludes“ gibt er dem Präludium eine neue Wendung und konzipiert es als autonomes Charakterstück, in dem er seine Eindrücke einer literarischen Ästhetik auf musikalischer Ebene verarbeitet. In der Tat greifen die nachgestellten Titel zumeist auf lyrische oder epische Textvorlagen zurück, dürfen jedoch nicht (dagegen sprach sich der Komponist entschieden aus) programmatisch gedeutet werden.

Lange wurde die impressionistische Formlosigkeit der Musik Debussys verurteilt, doch formlos sind die Präludien gewiss nicht, solange wir Form im Sinne Adornos verstehen, als „Inbegriff der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert“.

Form funktioniert bei Debussy nicht im klassischen Sinne, sondern nach dem Prinzip der Reihung, d.h. sie konstituiert sich während des gesamten musikalischen Prozesses durch die Aspekte von Wiederholung, Variation und Kontrast und ist für jedes einzelne Stück individuell. Die formelle Arbeit beläuft sich dabei nicht nur auf die Bereiche der Melodie, der Rhythmik und der Harmonik, sondern auch auf Dynamik und Figuration.

In seinen Klavier-Präludien wendet sich Debussy entschieden von einer Dur-Moll-Funktionsharmonik ab. Jeder Ton und jedes Intervall ist gleichberechtigt und dient gleichsam der Färbung des Stückes. Dieses Konzept findet in der Verwendung der grundtonlosen Ganztonleiter und pentatonischer Skalen (z.B. in „Voiles“, I.2) seinen Ausdruck. Einzug finden auch Kirchentöne (z.B. „La cathédrales engloutie“ I.10), Chromaik, Enharmonik und Mediantverwandtschaften. Es kommt zu Akkordschichtungen und die Parallelverschiebung von Akkorden und Intervallen wird zum zentralen Element.

Für die Organisation von Zeit wird das Verhältnis von Bewegung und Stagnation interessant, wie es bspw. in „Ce qu’a vu le vent d’ouest“ (I.2) ausgereizt wird. Die metrische Starre klassischer Rhythmen wird durch Anwendung von Synkopen (z.B. „General Lavine“, II.6?), Polyolen und rhythmischen Verschiebungen durchbrochen.

Ein Grund für die Andersartigkeit der Stücke ist aber vor allem die Organisation all dieser Elemente auf verschiedenen Ebenen. So klingen neben ostinaten Bewegungsfiguren (z.B. „Les tièrces alternées“, II.11) Orgelpunkte und melodische Linien heben sich deutlich von auf- und abwärts bewegenden Klangkaskaden ab. In „La porte del vino“ (II.?) wird dieses Prinzip bis zur Bitonalität ausgereizt.

Wie der Formprozess der Reihung durch Wiederholung und Variation genau funktioniert, möchte ich – sofern sie einverstanden sind – nun am Analysebeispiel „Danseuses des Delphes“ (I.1.) verdeutlichen.

Danseuses des Delphes

In den ersten zwei Takten wird auf drei Ebenen melodisches, rhythmisches und harmonisches Material vorgestellt. Zwischen einer Aufwärtsbewegung paralleler Quart-Sext-Akkorde und einer Abwärtsbewegung paralleler Oktaven findet sich ein chromatisches Motiv, welches die zentrale rhythmische Floskel aus punktierter Viertel- plus Achtelnote bringt.

In den darauf folgenden Takten wandert das chromatische Motiv in die Bassfigur, der Diskant nimmt die rhythmische Floskel auf, die dreimal zwischen g und a wechselt. Das h welches bei der vierten Wiederholung folgt, ist ein spannungsreiches Ereignis. Doch die absteigende Achtelkaskade bringt das Stück wieder zur Ruhe.

Diese ersten fünf Takte werden nun wiederholt, doch spaltet eine synkopische Verschiebung die aufwärts steigenden von den abwärts steigenden Elementen ab. Die Synkope und die Ausweitung zur Oktave bleiben dabei zentrales Variationsmoment.

In T.11 beginnt ein neuer Formteil. Zwar bleiben die Synkopen und auch die rhythmische Floskel mit anschließender Achtelkaskade erhalten, doch tritt neues Material hinzu. Das absteigende pentatonische Motiv, die aufsteigenden Dreiklangsparallelen und der Orgelton im Bass liefern einen neuen Höreindruck.

In einer Sequenz wird das Neue wiederholt und in der anschließenden Sequenzierung des chromatischen Motivs der Anfangstakte in T.15 wird die Sequenz selbst zum formbildenden Element erhoben.

Eine neue harmonische Spielerei schließt sich an, die den Kontrast zweier Varianttonarten bringt. So folgen in den Takten 16-20 drei Takte c-Moll auf zwei Takte C-Dur.

Nach der aufsteigenden Figur, die noch einmal den harmonischen Vorrat des gesamten Stückes aufführt, wirkt die Wiederaufnahme des chromatischen Motivs, der anfänglichen Harmonik und des Quartsprungs im Bass wie eine deutliche Reprise. Auf B-Dur klingt das Stück leise aus.

Guillaume de Machaut ~ Messe de Nostre Dame

Samstag, 30. April 2005

Dies ist die erste der beiden Reden, die ich für meine Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005 vorbereitete. Sie beinhaltet eine Biographie Guillaumes, eine Werkeinführung in die Messe und die Analyse des letzten Satzes „Ite missa est“. Alle drei Teile sind knapp und sollten lediglich die Grundlage für ein sich entwickelndes Prüfungsgespräch zum Thema bilden.

Guillaume de Machaut (~1300 – 1377)

Das erste Zeugnis, welches wir von der Existenz Guillaumes haben, ist eine päpstliche Bulle aus dem Jahre 1330, in der ihm, dem Gesuch seines Dienstherren, Jean de Luxemboug entsprechend, ein Kanonikat an der Kathedrale von Verdun in Aussicht gestellt wird. Ähnliche Dokumente finden sich aus den Jahren 1332 und 33 die Städte Arras und Reims betreffend. Die Edikte berichten, dass zu Guillaumes Verantwortungsbereichen im Hofstaat des Königs, die Stellen des „clerc, amounier, secrétaire und notaire gehören“. In einer weiteren Schriftrolle von 1335 heißt es, Guillaume diene dem König schon seit 12 Jahren, was uns auf das Jahr 1323 zurückführt.

Um seine Aufgaben zu bewältigen, musste Machaut schon zu dieser Zeit eine außergewöhnlich hohe Bildung mitbringen, die nur innerhalb einer kirchlichen Einrichtung zu erhalten war – in welcher, bleibt unklar.

Ein Dokument aus dem 15. Jh. zählt Guillaume unter den Dichtern der Champagne auf, weshalb heute Machaut oder Reims als Geburtsstadt angenommen werden. Eine frühe Beziehung zu Reims belegt bereits die Motette „Bone Pastor“. Zugleich legt der hohe kompositorische Standart im Stile Philippe de Vitrys die Vermutung nahe, dass Guillaume Zeit in Paris verbracht hat. Der Titel des Magister, der ein abgeschlossenes Studium an der Universität bedeuten würde, ist jedoch äußerst schwach belegt und nie in den Selbstaussagen zu finden.

Dieser Bildungsweg lässt vermuten, dass Guillaume um 1300 geboren ist. Er könnte aber auch jünger oder sogar älter sein. Wie auch immer diese frühe Lebensphase ausgesehen haben mag, sie änderte sich, als Guillaume in den Dienst des Königs trat. Denn dieser pflegte (selbst für einen mittelalterlichen König) viel zu Reisen und in seinem Gefolge pendelte Guillaume zwischen Frankreich, Luxemburg und Böhmen. Er gelangte sogar bis nach Deutschland, Österreich und Litauen. 1323/24 führten ihn diplomatische Reisen an den französischen Königshof nach Paris, wo es zu einem Treffen mit Philippe de Vitry gekommen sein könnte. Die Dichtungen dieser Zeit dokumentieren die Rolle des Dichters am Hof und konzentrieren sich, am Ideal der amour courtoise festhaltend, auf die Darstellung des höfischen Lebens.

In den 1340er Jahren war Johann von Luxemburg von zunehmender Blindheit geschlagen. Ungefähr zu dieser Zeit finden sich erste Zeugnisse von Guillaumes Aufenthalt in Reims, wo er im Jahre 1337 das Kanonikat übernommen hatte. Sein Amt als Kanonikus war mit liturgischen Pflichten verbunden, vor allem mit der Feier des Offiziums. Seine Stellung bot ihm eine materielle Basis für die literarische und musikalische Produktion, so dass in dieser Zeit zunehmend umfangreichere Dits entstanden, die noch immer Bezug auf den Hochadel nahmen.

1346 stirbt Johann von Luxemburg Legenden zufolge sehr glorreich bei der Schlacht von Crécy, in die er blind geritten sein soll. Zur Bezugsfigur wird seine Tochter Bonne, die als Auftraggeberin mit der Handschrift C in Verbindung gebracht wird. In diesem und weiteren Manuskripten, die sich erstaunlicherweise allein dem Werk Guillaumes widmen, sind die wichtigsten Zeugnisse für das musikalische und literarische Schaffen aufgeführt, das „Livre dou Voir Dit“ und „La Louage des Dames“. Um 1372, dem Jahr, in dem Guillaumes Bruder stirbt, entsteht der „Prologue“, ein Vorwort, das den Dichter und Komponisten sein Gesamtwerk reflektieren lässt und neben den Dits wichtige Einblicke in sein Selbstverständnis liefert.

1377 stirbt Guillaume in Reims.

Messe de Nostre Dame

Die Messe de Nostre Dame wird heute aufgrund der Quellenlage (sie erscheint erst im 1370er Manuskript Vg) und stilistischer Begebenheiten auf die 1360er Jahre datiert. Sie fällt damit in die Reimser Phase. Die Annahme, dass es sich um eine Messe zur Krönung Karls V im April 1364 in der Kathedrale von Reims handelt, gilt heute als weitgehend widerlegt. Zwischen dem Tod Johannes II und der Krönung Karls wären weniger als 6 Wochen für den Auftrag und die Komposition geblieben, was angesichts der Reife des Werkes nicht realistisch erscheint. Anne Walters-Robertson legte 2002 ihre Untersuchungen vor, die die These stützen, es handle sich um eine Marienmesse, die im Gedenken der Brüder Machaut jeden Samstag in der Roella der Kathedrale gesungen wurde.

Die Messe ist innerhalb des Oeuvres Guillaumes singulär und bleibt es bis über das Ende des 14. Jh. hinaus auch. Das Erstaunliche daran ist, dass er sechs Ordinarientexte wählt (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus-Benedictus, Agnus Dei und Ite, missa est) und diese zu einem einzigen kompositorischen Gesamtzyklus verbindet. Ob diese innovative Idee tatsächlich von Guillaume stammt, ist heute schwer zu sagen. Quellen könnten verloren gegangen sein und die Sicht auf die Dinge fälschen. Fakt ist aber, dass er wohl einer der Ersten war, der sich an ein solches Projekt wagte.

Für die Vertonung bedient sich Guillaume zweier zeitgemäßer Kompositions-Techniken – des Simultanstils für die wortreichen Sätze (Gloria + Credo) und des Stils der isorhythmischen Motette für die wortärmeren Sätze (Kyrie, Sanctus, Agnus + Ite missa). Jedem der Stücke liegt ein gregorianischer Choral zugrunde, der im Tenor ausgeführt wird. In den ersten drei Stücken steht dieser im dorischen, in den letzten dreien im lydischen Modus. Das Amen des Credos bildet eine Art harmonische Überleitung zwischen diesen zwei Modi. So deuten initialis und finalis (d) des Chorals auf das Dorische, der Rezitationston (c) jedoch auf das Lydische hin.

Das Credo-Amen ist darüber hinaus auch das am stärksten systematisierte Stück des gesamten Zyklus‘. Tenor und Contratenor tauschen in chiastischem Wechsel die rhythmischen Formeln (taleae) und in pan-isorhythmischer Strenge folgen die Oberstimmen diesem komplexen Prinzip. Insgesamt werden nur 8 verschiedene rhythmische Figuren verwandt. Die anderen isorhythmischen Sätze sind bei weitem nicht so streng. Zwar erklingen in den Oberstimmen an Hoquetus-/Synkopen-Passagen immer wieder isorhythmische Formeln, jedoch kommt es nicht nur Ausbildung einer vollständigen Isorhythmie, wie im Amen.

Für die Sätze im simultanen Stil ist wichtig zu bemerken, dass sie durch den Einsatz zweistimmiger, untextierter Gelenkstücke (Passagen, die auf den Einsatz von Instrumenten hindeuten) Teiligkeiten ausbilden. Otto Gombosi wies in den 1940ern eine Strophigkeit des Glorias nach, wobei sich jede Strophe aus einem ouvert (beliebiger Kadenz) und zwei clos (Kadenz auf finalis) zusammensetzt. Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Credo der Messe Nostre Dame und dem der so genannten Messe von Tournai konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Zwar nutzen beide Stücke ähnliche melodische Wendungen und machen beide Gebrauch von Gelenkstücke zur Gliederung, jedoch scheint es sich dabei um gewöhnliche Gesten der zeitgenössischen Musik zu handeln, was die Sache wenig beweiskräftig macht.

Das Prinzip der Isorhythmie möchte ich – mit ihrem Einverständnis – nun am Analysebeispiel des Satzes „Ite Missa est“ erklären.

Ite missa est

Die 21-tönige Choralmelodie im lydischen Modus, die color genannt wird und im Tenor liegt, teilt sich in zwei Abschnitte mit jeweils 10 Tönen, die gleichartig rhythmisiert sind (so genannte taleae). Nach der Abfolge der ersten 20 color-Töne erklingt die finalis.

Diesem Bauprinzip schließt sich der Contratenor an, der eine freie Melodie aus zwei Mal 16 Tönen talea plus finalis wählt. Er verläuft zum Tenor phasengleich, d.h er ist zur gleichen Zeit mit seiner ersten talea fertig, wie der Tenor. Die beiden Unterstimmen bilden das harmonische Fundament, welches am Anfang jeder talea in derselben harmonischen Folge (F-g-a-(C)-F) verläuft.

Die Oberstimmen sind ein wenig freier gestaltet. In den ersten vier Takten verfolgen sie jeweils ein freies rhythmisches Modell. Die darauf folgenden vier sind jedoch isorhythmisch. Auch sie verlaufen phasengleich.

Damit kommt in jeder Phase zu einer Art Spiegelung zwischen den ersten vier Takten der Unterstimmen und den letzten vier Takten der Oberstimmen.

Essay: Der gemeine Theoretiker

Montag, 19. April 2004

Viele Dichter glauben an eine große Kluft zwischen der Theorie der Dichtkunst auf der einen und der dichterischen Praxis auf der anderen Seite. Ich bin Dichter und Wissenschaftler zugleich und halte die Phobie einiger Kollegen für übertrieben. Diesen Essay (ein Debüt) schrieb ich zur Verteidigung gegen Beschimpfungen in einem Gedichteforum. Es ist ein Plädoyer für die Theorie (des Dichtens).

Der gemeine Theoretiker
Ein kurzer Versuch über das moderne Feindbild des Theoretikers und seiner Theorien

Das Feindbild, welches heute gegen den gemeinen Theoretiker zum Schaden der Verbreitung bildenden Gedankenguts von der weniger gebildeten Masse erschaffen wurde, speist sich aus dem modernen Irrglauben, selbiger wäre ein von Natur aus bösartiger und von verleugneten Selbstzweifeln behafteter Charakter, der in gemeiner Absicht sein unsinniges Leben dadurch mit Sinn zu füllen sucht, dass er kryptische Worte fremdartiger Herkunft erspinnt, welche angeblich Phänomene der praktischen Fachebene bezeichnen, die real eigentlich überhaupt nicht existieren, bzw. die für die praktische Fachebene real eigentlich völlig unwichtig und uninteressant sind, wie z.B. Wörter wie “Metrik”.

In seiner üblen Bösartigkeit verbündet er sich mit Gleichgesinnten, um sich mit ihnen in dieser kryptischen und unsinnigen Sprache zu unterhalten und das allein aus dem Grund, weil er weiß, dass Leute, die diese Sprache nicht verstehen, sich in ihrer vermeintlichen Unbildung mies, minderwertig und ausgeschlossen fühlen.

Darüber freut sich der gemeine Theoretiker und um den Hohn und Spott über die vermeidlich ungebildete Menschenklasse komplett zu machen, veröffentlicht er nicht nur wissenschaftliche Traktate, sondern auch Einführungen in und Leitfäden für sein Wissensgebiet, welche die kryptische Sprache und die Bedeutung ihrer Wörter erklären, obwohl er genau weiß, dass das sowieso keiner außer Gleichgesinnten lesen will. Um sich selbst besser, schlauer und vor allem elitärer zu fühlen, klopft sich die Gruppe der gemeinen Theoretiker für ihre Schriften gegenseitig auf die Schultern und verweist in weiteren Schriften immer wieder aufeinander.

Dies Verhaltensmuster hat sich der gemeine Theoretiker von den ollen Griechen und Römern abgeguckt, also nicht einmal selbst erdacht, sondern von gemeinen Urvätern der modernen Theorie geklaut. Diese haben schon zu ihren Zeiten zahlreiche Traktate geschrieben, in denen sie fiese Wörter wie bspw. “Choliambus” benutzten, was griechisch für eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben steht, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde.

Dass es diese Folge in Wirklichkeit gar nicht gibt, beweist schon der Fakt, dass sie in den Versen gerade der Dichter auftaucht, die höchst selbst die Theorien über solche Silbenmuster erfunden haben. Natürlich benutzen sie und ihre Nachfolger diese Muster in ihren Versen ausschließlich, um den vermeidlich ungebildeten Leser zu ärgern und nicht etwa aus ästhetischen oder effektiv sprachpraktischen Gründen, wie sie selbst immer behaupten. Denn dass ihre Dichtungen weder schön, noch besonders kommunikativ sind, beweist ja allein der Fakt, dass Dichter wie Hipponax oder Glaukon und ihre Nachfolger heutzutage eh nicht mehr gelesen werden.

Der gemeine Theoretiker erfindet in der Theorie streng-gesetzliche und vor allem normative Regeln, deren genaues Befolgen in der Praxis er bis aufs Messer verteidigt. In seiner arroganten Art will er jedem seine offensichtlich allgemeingültige und richtige Meinung aufzwängen, während er die Meinung Andersdenkender rein gar nicht gelten lässt, da sie seine eigene ja nicht widerlegen können. Ihn seine Standpunkte durch vernünftige und argumentative Kritik überdenken zu machen, ist bei seinem Starrsinn natürlich völlig hoffnungslos. Immer wieder finden sich bspw. gemeine Physiker, die wie aufgeschreckte Hühner im Kreis umherspringen, wenn man ihnen am experimentellen Beispiel erklärt, dass eine Feder keineswegs genauso schnell zu Boden fällt, wie ein Amboss und dass der luftleere Raum, auf den sie beharren, in der Realität ja gar nicht existiert.

Bei soviel Sturköpfigkeit bleibt dem engagierten Theorie-Kritiker natürlich nur noch die Möglichkeit, seinem Frust über das eigene, durch das bösartige Verhalten des gemeinen Theoretikers hervorgerufene Minderwertigkeitsgefühl durch wahllos dahingeworfene Beschimpfungen und unüberlegte Anklagen gegen selbigen Ausdruck zu verleihen. Denn der Theoretiker ist kein Mensch mehr, weshalb auch das ab und zu bei ihm durchkommende menschliche Verhalten (z.B. durch Ernüchterung hervorgerufene Frustration) keinesfalls entschuldigt werden darf.

So stellt es sich vermutlich für einen Menschen dar, der sich plötzlich mit Wissen über ein ihm noch nicht so vertrautes Fachgebiet konfrontiert sieht. Dieses Wissen erscheint ihm unendlich und unerreichbar zu gleich, deshalb erschreckt es ihn und er fürchtet den Theoretiker, der damit so souverän umgehen kann und natürlich auch seine Theorien.

Mal im Ernst…

Tatsächlich ist der gemeine Theoretiker ein wissbegieriger Mensch, ein Philosoph, der das Wissen liebt, dessen Denken und Handeln von dem unbeirrbaren Trieb, Erkenntnisse über das Wie? und das Warum? der Welt und ihrer Bewohner zu erlangen, geleitet wird.

Der gemeine Theoretiker ist zudem meist ein sehr begeisterungsfähiger Mensch, dessen Drang, sein Wissen, welches auf Erfahrungen mit und Hinterfragung von Phänomenen der Praxis beruht, in Schriften und Reden mitzuteilen und zu vermitteln, von dem sehnlichen Wunsch geprägt ist, die Allgemeinheit der Rezipienten für die Ästhetik und die Effizienz praktischer Phänomene stärker zu sensibilisieren, damit sie, wie er, in den tiefen und vollen Genuss eben dieser Phänomene kommen können.

Um Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt und ihrer Phänomene zu erhalten, hat der gemeine Theoretiker diverse Methoden gefunden. Er entwickelt z.B. Modelle, welche die Realität der Welt in idealisierter Weise abbilden und für den Nachweis bestimmter Gesetzmäßigkeiten besonders geeignet sind. Der Physiker sagt also: “Nehmen wir mal an, dieser fluffige Körper befindet sich in einem luftleeren Raum, dann fällt er mit genau derselben Geschwindigkeit zu Boden, wie dieser massive hier.” Natürlich befindet sich der Körper nicht in einem luftleeren Raum, aber die Erkenntnisse die man aus dieser hypothetischen Annahme (die inzwischen übrigens durch zahlreiche Experimente bewiesen ist) über die Beschaffenheit von Welt gewinnt, sind enorm.

Der Theoretiker, der sich erst einmal eine auf Erfahrung und Untersuchung von Praxis und Theorie basierende (Er-)Kenntnis erworben hat, will diese mit Gleichgesinnten teilen. Er benutzt Fachausdrücke, deren Bedeutung auf die Gesamtheit seines Modells perfekt abgestimmt sind. So muss er sich nicht jedes Mal des langen Satzes: “Eine Folge von 6 kurzen und 6 langen Silben, wobei die letzten drei Silben eine Folge von lang-lang-kurz ergeben müssen, was der Sprache theoretisch einen hinkenden Rhythmus verleiht, weshalb diese Folge oft in Spottversen und Schmähschriften verwandt wurde”, bedienen, um jemand anderem klar zu machen, dass er in einer Dichtung einen Choliambus entdeckt hat. Fachworte sind also sehr viel präziser (Choliambus schließt nämlich auch noch bestimme auffällige Zäsuren mit ein), knapper und effizienter und damit auch verständlich für einen, der mit diesen Fachtermini umgehen kann.

Natürlich sind Theoretiker nicht immer einer Meinung, denn sonst wäre schnell alles ausdiskutiert und die Menschheit wäre bereits vollkommen sicher, dass sie um jegliches Geheimnis der Welt genau Bescheid wüsste. Dem ist nicht so. Deshalb muss jede Theorie auch immer wieder von Neuem kritisch in Frage gestellt werden und die verschiedenen Theoretiker müssen gemeinsam versuchen, einen Konsens über die wahrscheinliche Beschaffenheit von Welt zu finden.

Von Wissenschaft und Theorie ist übrigens niemand ausgeschlossen, der nicht ernsthaft an solchen Fragen interessiert wäre. Sich Fachwissen und korrekte Fachtermini anzugewöhnen, um mitdiskutieren zu können, das sind grundsätzliche Dinge, die die kritische Hinterfragung einer These überhaupt erst ermöglichen. Es ist nicht unmöglich dies zu erlernen. Anhand des fachlichen Austauschs kann sich der Theoretiker weiterbilden und neue Perspektiven kennenlernen. Da er möglichst viel von einem Aspekt verstehen will, wird sich der gemeine Theoretiker nicht scheuen, jegliche Verständnisfrage zu stellen. Und da er auch verstanden werden will, wird er sich sicherlich nicht verweigern, jedem Fragenden, der ein Fachwort oder einen konkreten Inhalt nicht versteht, diese/n so zu erklären, dass auch ein Unkundiger es/ihn verstehen kann. Denn Fragen beweisen Wissensdurst.

Wer aber zu scheu oder zu eitel ist, seiner Unwissenheit durch Fragen Ausdruck zu verleihen, dem kann kein Theoretiker in Bildungsfragen weiterhelfen.

Mar. 2004