Im Mittelalter gab es kein Copyright
Freitag, 14. Mai 2010Das Copyright ist eine Erfindung der Neuzeit. Die Rechte der Autoren kamen erst mit der Einführung des Buchdrucks und der Notwendigkeit organisierter Produktionsprozesse durch Verlage, Druckereien, etc. Das habe ich gerade wieder in Jan-Dirk Müllers „Aufführung – Autor – Werk“ gelesen, den ich im vorigen Post zusammengefaßt hatte. Der Text gehört quasi zur Grundausbildung eines jeden mediävistischen Literaturwissenschaftlers. Aber ich denke, er ist auch für die aktuelle Piratenbewegung und Copyright-Debatte von Interesse. Er spricht über unsere moderne Auffassung von Autorschaft und davon, dass diese nicht gesetzt, sondern eine von uns konstruierte ist.
Im Mittelalter gab es nämlich „DEN Autor“ nicht und es gab nicht „SEIN Werk“. Es gab viele Vortragende in einer mündlichen Kultur, in der Texte variabel waren und der jeweiligen Vortragssituation angepaßt wurden. Aufmerksamkeit und Lob galten dabei dem Vortragenden, der nicht zwangsweise mit dem Verfasser identisch sein mußte. Denn bedient hat man sich von überall her. Das Kopieren, Ändern und Verwenden von Texten, Formen und Melodien war Gang und Gäbe. Ein Werk dem Publikum auf vollendete Weise darzubringen, war die Kunst und nicht etwa, als erster auf eine Idee gekommen zu sein. „Der Verfasser eines Textes erwirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet“, schreibt Müller. Die Vorstellung von einem „geistigen Eigentum“ wäre einem Minnesänger oder mittelalterlichem Zuhörer wohl ziemlich bescheuert vorgekommen.
Müller berichtet dies freilich nicht im Zusammenhang mit der Copyright-Debatte, sondern zeigt sich von einem wissenschaftlichen Disput um den Status einer zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur stehenden Literatur inspiriert. Ebenso wie aber die mit dem Buchdruck um 1500 einhergehende Medienrevolution zu einer Neubewertung des Autorbegriffs geführt hat, wie Müller erläutert, scheint mir das bei der aktuellen Medienrevolution auch der Fall zu sein. Der Mythos vom Verfasser-Genie und seiner allumfassenden Gewalt über sein Werk beginnt mit der Einführung des Internets und anderer digitaler Kopien in dem Maße zu bröseln, wie er vor 500 Jahren mit der Erfindung des Buchdrucks erstarkte. Brauchen wir den Autor heute noch oder lebt unsere Kultur durch die Beteiligung und Kreativität aller an ihr teilnehmenden Personen?
In einer schriftlichen Kultur hatte die Kopie materiellen Wert und war entsprechend mit finanziellen Risiken verbunden. In der digitalen Kultur kostet eine Kopie ungefähr genausowenig wie in einer mündlichen. Insofern rücken wir der mündlichen Kultur des Mittelalters und ihrer aufgelockerten, offenen Auffassung von Autor und Werk wieder ein Stück weit näher. Genau an diesem Punkt geraten wir aber in gesellschaftlichen Konflikt. Da gibt es auf der einen Seite Menschen, die noch voll umfänglich an das „geistige Eigentum“ glauben und mental am Autor und seinem Werk festhängen. Da gibt es auf der anderen Seite die, die solche Vorstellungen für überkommen oder zumindest fragwürdig halten. Die einen haben Angst, ihren Status zu verlieren, die anderen fühlen sich unterdrückt und wollen sich emanzipieren.
Ich kann beide Seiten nachvollziehen. Ich bin selbst Autor (gewesen) und verband damit Eitelkeiten und Privilegien. Mir kommt das alles aber zunehmend albern vor und Texte wie der von Müller bestätigen mich darin. Vielleicht ist die Vorstellung von Autor und Werk vor dem Hintergrund der Entwicklung zu einer digitalen Kultur eine Sackgasse.