Archiv für die Kategorie 'Forschung'

Werkeinführung: Benjamin Britten ~ War Requiem

Mittwoch, 07. Februar 2007

Konzerteinführung

Ein unheilvolles Intervall, Totenglocken aus der Ferne und ein Chor, dessen flehentlicher Sprechgesang die Bitte um die ewige Ruhe ist: „Requiem aeternam dona eis domine!“ So beginnt eine der bedeutensten Kompositionen des 20. Jahrhunderts, Benjamin Brittens (1913-1976) „War Requiem“.

„My subject is war, and the pity of war, the poetry is the pity… all a poet can do today is warn.“1 Die Worte des englischen Dichters Wilfred Owen (1893-1918) setzte Britten seiner Partitur voran. Als Soldat an der englischen Front in Frankreich hatte Owen 1917 und 1918 das Leid des Krieges selbst aus nähster Nähe erfahren. Während sich die offizielle Berichterstattung über die tatsächlichen Gräuel auf dem Schlachfeld ausschwieg und Dichter-Kollegen Hymnen voll patriotistischer Gefühle verfaßten, wollte Owen die Brutalität, die Unmenschlichkeit und die unbegreifliche Sinnlosigkeit des Krieges enttarnen.

Bei Benjamin Britten traf Owens Warnung auf offene Ohren. 1939 flüchtete er vor dem zweiten Weltkrieg und verließ als erklärter Pazifist Europa. Doch schon 1942 kehrte er nach England zurück. Dem Werk Owens war er zeitlebens verbunden. In einer Radiosendung der BBC gab er „The strange meeting“, in dem ein englischer Soldat auf einen von ihm ermordeten deutschen Soldaten trifft, als eines seiner Lieblingsgedichte an und mit „The kind ghosts“ probierte er sich 1958 erstmals an einer musikalischen Umsetzung eines Owen-Gedichtes.

Nicht weniger als neun Antikriegsgedichte des englischen Dichters sind ins „War-Requiem“ eingeflossen. Zusammen mit den lateinischen Texten der Missa pro defunctis verbinden sie sich zu einem öffentlichen Bekenntnis gegen das Versagen der Menschlichkeit im Krieg. Die Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung der im zweiten Weltkrieg zerstörten Coventry-Cathedral im Mai 1962 standen im Licht der Öffentlichkeit. Britten, der neben anderen Komponisten gebeten wurde, die Feier musikalisch auszugestalten, bot sich die Gelegenheit, seine pazifistische Botschaft mit einer groß angelegten Komposition einem breiten Publikum zu vermitteln. Mit der Wunschbesetzung aus dem englischen Tenor Peter Pears, dem deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und der russischen Sopranistin Galina Vishnevskaya plante er eigentlich einen symbolischen Akt zur Versöhnung der im Krieg verfeindeten Völker. Doch der Russin wurde die Ausreise verweigert und so mußte die Engländerin Heather Harper an ihrer Stelle einspringen. Dennoch verfehlte die Friedensbotschaft ihr Ziel nicht. Das „War Requiem“ riß die Zuhörer bei seiner Uraufführung zu Begeisterungsstürmen hin.

Mit seinen drei oratorisch angelegten Ebenen aus Solisten, Chor, Knabenchor, Kammerorchester, Sinfonie-Orchester und Orgel könnte man meinen, Brittens Reuqiem sei ein Werk von geradezu monumentaler Anlage. Trotzdem bleibt es überraschend intim und zurückhaltend. Es ist geprägt von einem Ausdurck stiller Empfindsamkeit, verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit und die öffentliche mit der privaten Trauer. Diese private Trauer vermitteln die beiden Gesangssolisten, die einen englischen und einen deutschen Soldaten darstellen. Begleitet von einem zwölfköpfigen Kammerorchester singen sie die englischen Gedichttexte. Eine Ebene dahinter steht die öffentliche Trauergemeinde aus der Solistin, dem gemischtem Chor und dem großen Sinfonie-Orchester. Sie halten die eigentliche Totenmesse mit ihren lateinischen Texten. Auf einer dritten Ebene erklingen die Stimmen des Knabenchores und der Orgel distanziert und fast unmenschlich. So schwebt das Opfer der Jugend, die sich unwissentlich in den Krieg stürzte, hinter dem Geschehen. Dieser für Britten wichtige Aspekt der wissentlich geopferten der Jugend wird im Offertorium thematisiert, wenn es in Owens Parabel über die Geschichte von Abraham und Isaac heißt: „But the old man would not so, but slew his son, and half the seed of Europe, one by one.“2

Die Unbegreiflichkeit über diese Verschwendung von Körper und Geist ist mehr als eine Trauer um die gefallenen Landsleute. Sie sieht mehr im Feind, als ein gesichtsloses Monster und erkennt mit „The strange meeting“, das am Ende ins Libera me eingebunden ist, auch in ihm ein Opfer des Krieges. So bekommt auch der liturgische Text eine neue Eindringlichkeit: „Gib uns Frieden! Laß sie in Frieden ruhen! Amen!“
__________

1 Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges, die Poesie ist im Leid… Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen.
2 Doch der alte Mann tat es nicht, sondern tötete seinen Sohn und die halbe Saat Europas, einen nach dem anderen.

Dróttkvætt [Strophenform]

Samstag, 11. November 2006

Das Dróttkvætt (sprich: Drotzkwett) ist eine Strophenform, und zwar die strengste, die die altnordische Skaldendichtung zu bieten hat. Sie war in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und ist sehr komplex. Da ich es für spannend und interessant halte, diverse poetische Formprinzipien kennenzulernen, habe ich hier mal die Grundlagen zum Dróttkvætt zusammengefaßt.

Das Dróttkvætt („Hofton“) ist die strengste Strophenform der altnordischen Skaldendichtung und gleichsam ihr Hauptversmaß. 5/6 aller erhaltenen Texte sind im Hofton überliefert.

Metrische Struktur

Eine Strophe („vísa“) besteht aus je 2 Halbstrophen („helmingr“) mit je vier sechsgliedrigen1 Halbzeilen („vísuorð“). Im Anvers müssen sich zwei Stäbe („suθlar“) auf betonten Silben befinden, im Abvers ein Stab („höfuðstaðr“) auf der ersten Silbe, wobei Konstonanten mit sich selbst staben und Vokale miteinander2.

In jedem Halbvers befindet sich zusätzlich ein Binnenreim („hending“), wobei hier der Gleichklang von Lauten innerhalb von Reimworten gemeint ist. Jede vorletzte, betonte Silbe nimmt am Binnenreim teil. Der Reimpartner muß auf einer betonten Silbe weiter vorn sein. In jedem ungeraden Halbvers sind die Binnenreime Halbreime („skoθhending“), d.h. nur Konsonantenklänge stimmen überein. In geraden Halbversen sind die Binnenreime jedoch Vollreime („adalhending“), d.h. Vokale und Konsonanten lauten gleich.

Darüber hinaus sind im Hofton sogenannte Kenningar unabdingbar. Das sind zwei- oder mehrsilbige, bildliche Umschreibungen, die sich im Idealfall nur mit einer speziellen Kenntnis der altnordischen Mytholgie entschlüsseln lassen. Einige Kenningar sind auch aus dem Kontext heraus zu entschlüsseln. Typischerweise ist jede Halbstrophe von einem Kenning bestimmt, das auch mehrere Teile oder Glieder haben kann.

Da der Dichter durch diese Formstrenge relativ eingeschränkt ist, besteht seine einzige Ausweichmöglichkeit in der Wortstellung, was darauf hinausläuft, dass die Syntax nicht immer leicht zu durchschauen ist.

Beispiel

Das Beispiel ist ein Totenpreis für den dänischen Wikingerführer Sibbe, der in jüngerem Futhark (Runen) auf den Stein von Karlevi geritzt ist. Fett sind die Stäbe, unterstrichen die Binnenreime und kursiv die Kenningar, wobei zusammenhängende Teil-Kenningar durch * gekennzeichnet sind.

Folginn liggr hinn’s fylgðu
(flestr vissi þat) mestar
dáðir dolga þrar
draugr
í þeimsi haugi.
Mun-at reið-Viðurr* ráða
rógostarkr í Danmǫrku
*Endils jǫrmungrundar
ørgrandari landi.

In diesem Hügel verborgen liegt der Krieger („Baum der Thrud der Kämpfe“), dem (die meisten wissen das) die größten Taten folgten. Nicht wird ein kampfstarker, untadeliger See-Krieger („Wagen-Odin des weiten Grundes des Endill“) über Land in Dänemark herrschen.

Überlieferung

Viele Skaldenstrophen sind als Zitate in Sagas oder in der Snorra-Edda, dem Skaldenlehrbuch Snorri Sturlusons (1079 – 1241), überliefert. Im Gegensatz zu Edda-Liedern sind die Skaldenstrophen häufig mit Verfassernamen angeführt.

Frühe Formen finden sich bei Bragi enn gamli Boddason (9 Jh.), dem ersten namentlich bekannten Skaldendichter und Egill Skallagrímsson, der um 900 bis nach 990 gelebt hat.

Literatur

  • Andersson, Th. / Marold, E. (2000), „Karlevi“, 2RGA 16, 275-280.
  • Jónsson, Finnur (1912 – 1915), Den Norsk-Islandske Skjaldendigtning, Bde. A I-II, B I-II, København und Kristiana

Weblinks

Wer mehr Infos zum Dróttkvætt (Dróttkvaett, Drottkvaett) oder Verbesserungsvorschläge zu diesem Artikel hat, sei dazu ermuntert, sein Wissen hier beizutragen.
__________
1. Die Sechsgliedrigkeit entspricht weitestgehend einer Sechssilbigkeit mit drei Hebungen, ist aber doch nicht ganz dasselbe.
2. Die Konsonantenkombinationen sk, sp, st bilden eine Ausnahme. Sie staben nur mit sich selbst, nicht aber mit s, während Kombis wie kr oder kl durchaus mit k staben. Als Vokal wird auch j behandelt.

Werkeinführung: Georg Friedrich Händel ~ Judas Maccabäus

Freitag, 15. September 2006

Konzerteinführung

Wir schreiben das Jahr 168 v. Chr. Antiochus IV. Epiphanes, König des Seleukidenreiches, besiegt im Sechsten Syrischen Krieg die ägyptischen Könige Ptolemaios VI. und Ptolemaios VIII. In Folge dessen nimmt er auch das zum Ptolemäerreich gehörende Jerusalem ein. Um die Hellenisierung der Region voranzutreiben, erläßt er ein Religionsedikt, das den Jahwe-Kult verbietet, und zwingt die Juden ihrem Glauben durch Opferungen für die heidnischen Götter öffentlich abzuschwören. Als ein Abgesandter des Antiochus nach Mondein, einer kleinen Stadt unweit von Jerusalem, kommt und die Einwohner zu opfern auffordert, stößt er auf den heftigen Widerstand des Priesters Mattathias. Dieser versteckt sich fortan mit Gleichgesinnten in den Bergen und beginnt einen Partisanen- und Freiheitskampf gegen die seleukidischen Besatzer, der beim jüdischen Volk Zustimmung findet und ihm neue Hoffnung gibt. Bald darauf wird Mattathias jedoch krank und 161 v. Chr. stirbt er schließlich.

An diesem Trauerpunkt der Geschichte beginnt eines der wohl erfolgreichsten Oratorien des im barocken London wirkenden Komponisten Georg Friedrich Händel (1685 – 1759). Keine Pauken, keine Trompeten, getragene, durch Punktierungen fast schleppende Melodien in Moll bestimmen die Ouvertüre, die bald in eine aggressive Fuge mündet und hieran schließt sich der erste Klagegesang der Israeliten an. Simon, ein Sohn des verstorbenen Priesters Mattathias, weiß jedoch das jüdische Volk aufzubauen, indem er seinen Bruder Judas, den Makkabäer (von aramäisch makkaba – der Hammer), als neuen Anführer der Befreiungsbewegung vorschlägt. Enthusiastisch und vom Volk gefeiert tritt dieser sein Amt an.

Inzwischen hat Judas seine Armeen versammelt und ist gegen die Feinde gezogen. In Jerusalem feiern die Israeliten den Erfolg ihrer Kampfhandlungen und stimmen Triumphgesänge an. Doch die Stimmung wird bald durch Nachrichten weiterer, herannahender Truppen des Seleukidenkönigs getrübt. Erneut muß Judas in den Kampf ziehen und seinen Schlachtruf begleiten bald Pauken und Trompeten. Händel setzt beide Instrumente an dieser Stelle zum ersten Mal ein – ein Effekt, der nicht überwältigender sein könnte. Doch Simon mahnt Judas, vor seinem Auszug noch den Tempel, der durch die auferlegten, heidnischen Gebräuche geschändet wurde, zu reinigen und neu zu weihen, damit Gott ihnen bei ihren Geschicken helfe. Noch heute feiern Juden an Chanukka, dem Lichtfest, jährlich diese Weihe, mit der der dritte Teil des Oratoriums beginnt.

Judas hat Erfolg gegen die Feinde und feierlich ist sein Siegeseinzug in Jerusalem, doch bittet er darum, der Gefallenen zu gedenken, zu denen auch sein Bruder Eleasar gehört. Der Botschafter, den er während der Kämpfe nach Rom entsandt hatte, kehrt ebenfalls mit erfreulichen Neuigkeiten zurück. Rom hat ein Abkommen mit Israel geschlossen, um es vor weiteren Angriffen zu bewahren. Das Oratorium endet in Hymnen und Lobgesängen.

Die Handlung des „Judas“ bietet Raum für ausgedehnte musikalische Affekte, die zum Teil sogar wortmalerisch ausgestaltet sind. Von Trauer über Hoffnung bis Begeisterung ist das Spektrum weit gestreut. Ähnlich wie der „Messiah“ ist auch „Judas Maccabaeus“ eher reflektorisch als dramatisch angelegt. Es geht um zentrale Werte wie Freiheit, Gemeinschaft, Glaube und Gesetz. Vor allem das Volk kommt in den Rollen des Chores, der Israelitin und des Israeliten zum Zuge und steht für den kollektiven Gedanken, den Händel zu erfassen suchte.

Denn wie die Israeliten in „Judas Maccabaeus“, stand auch das englische Volk unter einer direkten, nationalen Bedrohung. Im Spätsommer 1745 hatte der katholische Thronprätendent Charles Edward Stuart, unter Geschichtskundlern besser bekannt als „Bonnie Prince Charlie“, weite Teile Schottlands eingenommen und rückte mit seinen Truppen weiter auf das völlig unvorbereitete England vor, um sein Erbrecht einzufordern. Dessen Großvater, Jakob II., wurde nämlich während der „Glorius Revolution“ von 1688 aus England vertrieben und durch seine Tochter, Maria II., und den protestantischen Wilhelm von Oranien ersetzt, in deren Folge die Könige aus dem Hause Hannover auf den englischen Thron kamen. Gegen diese Bedrohung aus dem Norden sandte König Georg II. seinen Sohn Wilhelm August, den Herzog von Cumberland, und seine Truppen. Händel stand der englischen Königsfamilie durchaus nahe, hatte er doch schon die Krönungshymnen für Georg II. geschrieben. Schnell komponierte er zur Erbauung des englischen Volkes Anfang 1746 sein weniger bekanntes „Occasional Oratorio“. Als nach der Schlacht von Culloden im April 1746 deutlich wurde, dass die Gefahr gebannt war, begann er die Arbeit an „Judas Maccabaeus“, das er dem siegreichen Feldherrn Cumberland widmete.

Die Uraufführung im April 1747 war ein Riesenerfolg und half dem Komponisten auch aus der psychischen und finanziellen Krise, in der er sich seit dem Boykott englischer Adelsdamen gegen seine Oratorienaufführungen befand. Händel hatte die Türen seines Hauses nun zum ersten Mal dem Bürgertum geöffnet und es strömte nur so herbei, um seine Musik zu hören. Um sein Publikum weiter zu begeistern, übernahm er nach und nach immer mehr Sätze in den „Judas“, die in anderen Stücke Anklang gefunden hatten, ohne jedoch vom ursprünglichen Material zu streichen. So ist z.B. der berühmte Chor „See, the conqu’ring hero comes“ eigentlich dem Oratorium „Joshua“ entnommen, das erst später entstand.

Schon zu Händels Lebzeiten ist das Stück in vielen verschiedenen Varianten erklungen. Puristen beschränken sich heutzutage auf die Version der Erstaufführung, andere spielen hingegen das gesamte Material, das mehr als zweieinhalb Stunden Spielzeit umfaßt. Die Berliner Singakademie unter ihrem Direktor Achim Zimmermann wird bei ihrer Aufführung am 29. Oktober 2006 einen Mittelweg wählen, den Text aber im englischen Original belassen.

Interpretation: Le vampir ~ Charles Baudelaire

Freitag, 08. September 2006

[M]Eine Interpretation

Ich habe einmal gelesen, dass der Deutungsspielraum der symbolistischen Lyrik in der tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt. Ich glaube heute nicht mehr an diese Beliebigkeit, wohl aber an den bewußt geöffneten Deutungsspielraum. „Le vampir„, ein Strophengedicht aus den „Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire führt mir dies immer wieder exemplarisch vor Augen. Viel habe ich darum schon gerätselt und viel glaubte ich darin erkannt und entdeckt zu haben. Mein heutiger Stand der Erkenntnis beruht auf der Annahme, dass der Vampir eine Metapher für eine Emotion ist.

Es wurde aber oft spekuliert, Baudelaire hätte mit dem Vampir auf seine langzeitige Geliebte, die Mulattin Jeanne Duval, angespielt. Ich bin mit solchen biographistischen Thesen äußerst vorsichtig und zurückhaltend und vertraue lieber nur dem, was tatsächlich im Text steht. Als sicher kann diesbezüglich gelten, dass es sich beim Dämon um ein weibliches, lyrisches Du handelt, denn darauf deuten die weiblichen Adverbialformen folle, parée, etc. hin. In ihrer Übertragung schreibt Fahrenbach-Wachendorff: „Du, die wie ein Messerstoß“, um da Zweifel über das Geschlecht auszuräumen. Dass das lyrische Du aber identisch mit dem Vampir ist („Le vampir“ verweist eindeutig auf ein Masculinum), bezweifle ich. Ebenso bezweifle ich, dass das lyrische Ich die lyrische Du töten will, wie man es aus Strophe vier vielleicht herauslesen könnte.

Ich mache meine Interpretation an der These fest, dass das lyrische Ich gar kein Opfer der lyrischen Du ist, sondern vielmehr ein Opfer seiner eigenen Schwäche und dass der Vampir eine Metapher für den daraus erwachsenden und zerstörerischen Selbstkonflikt ist. Gucken wir uns den Text dazu mal genauer an. Das lyrische Ich beschreibt seine Gebundenheit an die lyrische Du (Infâme à qui je suis lié – Ruchlose, an die ich gebunden bin) in Stophe drei als Sucht (Säufer, Spieler). Es ist süchtig nach der lyrischen Du, von deren charismatischer, souveräner Ausstrahlung es sich geradezu magisch angezogen fühlt. Wie überwältigend ihre Erscheinung/ihr Erscheinen auf das lyrische Ich wirkt, beschreibt Strophe eins (Messerstoß, Eindringen, etc.). Es ist von der Situation völlig überrumpelt, es fühlt sich angezogen und ist dieser Anziehung gegenüber völlig machtlos. Es erkennt seine Schwäche und um sich diese nicht eingestehen zu müssen, entwirft es sich in der Opferrolle, sieht sich als Opfer der femme fatale. Klar, so wie sie ihn überwältigt hat, muß es mit böser Magie zugegangen sein, ergo muß Sie ein Dämon sein und dass man gegen einen Dämon nicht bestehen kann, das ist ja wohl logisch.

Ganz so einfach ist es aber für das lyrische Ich dann doch nicht und hier beginnt der spannende Konflikt. Das lyrische Ich bewundert die Dämonin für ihre Macht und Stärke, die Inbegriff dessen sind, wonach es strebt – sein Ideal. Natürlich kommt es davon nicht los. Zugleich sind ihre Tugenden aber Spiegel seiner eigenen Untugend, der Machtlosigkeit und Schwäche, die Inbegriff dessen sind, was es anwidert – sein Spleen. Daher will es von ihr loskommen und jetzt kommen Schwert und Gift ins Spiel. Diese sollen ihm die Feigheit erretten (sécourir la lâcheté), quasi bewahren. Seine Feigheit besteht nämlich darin, dass es lieber den Tod leiden und so vor der schmerzhaften Selbsterkenntnis bewahrt bleiben würde, als sich durch ihre Anwesenheit seine Schwäche eingestehen zu müssen. Aber er ist in der Tat so feige, dass er nicht einmal dazu imstande ist. Der Dialog mit dem ihn auslachenden Schwert und Gift ist Metapher für den Ekel, den das lyrische Ich daraufhin vor sich selbst empfindet. Es ist in eine Sackgasse geraten, aus der es sich nicht mehr herausreden kann. Bringt es sich nämlich um, wäre das eine ebenso deutliche Bestätigung seiner Schwäche, wie es nicht zu tun. Verzweiflung! Sein Vampir (ton vampir – eindeutige Besitz- und Geschlechtszuweisung) ist es, der ihn aussaugt und krank macht, was ihn aber aussaugt, ist sein eigener innerer Konflikt (für den die lyrische Du ja eigentlich überhaupt nichts kann). Mit dem Umstand seines Selbstmordes, das wird ihm durch den fiktiven Dialog bewußt, würde er diesen Konflikt, den er durch den Tod dann beigelegt zu haben glaubt (le cadavre – der Leichnam), aber nur wieder beleben (ressusciter). Das bedrückende Fazit ist, dass der Selbstmord kein Ausweg ist.

Interpretation: L’Albatros ~ Charles Baudelaire

Sonntag, 27. August 2006

[M]Eine Interpretation

Diese kurze und klassische Interpretation ist als Ergänzung zu meinem Arbeitsblatt-Artikel „Symbolismus“ gedacht. Sie soll einige Merkmale des Stils aufzeigen, wenngleich sich in einem einzelnen Text nicht alles finden lassen wird, was ich in meinem Artikel beschrieb. Aber es lassen sich dennoch gewisse Tendenzen erkennen.

Das Gedicht „L’Albatros“ des Urvaters des Symbolismus, Charles Baudelaire, wurde 1859 erstveröffentlicht und etwas später, 1861, in den Gedichtband Les Fleurs du Mal, das Lebenswerk des Autors integriert. Innerhalb des Gesamtwerkes ist „L’Albatros“ das dritte Gedicht und in seinem Kapitel Spleen et Idéal das zweite. Da der Gedichtband einem durchkomponierten Konzept folgt, ist die Stellung der Gedichte zueinander und deren Unterteilung in Kapitel von großer Bedeutung für die Einzeltexte. Doch auf diese große Bedeutung der Intertextualität der Fleurs werde ich in diesem Rahmen nicht speziell eingehen können.

Formell handelt es sich bei dem Gedicht um einen klar strukturierten Text mit vier Strophen à vier Versen. Die Versstruktur folgt dem französischen Alexandriner, einem 12-hebigen Iambus. Das Reimschema folgt dem Kreuzreim mit abwechselnd betonten und unbetonten Kadenzen. An dieser klassischen und strengen Form erkennt man deutlich das symbolistische Streben nach Formvollendung und Harmnonie innerhalb der poésie pure.

Der Titel, „L’Albatros“, ist demonstrativ und kündigt seine symbolische Hauptfigur, einen majestätisch großen Seevogel, an.

S1:
Die erste Strophe führt uns zunächst in eine Szene des Marinealltags. Matrosen, über Meerestiefen gleitend, fangen sich zum Spaß Albatrosse, die ihr Schiff träge und antriebslos begleiten. Assoziative Wörter wie pour s’amuser (zum Spaß), vaste oiseaux (große Vögel), indolents compagnons (träge, antriebslose Begleiter), de voyage (der Reise), gouffres amers (Meerestiefen) suggerieren dem Leser hier bereits, eine metaphorische Bedeutung der Signifikanten, eine tieferliegende Sinngebung des Gesagten zu vermuten.

S2:
Dieses Bild wird in der zweiten Strophe ausgebaut. Die Matrosen werden zu Schaulustigen, die sich an der Ungeschicktheit der vom Himmel geholten Vögel ergötzen. Der Albatros wird in seiner Divergenz dargestellt. Im Flug, am Himmel ist der weiße Vogel mit seinen weiten Schwingen majestätisch und schön. Nun, da er auf den Boden gezwungen ist, behindern ihn die weiten Schwingen in seinem Gang. Er wirkt komisch, so daß er den Matrosen zur Belustigung gereicht.

S3:
In der ursprünglichen Fassung des Gedichtes fehlte die dritte Strophe. Als es in die Fleurs eingefügt wurde, wurde sie ergänzt. Das dargestellte Szenario wird (einzige Strophe mit holperndem Sprachrfluß) zu einem Bild sadistischer Tiefe ausgebaut. Die Verse eins und zwei bedienen ein Spiel mit den Gegensätzen (Antithesen). Mit Wörtern wie „gauche et veule“, „beau“ oder „comique et laid“ erfährt der Zwiespalt des Vogels eine eindeutige Wertung. Auf der einen Seite ist er schön, wenn er in der Luft fliegt, auf der anderen Seite ist er häßlich und lächerlich, wenn er am Boden gehen muß. Die Qual am Boden wird dem Vogel noch durch die sadistische Schaulustigkeit der Matrosen erschwert, die ihn reizen und nachäffen, sich also an seinem Leid erfreuen.

S4:
Die vierte Strophe, besonders der erste Vers, ist der Schlüssel zur tieferen Bedeutungsebene: Der Dichter gleicht dem Albatros. In den Höhen seiner Geistigkeit fühlt er sich überlegen und narrt die, die ihn anvisieren. Wird er jedoch aus seinem Element auf den Boden (vielleicht in die Kreise gesellschaftlicher Konventionen) geholt, macht man sich über ihn lustig, denn er kann sich dort nicht angemessen bewegen, kann dort nur komisch existieren.

In diesem Gedicht geht es also, wie in so vielen symbolistischen Texten, um die Diskrepanz der menschlichen Seele. Es wird nicht nur die Gegensätzlichkeit des Dichters, sondern auch der Sadismus der anderen Masse aufgezeigt. Darüber hinaus wird durch den Vergleich mit dem Albatros und die Bewertung seiner Situation eine Ambivalenz zwischen Bedauern und Beschimpfen aufgebaut.
Der Albatros ist träger und antriebsloser Begleiter des Schiffes. Er müßte die Qual des Gefangen-Seins nicht erdulden, könnte davon fliegen, tut es aber nicht. Vielmehr gefällt sich der Dichter in diesem Widerspruch aus Qual und Freude und stellt so seinen eigenen Masochismus zur Schau.

Die Bedeutungsebenen des Dichters, des Albatroses und der Matrosen fließen ineinander, es findet ein ständiger Rollentausch statt. Mehrere Bewußtseinsebenen werden verflochten, der Quäler wird zum Gequälten und wird in seinem Masochismus wieder zum Quäler. Der Dichter wird in seiner Menschlichkeit, nicht mehr als Genie auf dem Elfenbeinturm, sondern als mit den Eindrücken kämpfender, sich ständig selbstreflektierender Mensch gezeigt, der selbst in seiner Animalisierung noch Ästhetik sieht.

Insgesamt haben wir es also mit einem sehr repräsentativen Text zu tun, der nicht umsonst an dritter Stelle der Fleurs und an zweiter innerhalb des Kapitels Spleen et Idéal steht.
Beitrag bearbeiten/löschen

Symbolismus

Sonntag, 27. August 2006

SYMBOLISMUS (ca. 1870 – 1900)

kulturhistorische Hintergründe

Der Symbolismus ist eine literarisch-geistige Strömung die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend seit 1890 in ganz Europa verbreitete. Die relativ homogene Gruppe der Symbolisten wandte sich gegen die vorherrschende Wissenschaftsgläubigkeit (Sientismus), den flachen Fortschrittsoptimismus und den positivistischen Empirismus der bürgerlichen Welt, die besonders durch den Erfolg der Pariser Weltausstellung (1889) etabliert worden waren. In deutlicher Abkehr von der objektiven Wirklichkeitswiedergabe des Naturalismus und Realismus und der Beschreibungslyrik der Parnasse durchbrachen sie mit ihren Prinzipien die normativen Traditionen der Académie française und wurden so zu Wegbereitern der literarisch-künstlerischen Moderne. Sie setzten sich gegen die Zweck- und Anlaßgebundenheit und die Funktionsbestimmung von Kunst zu Wehr (L’art pour l’art) und lehnten sich im Versuch der Poetisierung einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt gegen alle Konventionen der trivial-bürgerlichen Gesellschaft und deren Moral auf.

Inhalte/Ziele

Die Gemeinsamkeiten der Vertreter des Symbolismus liegen eher auf thematisch-geistiger Ebene, eher im Lebensgefühl als auf stilistischen Merkmalen. Die Poeten zielten in erster Linie auf die Erneuerung der Lyrik (im Gegensatz zum realistischen Roman), deren Hauptwerte auf kunstvoller Form, Klang und Wortmagie lagen. In ihrer Abkehr von der realistischen Beschreibung des Objekts und ihrem Streben nach einer perfekt schönen Dichtersprache (poésie pure) bevorzugen sie das Schaffen von Kunst aus der Erinnerung, der Vorstellungskraft. Hinter den Dingen, Erscheinungen, Wortfassaden und Sprachgesten sollen tiefere, verborgenere Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität erschlossen werden. Dies gipfelt in dem Versuch, Hintergründiges, Irrationales und Geheimnisvolles vernehmbar zu machen; so ist das Irdische nur Symbol für die jenseitige, eigentliche Welt. Das künstlerische Ideal des Symbolismus strebt eine weitestgehende Autonomie der Symbole an, deren Betonung im bewußten Abstand der Sprachzeichen zu deren konventioneller Bedeutung liegt. Dies führt zur Problematisierung der im unpoetischen Sprachraum vorherrschenden Eindeutigkeit der Sprache und eröffnet dem Leser einen neuen, breiteren Deutungsspielraum, der z.T. in einer tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt.

Themen/Bilder/Ästhetik

Die Lyrik des Symbolismus thematisiert vorallem die Diskrepanzen der menschlichen Seele, ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung; dies äußerst sich z.B. in der Darstellung diverser Dualismen: Aufschwung und Verzweiflung, Reinheit und Schmutz, Genuß und Ekel, Spleen und Ideal, etc. In ihrer Symbolhaftigkeit und Musikalität wendet sich die lyrische Sprache an die suggestive Aufnahmefähigkeit des subjektiven Menschen. Traum- und Alptraumbilder überlagern sich, Rauscherlebnisse werden ästhetisiert, die Spannbreite der Äußerungen reicht von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit.
Gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, findet der poète maudit durch die Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satansichen“ Charakters den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft okkultgefärbten Ästhetizismus. In einer autonomen Idee des Schönen und nach dem PrinzipL’art pour l’art wird der Dandy zur literarischen Leitfigur. Ihm entgegen steht die femme fatale, die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis. Sie erscheint in zahlreichen Symbolgestalten, als Chimäre, Sphinx oder Salomé.

Künstlerideal

In seinem Essay, „Le peintre de la vie moderne“ (1863), manifestiert Charles Baudelaire das moderne Künstlerideal im Bild des mit den Eindrücken und Erinnerungen fechtenden Dichters. Kunst würde sich aus der Spannung zwischen Ewigem und Vergänglichem speisen. Damit die Reizüberflutung der Moderne (Schockerlebnisse durch Eindrücke, die beim Flanieren durch die Großstadt das Bewußtsein des Menschen treffen) nicht zur Orientierungslosigkeit wird, muß der Dichter am Abend das Erleben von Ewigem und Vergänglichem in einem Kampf mit den Impressionen der Erinnerung reflektieren. Dabei isoliert er das Ewige vom Vergänglichen. Das latent Schöne in allen Dingen wird herausgearbeitet und idealisiert. Im Schaffensprozess werden die Erinnerungen an Erlebtes fixiert und durch die Verdichtung des latent Schönen entsteht wahre (künstliche) Schönheit.

Leitbegriffe

  • l’art pour l’art: Kunst um der Kunst Willen; ästhetisches Prinzip nach dem das Kunstwerk als eigengesetzlich, eigenwertig und frei von allen Bindungen religiöser, ethischer und politischer Art betrachtet wird
  • poète maudit: der verfluchte Poet, dessen Trauer und Unzufriedenheit aus der unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach Ganzheit entsteht; Selbsdefinition der symbolistischen Dichters
  • poésie pure: reine, formvollendete, ästhetisch-schöne und autonome Dichtersprache; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter
  • vers libre: der freie Vers, eine Mischung aus Prosa und Lyrik, dessen Freiheit nicht in seiner Beliebigkeit, sondern in der Umsetzung der poésie pure gesehen wird
  • Dandy: literarische Leitfigur, die dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt
  • femme fatale: die Frau als rätselhaftes Wesen und unausweichliches Verhängnis des Mannes
  • fin de siècle: Bezeichnung für die Zeit der Jahrhundertwende, in der auch mit der Strömung der Decadence die Ästhetisierung einer Endzeit- und Katastrophenstimmung aufkam; findet ihren theoretischen Ausdruck vorallem in der Formulierung der Krise
  • Autonomie der Symbole: die Symbolhaftigkeit der Sprache geht über die Grenzen der bildhaften Darstellung abstrakter Begriffe und Vorstellungen hinaus und führt zur Mehrdeutigkeit; angestrebtes Ziel der symbolistischen Dichter

Stilmerkmale

  • autonome Symbole
  • beinahe fanatische Ausarbeitung der sprachkünstlerischen Mittel: Sprachdichte, Suggestion, Assoziation, Rhythmus, Verflechtung mehrerer Bewußtseinsebenen
  • Auswahl von Wörtern mit assoziativer Klangwirkung
  • sprachkünstlerische Akzentuierung von Rhythmus, Melodie, Satzbau in der poésie pure
  • Ineinanderfließen und Überlagern von Bildern und Metaphern
  • Herstellung von Synästhesien, die auf sprachmagische Weise, durch Lautmalerei, Klangfarbe und Sprachmusik Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren
  • Allegorismus
  • Esotherik
  • Exotismus
  • Erotizismus
  • schwarze Religiosität („Satanismus“)
  • Stilisierung der Weltentrückung durch den Drogenrausch: hauptsächlich Opium, Haschisch und Absinth

Wegbereiter/Vertreter/Anhänger

  • W. Blake [1757 – 1827] (England)
  • E.A. Poe [1809 – 1849] (England)
  • A.C. Swinburne [1837 – 1909] (England)
  • O. Wilde [1854 – 1900] (England)
  • Ch. Baudelaire [1821 – 1867] (Frankreich)
  • S. Mallarmé [1842 – 1898] (Frankreich)
  • P. Verlaine [1844 – 1896] (Frankreich)
  • A. Rimbaud [1854 – 1891] (Frankreich)
  • J. Moréas [1856 – 1910] (Frankreich)
  • E. Verhaeren [1855 – 1916] (Belgien)
  • J.K. Huysmans [1848 – 1907] (Frankreich; Roman)
  • M. Maeterlinck [1862 – 1949] (Belgien; Drama)
  • G. d’Annunzio [1863 – 1938] (Italien)
  • in Dtl. traf der Symbolismus mit der Neuromantik und dem Impressionismus zusammen (u.a. bei E.T.A. Hoffmann)

weiterführende Literatur

  • Jean Moréas „Mannifeste du Symbolisme“ in Le Figaro, 1886
  • R. Delevoy „Der Symbolismus in Wort und Bild“, Skira. Stuttgart 1979
  • B. Delavaille „La poésie symboliste“, Paris. Sehgers 1971
  • A.G. Lehmann „The Symbolist Aesthetic in France. 1885 – 1895“, Basil. Blackwell. Oxford 1950
  • P. Hoffmann „Symbolismus“, Fink. München 1987
  • A. Simonis „Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne“, Niemeyer. Tübingen 2000

Quellen:

  1. M. Naumann (Hrsg.) „Lexikon der französischen Literatur“, VEB Bibliographisches Institut. Leipzig 19871
  2. „Bertelsmann Lexikon. In 15 Bänden“, Band 14. Stick-Venn, Bertelsmann Lexikothek Verlag GMBH. Gütersloh 1991F

__________
Am Gedicht „L’Albatros“ von Charles Baudelaire habe ich eine Beispielinterpretation mit Hauptaugenmerk auf der Herausarbeitung symbolistischer Stilmerkmale gemacht.

Interpretation: Nänie ~ Friedrich Schiller

Mittwoch, 23. August 2006

[M]Eine Interpretation

Gerade habe ich Schillers Nänie wiederentdeckt, die ich 2005 in Vorbereitung auf ein Konzert näher in mich aufsog. Die Nänie ist ein römisches Klagelied, eine Todesklage und damit mit der klassischen Strophenform der Elegie, dem Distichon verbunden. Der Text teilt sich von der Argumentation her in drei Teile. Zunächst steckt der erste Hexameter den thematischen Rahmen ab. Verschiedene Anspieungen auf die griechische Mythologie liefern Exempel, aus denen am Ende ein Schluß gezogen wird.

Die Schönheit ist mächtig, denn sie vermag es nicht nur Menschen, sondern auch Götter zu bezwingen. So zum Beispiel den stygischen Zeus, Hades, den sonst so eisernen Gott der Unterwelt. Hades, der durch Orpheus‘ kunstvollen Gesang und Saitenspiel erweicht wurde, erlaubte dem griechischen Sänger seine tote Braut, die Nymphe Eurydike, vom Tod zu befreien; dies aber unter der Bedingung der Persephone, beim Aufstieg aus der Unterwelt voranzugehen und sich nicht umzusehen. Als die Nymphe die Hand ihres Geliebten Orpheus berührt, dreht dieser sich jedoch um und Eurydike muß in der Unterwelt bleiben. Hades ruft sein Geschenk zurück.

Auch Aphrodite liebt, und zwar den schönen Knaben Adonis. Als dieser auf der Jagd von einem wilden Eber, dem verkleideten Ares, verletzt und getötet wird, bewahrt die Schaumgeborene Göttin ihn jedoch nicht vor dem Tod (denn auch das Schöne muß sterben). Ebenso handelt Thetis, die Meeresnymphe, Mutter des nahezu unverwundbaren Kriegers Achilleus, der im Trojanischen Krieg (das skäische ist das große Westtor der trojanischen Befestigungsmauer) auf Seiten der Griechen kämpft und durch einen vergifteten Pfeil des Paris getötet wird.

Aber mit den Töchtern des Meeresgottes Nereus steigt sie aus der Ägäis und beklagt den Tod des geliebten Sohnes. Mit ihr weinen die Göttinnen und Götter um die Vergänglichkeit des Schönen und Vollkommen – die Liebe spricht daraus. Denn in der Klage um den Geliebten lebt die Schönheit weiter. Die Liebe adelt den Geliebten, macht ihn schön und unterscheidet ihn darin vom Gewöhnlichen. Denn das Gemeine geht klanglos, unbeklagt, ungeliebt, unschön zum Orkus, dem römischen Gott der Unterwelt, hier wohlgemerkt in negativer Konnotation (vgl. Pluto), hinab.

Schiller bedeutet auf eindrucksvolle Weise, dass es die Liebe eines anderen Menschen ist, die einen Menschen schön macht und dass darin, in der Liebe, dieser überwältigenden und bezwingenden Macht, die Schönheit weiterlebt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich!

Werkeinführung: Felix Mendelssohn Bartholdy ~ Elias

Montag, 22. Mai 2006

Konzerteinführung

“Die letzte Note des Elijah ging unter in einem Unisono von nicht enden wollenden Applaussalven von tosendem Lärm. Es war, als hätte der lang gestaute Enthusiasmus sich endlich Bahn gebrochen und die Luft mit wilden Schreien der Begeisterung erfüllt”, lobte der Rezensent der London Times die Uraufführung des Oratoriums um den alttestamentarischen Propheten Elias. Am 26. August 1846 hatte der Komponist selbst, der Berliner Zelter-Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1848), die rund 400 Aufführenden in Burmingham geleitet und erzielte damit einen seiner wohl größten Erfolge.

Erst neun Tage davor waren die letzten Teile seines Manuskripts für die Übersetzung und den Druck in England eingetroffen. Die Entstehungsgeschichte des Werkes reicht allerdings deutlich weiter in die Vergangenheit zurück. Vielleicht motivierte die gelungene Uraufführung seines ersten Oratoriums “Paulus” Mendelssohn schon 1836, ein zweites, noch beeindruckenderes Musikstück dieser Gattung zu komponieren. Jedenfalls findet der Elias-Stoff erstmals ein Jahr später in einem Brief an seinen Freund Karl Klingmann Erwähnung. Im Sommer 1837 hatten beide während eines London-Aufenthaltes gemeinsam ein szenisches Konzept erarbeitet, das Klingmann durch eigene und ausgesuchte biblische Verse vervollständigen sollte. Doch berufliche Probleme zwangen den Textdichter, seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden, so dass der Komponist die Zusammenarbeit im Mai 1838 aufgab und den “Elias” vorerst verwarf.

Als Mendelssohn aber 1845 gebeten wurde, das Burmingham Music Festival zu leiten und durch eine Eigenkomposition zu bereichern, gewann das Projekt neue Attraktivität. Er wandte sich an einen alten Bekannten, den Theologen Julius Schubring, der schon die Textgrundlage für den “Paulus” geliefert hatte und nun auch für den “Elias” aktiv wurde.

Während sich Medelssohn beim “Paulus” aber grundlegend am Beispiel Händels orientiert hatte, schwebte ihm für den “Elias” eine dramatischere Anlage vor. Weniger sollte ein Erzähler rezitativisch durch die Handlung führen, als vielmehr die Figuren selbst, “lebendig redend und handelnd”, wie es Mendelssohn in einem Brief an Schubring ausdrückte.

Diese Intention zieht sich durch das gesamte Stück und tritt gleich zu Beginn deutlich hervor. Noch vor der eigentlichen Ouvertüre eröffnet hier nämlich der Fluch des Elias (hebr.: “Mein Gott ist Jahwe”) die Handlung. Den dem Baalskult verfallenen Israeliten wird eine lange Trockenzeit angekündigt. Als sich diese Prophezeihung erfüllt, glaubt sich das Volk Israel von seinem Gott verlassen. Obadjah, ein Schüler des Elias, kennt den Grund und predigt die Wiederkehr zum Glauben an Jahwe. Um die Dürre zu überdauern hat sich währenddessen der Prophet am Bache Crith versteckt. Als aber auch dieser Quell versiegt, macht er sich auf nach Zarpath, wo er bei einer Witwe Unterschlupf findet. Nachdem er ihren toten Sohn mit der Hilfe Gottes wieder zum Leben erweckt hat, erkennt sie in Jahwe den einzigen und wahren Gott. Drei Jahre der Trockenheit sind seitdem vergangen und so begibt sich Elias zu König Ahab, der durch seine Heirat mit der phönizischen Prinzessin Isebeel die Ausbreitung des Baalskultes befördert hat, um ihn dessen anzuklagen. Ein Gottesurteil soll über den wahren Glauben entscheiden und auf dem Berge Carmel rufen die Anhänger Baals ihren Gott an, zum Beweis seiner Herrschaft Feuer auf die Erde zu senden. Doch dieser bleibt stumm. Erst als der Prophet Elias seinen Herrn anruft, entzündet sich das Flammenopfer. So erkennt auch das Volk Israel in Jahwe wieder den wahren Gott und die Baalspriester werden getötet. Auf Elias Bitten hin läßt Gott es auf Erden endlich wieder regnen und mit den Jubelgesängen des Volkes endet der erste Teil des Oratoriums.

Aber König Ahab hat sich noch immer nicht vom Baalskult abgewendet. Als Elias seinem Volk den Zorn Gottes prophezeiht, hetzt die Königin die Israeliten gegen ihn auf und er muss in die Wüste fliehen. Wegen seines Scheiterns verzweifelt, wünscht sich Elias den Tod, doch die Engel sprechen ihm Mut zu. Auf dem Berge Horeb, den er auf Geheiß der Engel erklommen hat, erscheint ihm Gott voller Sanftmut und um ihn herum singt der Engelschor: “Heilig, heilig ist Gott, der Herr Zebaoth”. Elias soll nun wiederum hinabgehen, um mit den übriggebliebenen 7000 Israeliten, die sich nicht vor Baal gebeugt haben, den wahren Glauben zu predigen. Mit starkem Wort gelingt es, den König zu stürzen und am Ende seines gelungenen Lebens holt der Herr seinen Propheten Elias in einer spektakulären Himmelfahrt zu sich.

Eigentlich endet die alttestamentarische Geschichte hier und das Oratorium könnte zu Ende sein, doch auf Anraten Schubrings fügte Mendelssohn noch einige Passagen bei, die den Übergang zum neuen Testament und damit zum christlichen Glauben herstellen. Damit lässt der protestantisch erzogene Sohn einer jüdischen Familie das Werk in gewisser Weise zu einem Spiegel seiner eigenen Glaubenssituation avancieren. Das ist aber auch der Grund dafür, dass die Dramaturgie gegen Ende des zweiten Teils an Kohärenz verliert und die Arien und Chöre zumindest inhaltlich relativ austauschbar erscheinen.

Ein von den religiösen Gründen unabhängiges Argument, das den Komponisten zu dieser Ergänzung getrieben haben könnte, mag in der ausgeprägten Laienchortradition zu suchen sein, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts florierte. Zeitgenössische Chormusik wurde damals vornehmlich von bürgerlichen Gesangsvereinen wie der Singe-Academie zu Berlin aufgeführt, deren Mitglied Mendelssohn seit 1820 war. Vermutlich hätte der alttestamentarische Stoff allein im zweiten Teil des “Elias” nicht mehr genügend Material für eine exponierte Rolle des Chores geboten, weshalb weitere große Chöre angehängt wurden.

Jedenfalls macht der “Elias” insgesamt den Eindruck, als hätte sein Komponist dem Chor besondere Aufmerksamkeit und Liebe angedeihen lassen. In ausgedehnten Passagen greift er aktiv in das Geschehen ein und setzt akzentuiert die oftmals kontrastierenden Affekte. Er steht im Dialog mit der Königin, als diese das Volk gegen Elias aufhetzt und ruft bald flehend, bald befehlend in die durch lange Generalpausen bis auf’s Äußerste gespannte Stille während des Gottesurteils. Mendelssohn läßt ihn sogar, was ungewöhnlich ist, rezitativisch hervortreten.

Mit ihren Konzerten am 17. und 18. Juni 2006 in Rostock unter Leitung von Achim Zimmermann und am 25.06.2006 unter Leitung des Gastdirigenten Peter Leonard hofft die Berliner Singakademie, die sich der Musik Mendelssohns seit langem verpflichtet fühlt, dieser besonderen, vom Komponisten höchst dramatisch angelegten Rolle gerecht zu werden.

Baudelaire. Portrait eines poète maudit

Montag, 24. April 2006

Charles Baudelaire, der am 9. 4. 1821 in Paris geboren wurde, gilt heute als das wahre Sinnbild des poète maudit – das verkannte Genie, das ewig durch die grausame, unschöne Welt ziehen muß, Liebe suchend und Elend findend. Doch der Flaneur Baudelaire hat seine Geburtsstadt selten verlassen. Nachdem er 1836- 39 das Collège Louis- le- Grand besucht hatte, führte er als Dandy ein freies Leben in der Pariser Bohème, wo er u.a. Nerval, Champfleury, Gautier, Dupont, Balzac und seine langjährige Geliebte Jeanne Duval kennenlernte. Obwohl er nie ein festes Metier hatte, arbeitete er gelegentlich als Kunst- und Literaturkritiker, Journalist oder Redakteur. Doch sein Streben nach einer perfekt schönen Dichtungssprache, veranlaßt ihn bald, sich auf das Schreiben von Gedichten zu konzentrieren. In vollendet schönen Versen bringt er nun sein unüberbrückbares Leid und seine Unerfüllten ästhetischen Sehnsüchte in einer als gänzlich unpoetisch empfundenen Welt zum Ausdruck. Meist sucht er den Ausweg aus seiner pessimistisch getönten Befindlichkeit in einem sozial unverbindlichen, oft mystisch und okkult gefärbten Ästhetizismus.

In seinem 1857 erscheinenden Gedichtband „Les Fleures du Mal“, seinem Haupt- und Lebenswerk (an einigen Gedichten arbeitete der Poet über dreißig Jahre), thematisiert Baudelaire die Diskrepanzen der menschlichen Seele. Er verdeutlicht ihren Zwiespalt zwischen Spiritualisierung und Animalisierung, Reinheit und Schmutz, Aufschwung und Verzweiflung, Genuß und Ekel- eben Spleen und Ideal, wie einer der Auszüge aus dem Band betitelt ist. Da es Baudelaire als seine Aufgabe ansieht, eine zeitlose, absolute und autonome Idee des Schönen in der Poetisierung der Gegenwart zum Erscheinen zu bringen, ist seine poetische Leitfigur der Dandy, der Flaneur, der dem banalen Leben den Stil ästhetischer Eleganz entgegensetzt und gegen die etablierte Macht, die Reinkarnation des Häßlichen, durch Beharrung auf Schönheit und die illusionslose Enthüllung ihres zugleich „göttlichen“ und „satanischen“ Wesens revoltiert. Deutlich tritt in den „Fleures du Mal“ Baudelaires leidenschaftliche Auflehnung gegen alle Konventionen der trivial- bürgerlichen Gesellschaft, Moral und Religion hervor. So reichen seine Textinhalte von morbider Erotik bis zu ekstatischer Frömmigkeit. Doch der Poète maudit ist seiner Zeit weit voraus und noch im selben Jahr werden die „Fleures“ wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral gerichtlich angeklagt und einige Gedichte daraus sogar verboten.

Dennoch schafft es Baudelaire, einen Kreis von Dichtern um sich zu scharen, die durch Moreas, der der neuen Strömung ihren Namen gibt, bald als Symbolisten bekannt werden. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, u. a. berufen sich auf das Prinzip L’ Art pour l’ art, welches das Kunstwerk als ein eigengesetzliches und eigenwertiges Gebilde ansieht, das frei von allen Bindungen ist, ob religiöser, ethischer oder politischer Art. Auf die unbedingte Verständlichkeit ihrer Werke kommt es ihnen nicht mehr an. Ihr Hauptwert liegt vielmehr in der kunstvollen Form, der Klang- und der Wortmagie. So nutzen sie Wörter mit assoziativen Klangwirkungen und sprachkünstlerische Akzentuierungen von Rhythmus, Melodie und Satzbau. Durch Klangfarbe, Sprachmusik und Lautmalerei werden geschickt Synästhesien hergestellt, die Korrespondenzen und Analogien zwischen verschiedenen Sinnbereichen suggerieren. Traum- und Albtraumbilder überlagern sich, fließen ineinander und verschmelzen. Angestrebt wird eine weitgehende Autonomie der genutzten Symbole. Diese soll eine Verschlüsselung des Gemeinten bewirken und bietet so nicht nur Spielraum für die Interpretation der Werke, sondern führt sogar bis hin zur tendenziellen Beliebigkeit ihrer Sinngebung. Denn das Ziel der Symbolisten war es, hinter den Erscheinungen, Zuständen, Wortfassaden und Sprachgesten tiefere, verborgene Schichten des Seins, des Lebens und einer neuen Subjektivität zu erschließen.

Mit seinem 1868 im Postum erschienen Werk „Petits Poèmes en Prose“ ebnet Baudelaire den Weg für den Vers libre. Er berichtet von Rauscherlebnissen in „Les Paradies artificiels. Opium et Haschisch“ und schreibt zahlreiche kunstkritische Aufsätze, wie „La Peintre de la vie moderne“ oder „Curiosité esthétique“. Auf einer Reise durch das ihm verhaßte Belgien kommt es 1866 auf Grund von Konflikten mit Verlegern, Presse und Zensur und durch seinen exzessiven Lebensstil zum gesundheitlichen Zusammenbruch Baudelaires. Am 31. 8. 1867 verstirbt er in Paris und hinterläßt seinen Anhängern eine moderne, zeitgemäße, jedoch zugleich überzeitliche Lyrik.

Nov. 2001
__________

  • Ch. Baudelaire: Les Fleures du Mal, franz./dt. Reclam 1998
  • Die französische Literatur, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1988
  • Lexikon der französischen Literatur, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1987
  • J.P. Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Rowohlt 1997
  • Bertelsmann Discovery, 1997

Werkeinführung: Giovanni Perluigi da Palestrina ~ Missa Papae Marcelli

Donnerstag, 13. April 2006

Um 1562 schrieb Giovanni Pierluigi aus Palestrina (1525? – 1594) seine Missa Papae Marcelli, die heute berühmteste seiner Messvertonungen. Die dem Papast Marcellus, der nur wenige Tage im Amt war, gewidmete Messe gilt als ideale Verbindung von Polyphonie und Textverständlichkeit und ist heute Grundlage vieler kontrapunktischer Studien, wie z.B. Fux‘ „Doctor Gradus ad Parnassum“.
Ihrer Klarheit und Brillianz verdankt Palestrina, daß heute die Anekdote erzählt wird, er habe die Kirchenmusik „gerettet“. Das Konzil von Trient (1545 – 1563), das sich im Gegenzug der Reformationsbewegung auch mit grundlegenden Fragen der katholischen Kirchenmusik auseinandersetzte, sei durch die Missa davon überzeugt worden, daß der polyphone Stil weiterhin der katholischen Liturgie würdig sei.
Fakt ist, daß die Kirche den weltlichen Einfluß auf die sakrale Musik kritisiert hatte und außerdem die künstlerische, aufwendig verzierte und unverständliche polyphone Vokalmusik ablehnte. Papst Marcellus beklagte sich bei Palestrina über die komplizierten Rhythmen und die vielen Koloraturen, die das Verstehen des geitlichen Textes unmöglich machten. Es kam jedoch nie zum Verbot der Volkalpolyphonie in der sakralen Musik, doch die Kirche verlangte in Zukunft den Ausschluß von weltlichen Melodien, Textverständlichenkeit und Würde im Ausdruck. Die sieben Jahre nach Papst Marcellus Tod komponierte Messe erfüllte diese Wünsche des Konzils.

  1. Kyrie
  2. Gloria
  3. Credo
  4. Sanctus
  5. Benedictus
  6. Agnus Dei

Die Missa Papae Marcelli wurde für sechstimmigen Chor komponiert, Cantus, Altus, Tenor und Baß, wobei der Tenor und der Baß geteilt sind. In der zweiten Fassung des Agnus Dei kommt es sogar zur Siebenstimmigkeit. Es herrscht hier, im Gegensatz zu anderen Werken Palestrinas, ein ausgewogener Wechsel zwischen homophonen und polyphonen Abschnitten.
Im durchweg polyphonen Kyrie (Sogetto), findet sich jedoch ein interessantes Motiv, welches sich auch in dem damals berühmten weltlichen Lied „L’homme armé“ findet. Selbes verwandte schon Dufay in seinen Messvertonungen. Gibt es hier also doch einen weltlichen Einfluß in sakraler Musik?
Das Gloria und Credo sind, aufgrund ihres umfangreichen Textes, einfacher gehalten. Durch viele Pausen wird der volle sechstimmige Klang weitgehend vermieden und es gibt so gut wie keine rhythmischen Verschiebungen. Verziehrungen treten nur in Klauseln und nur in einzelnen Stimmen auf. Man vermutet, daß sich Palestrina hier von der Motette „Benedicta es“ inspirieren lassen hat. Im „Qui sedes“ des Gloria finden sich die zwei Eröffnungs-„Takte“ des „Christe“ der Motette Deprez‘.
Das Sanctus knüpft kompositorisch und motivisch an das Kyrie an, ist jedoch rhythmisch noch raffinierter gehalten. Das folgende Benedictus wird Semichorus, also mit einer kleineren Besetzung, vierstimmig vorgetragen.
Vom Agnus Dei liegen, wie schon erwähnt, zwei Fassungen vor. Die erste, sechstimmige Fassung bezieht sich wieder klar auf das Kyrie. Die zweite Fassung ist jedoch siebenstimmig und schwerer auf das Kyrie zurückzubeziehen.

Feb. 2002

Hörproben

[audio:bsa_palestrina-kyrie.mp3]
Hörprobe: Palestrina – Kyrie (Missa Papae Marcelli)
[© 1993/94 Berliner Singakademie]

[audio:bsa_palestrina-gloria.mp3]
Hörprobe: Palestrina – Gloria (Missa Papae Marcelli)
[© 1993/94 Berliner Singakademie]