Descendo
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Descendo
Durch dicke Schwaden, die zu Wolken ballen,
die weiße Kleider bis zum Sabbern tränken
und alle Wege in die Tiefe lenken:
verfluchte Seelen fallen, fallen.
Sie fall’n herab in schlummerndes Vergessen,
verlassen ringend die gewohnten Hallen,
noch während sie – im Fleisch die eignen Krallen –
ein Jammern durch die Zähne pressen.
Doch oben ist man taub für ihre Klage,
denn von den üppigsten Gedecken fressen
die Würdenträger, feist und wohl bemessen
und sorglos bis zum jüngsten Tage.
Ich hasse sie und liebe sie – die Großen,
erkenne, welche Frucht ich in mir trage,
daß ich kein Quäntchen aus den Sümpfen rage:
auch ich – verflucht, verdammt, verstoßen.
Es klebt der süße Duft vom Weihrauchschwenken
noch immer fest an Hemden und an Hosen,
begleitet meinen Fall, den bodenlosen,
die Seele mir zu kränken, kränken.
XX | Jan. 2005
Zur Entstehung
Wenn ich daran denke, was für mich gemeinhin ein Gedicht ausmacht, dann denke ich nach der Forderung nach höchster poetischer Gebundenheit an seine Lyrizität. Lyrisch zu sein, im Unterschied dazu, episch zu sein, äußert sich ja in der Fähigkeit eines Textes, durch seine Affektgestaltung1 von referentiellen Inhalten freie Emotion im Leser hervorzurufen. Dass es dabei also nicht darum geht, dass der Autor der Öffentlichkeit egoistisch etwas von seinen Gefühlen „erzählt“, dafür ist Descendo ein schönes Beispiel. Ich wollte einmal so richtig schöpfen, eine Emotion nachbauen, die ich zwar kenne, aber die zum Zeitpunkt des Verfassen gerade nicht Teil meiner Selbstwahrnehmung war. Ich wollte etwas Starkes, Überwältigendes, etwas, das man im Theater vielleicht mit den Worten „Charakterrolle“ beschreibt und das gänzlich frei von mir war schaffen, eine dramatische Figur in einer dramatischen Szene. Und ich hatte dabei die fixe Idee, eine kreisrunde Form zu machen (was mir erst in „Kaleidoskop“ wirklich gelungen ist.) Also kam ich zu dieser Idee.
Ich baute mir ein lyrisches Ich, das aus allen Wolken der Selbsterkenntnis in die bodenlose Verzweiflung fällt. Ich baute mir eine für das lyrische Ich schmerzhafte Katharsis, die an der Schein-Sein-Problematik vorbeizieht und zynisch winkt. Ich baute mir Gift („fallen, fallen“) und Bisse („auch ich: verflucht“) in die emphatisch zäsurierte Sprache und ich baute mir teuflische Zirkel in die kaskadierenden Strophen. Und während ich das alles baute, schritt ich keifend, fluchend und stampfend in meiner Kammer auf und ab, um mich in die richtige Stimmung zu versetzen und alle Dramatik korrekt einzufangen. (Was meine Nachbarn sich wohl gedacht haben?) Das war ein Spaß, dessen Ergebnis mich selbst überraschte, denn es entstand dabei ein Text, den ich selbst als einen der exzentrischsten meiner Sammlung bezeichnen würde.
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1. Damit meine ich die Möglichkeit, Sprache durch figurative und sonstige Gestaltung emotiv aufzuladen. Das geht in Richtung barocker Affektenlehre, aber gesamtrhetorisch noch darüber hinaus.