Archiv für Juli 2007

Neurokognition musikalischer Zeichen

Donnerstag, 12. Juli 2007

In diesem Semester ist es meine Abschlußaufgabe, ein musikalisches Stück meiner Wahl nach semiotischen Gesichtspunkten zu analysieren. Wie steht es aber um die musikalische Semiotik und welche Analysemethoden sollte ich anwenden? Um dieser Frage näher zu kommen, schaute ich mir an, wie Musik im Gehirn verarbeitet wird, in der Hoffnung, dadurch mehr über die Beschaffenheit musikalischer Zeichen zu erfahren. Meine Ergebnisse habe ich in diesem Essay zusammengefaßt.

Neurokognition musikalischer Zeichen

Auf der Suche nach einer musikalischen Semiotik, also einer Theorie des Zeichensystems Musik, ging ich von einer oft gehörten Behauptung aus, nämlich der These, dass Sprache und Musik sehr viel gemeinsam haben. Aber worin bestehen diese Gemeinsamkeiten? Sprache ist ein Zeichensystem, genau wie Musik. Aber die sprachlichen Zeichen (z.B. Wörter) sind größtenteils Symbole – es gibt eine stillschweigende Übereinkunft darüber, was sie bedeuten. Dog, chien oder Hund beziehen sich alle auf ein vierbeiniges Säugetier der Familie Canidae. Aber die Wörter haben mit dem Ding an sich nichts gemein. In der Musik ist das ein bisschen anders. Zwar gibt es auch dort Symbole, aber größtenteils können wir nicht sagen, eine Tonfolge, ein Motiv oder ein Rhythmus stünde für dieses oder jenes Ding in der Welt. Dennoch schient Musik eine Bedeutung zu haben, denn sie kann verschiedene Individuen in ähnliche Stimmung versetzen oder ähnliche Assoziationen bei ihnen hervorrufen. Aber wie funktioniert diese Verbindung zwischen der Erscheinungsform eines musikalischen Zeichens und seines Bedeutungsinhaltes?

Ich dachte mir, dass mir die Kenntnis darüber, wie ein musikalisches Signal im Gehirn verarbeitet wird, vielleicht bei der Frage weiterhelfen könnte, wie musikalische Zeichen beschaffen sind. Musik ist wie Sprache ein akustisches Signal zeitlicher Dimension, das charakterisiert durch Frequenz und Rhythmus durch’s Ohr in unser Bewußtsein dringt. Lange glaubte man, bei der Verarbeitung von Musik würden exakt die Areale auf der rechten Hirnhälfte aktiv, die auf der linken Seite für die Sprachverarbeitung zuständig sind, z.B. das Broca-Areal und das Wernicke-Areal. Experimente einer Forschergruppe des Max Planck Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig1 lieferten dahingehend spannende Ergebnisse. Hörer reagierten auf musikalische Inkongruenzen, wie unerwartete oder dissonante Akkorde, mit einer starken Hirnaktivität in dem dem Broca-Areal gegenüberliegenden Bereich. Auch wenn das nicht für die Theorie Sprache links und Musik rechts spricht, so spricht es doch für einen semiotischen Aspekt. Wenn das Gehirn auf der rechten Seite in gleicher Weise gegen Störakkorde protestiert, wie es auf der linken Seite gegen grammatische Störungen in der Sprache protestiert, so ist das ein Indiz für eine musikalische Grammatik, also ein Regelwerk der Formenzusammensetzung musikalischer Zeichen.

Ebenso wie mich interessiert die Forscher nun, ob es demzufolge auch eine musikalische Semantik gibt. Trotz einiger Experimente scheint dies noch immer schwer zu sagen, denn man ist sich uneins darüber, welche Merkmale überhaupt eine musikalische Semantik evozieren. Es scheint dabei um Emotionen, Affekte, aber auch Programmatik und Bekanntheit gehen. So zeigten weitere Experimente des MPI-Teams z.B., dass das Gehirn relativ schnell auf bekannte Melodien reagierte, während es über unbekannte länger nachgrübelte. Womöglich gibt es sogar eine Art Lexikon, das musikalische Phrasen speichert, aber so richtig weiter bringen, tut mich das noch nicht.

Dies Frage nach der Semantik ließ mich nicht ruhig und ich wollte weiter in die neurologischen Verarbeitungsprozesse eindringen. Auf einen interessanten Ansatz stieß ich bei Jeff Hawkins, der einst am MIT künstliche Intelligenz erforschte und in seinem Buch „On Intelligence“2 über die Funktionsweise des Kortex‘ schrieb. Die Verarbeitung von auditiven, visuellen oder somatosensorischen Sinneseindrucken erfolgt nämlich in mehreren stemmatischen angelegten Schichten, die alle gleichermaßen versuchen die Muster und Sequenzen von Signalen wiederzuerkennen und Prognosen darüber anzustellen, welches Muster als nächstes die Wahrnehmung treffen müßte. Dabei nehmen die tiefer liegenden Schichten kleinteiligere, detailliertere Muster wahr, ordnen den zusammenhängenden unter ihnen einen „Namen“ zu und geben diesen „Namen“ an die nächst höhere Schicht weiter. Die nächst höhere Schicht nimmt dann schon einen nicht mehr ganz so kleinen, weniger detaillierten Teil des Musters wahr, ordnet Zusammenhängendem wiederum einen „Namen“ zu und gibt ihn an die nächst höhere Schicht weiter, bis dann im Assoziationsfeld ein ganzheitlicher Eindruck z.B. eines Gesichtes, einer Tonfolge oder eines gefühlten Gegenstandes ankommt. Gleichzeitig gibt jede Schicht ihre Prognose darüber ab, was die Wahrnehmung als nächstes trifft, denn anhand der Namensgebung werden bekannte Sequenzen erkannt. Zu jedem reinkommenden Signal gibt es also ein Feedback. Da alle Hirnregionen mehr oder weniger eng miteinander verknüpft sind und ein großes Netzwerk bilden, kann zum Beispiel auf den Höreindruck von Schritten das visuelle Feedback erfolgen, dass demnächst eine Person in meinem Blickfeld auftaucht. Auch an den motorischen Kortex wird ein solches Feedback weitergegeben. Die Prognose ist hier eine Handlungsanweisung, z.B. sich erschreckt umzudrehen, wenn man hinter sich im dunklen Wald plötzlich ein knackendes Geräusch hört und dabei ein bisschen Adrenalin auszuschütten.

Es ist ein Verhalten, eine Erkennensreaktion, die dem graphischen Muster |HUND| im Gedächtnis die Assoziation eines zottigen Vierbeiners hervorruft. Aber auch beim Hören einer Melodie etwas zu fühlen, ist ein Verhalten, denn das Gehirn reagiert auf das Erkennen eines musikalischen Musters oder einer musikalischen Sequenz mit bestimmten elektrischen Impulsen oder der Ausschüttung bestimmter Hormone, was wir u.U. als Gefühl wahrnehmen. Was wir assoziieren, wenn wir das Wort „Hund“ lesen, klärt uns über die Semantik der Sprache auf. Was wir assoziieren, wenn wir eine Melodie, einen Rhythmus, eine Sinfonie hören, verweist uns hingegen auf die Semantik der Musik, egal ob wir es abstrakt fühlend, denkend oder vor dem inneren Auge sehend assoziieren.

Auf meiner Suche nach einer Semiotik der Musik hat mich die Betrachtung der kognitiven Verarbeitung musikalischer Signale also schon sehr viel weiter gebracht. Ich habe Argumente gefunden, die für das Vorhandensein einer musikalischen Syntax (also einer zeichentheoretischen Formebene) sprechen und gleichzeitig eine Idee davon bekommen, wo nach einer musikalischen Semantik (also einer zeichentheoretischen Bedeutungsebene) zu suchen ist. Unklar ist nachwievor, welchen Regeln die musikalische Grammatik folgt und nach welchen Kriterien die semantische Assoziation erfolgt.

Es ist naheliegend, davon ausgehen, dass es die musikalische Grammatik nicht gibt. Denn ebenso wie sich das Griechische und das Indische sprachlich unterscheiden, unterscheidet sich auch die griechische von der indischen Musik. Beide folgen einem eigenen systematischen Regelwerk. Es ist Aufgabe der Musikethnologen und -historiker, näheres darüber in Erfahrung zu bringen. Doch auch hier mag man (wie Chomsky in bezug auf die Sprache) über mögliche universelle Aspekte spekulieren. Denn immerhin sind Grammatik und Semantik auch in einem Sprachsystem nicht immer sauber zu trennen und bedeuten tun letztlich alle sprachlichen Formen Dinge in der realen Welt. Zwischen der realen Welt in Indien und der in Griechenland gibt es viele Unterschiede – aber es gibt eben auch unleugbare Gemeinsamkeiten.

Die Zuordnung sprachlicher Formen zu ihren Bedeutungen in der realen Welt basiert auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft, einem Code. Deshalb sprechen wir bei sprachlichen Zeichen von Symbolen. Im Gegensatz dazu stehen Ikonen, wo die Relation zwischen Form und Bedeutung eines Zeichens auf Ähnlichkeit basiert, und Indices, wo die Relation auf der Kontiguität von Zeichen und Bedeutung beruht. Wir haben uns irgendwann geeinigt, dass der haarige Vierbeiner der Familie der Canidae Hund oder dog oder chien heißt; als Kinder haben wir es von unseren Eltern so gelernt. Bei der Musik ist das nicht so einfach. Es steht fest, dass das graphische Zeichen der Viertelnote das zeitliche Längenverhältnis eines Tons von 1:4 kennzeichnet, einige haben sich geeinigt, dass das „ta-ta-ta-da“ am Anfang der Fünften Sinfonie von Beethoven ein Schicksalsmotiv ist und vielleicht mögen zwei Menschen auch darin übereinkommen, dass sie ein und dasselbe Stück beide als traurig oder agressiv empfinden. Aber systematisch untersucht hat man das bisher nur wenig, undzwar weil es noch keine etablierten Analysemethoden gibt. Die Musiksemiologie versucht, solche zu finden und anzuwenden und anhand ihrer Arbeit mehr Aufschluß über das Zeichensystem Musik zu erlangen.
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Quellen:

1. Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften: Spiegelbild der Sprache – Neurokognition von Musik, Leipzig 2004
2. Jeff Hawkins, Sandra Blakeslee: On Intelligence. How a new understanding of the brain will lead to the creation of truly intelligent machines, Times Books, New York 2004
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Ich bitte zu beachten, dass es sich bei diesem Text um einen Teilvorentwurf zu meiner inzwischen veröffentlichten Semesterarbeit Fumeuse speculations. An Essay on Musical Semiotics and a Semiotic Analysis of the Fourteenth Century Rondeau „Fumeux fume“ [Link] im Fach Musikwissenschaft handelt. 😉

Chaos Communication Camp 2007

Donnerstag, 12. Juli 2007

Chaos Communication Camp 2007 – The International Open Air Hacker Meeting, from August 8th to August 12th in Finowfurt near Berlin

In diesem Jahr findet wieder das Chaos Communication Camp statt, ein internationales Hackertreffen unter freiem Himmel, mit Zelten und Vorträgen und Workshops und vielen, vielen Nerds. Ich werde dort die Koordination des Kassenteams übernehmen. Wer dort sein wird, kann mich nicht nur kennenlernen, sondern mir auch als Freiwilliger an der Kasse helfen. Mehr Infos über das Camp, seine Besucher und seine Attraktionen gibt es auf events.ccc.de oder in der wikipedia. Interssant ist auch die Videodokumentation vom Camp 2003.

Generation Praktikum

Donnerstag, 05. Juli 2007

Bei einem Poetry Slam im Bastard*1 hatte ich mal einen richtig guten Text zu diesem Thema gehört – billige Arbeitskräfte zum gepflegten Ausbeuten. (Wer den zufällig kennt oder weiß, wie man dran kommt, der kann ihn mir ja mal schicken.) Gestern hat mich xipulli aber auf eine Seite hingewiesen, die ich allen Leidensgenossen nicht vorenthalten möchte.

Die Fairwork e.V. vergibt inzwischen Qualitätssiegel für Arbeitgeber, die bezahlte und faire Praktika anbieten. Außerdem klären sie über Rechte von Praktikanten auf, liefern Erfahrungsberichte und sonstige interessante Details zum Thema, z.B. dass eine neue HIS-Studie herausgefunden hat, dass Praktika den Einstieg in den Arbeitsalltag überhaupt nicht erleichtern, wie uns das immer so schon vorargumentiert wird, damit wir uns auch ja ordentlich ausbeuten lassen.

Wenn ich mir die Graphen unseres Wirtschaftswachstums bei gleichzeitig sinkenden Löhnen*2 so anschaue, kann mir wirklich keiner mehr weis machen, unsere Wirtschaft wäre so arm dran, dass sie uns nicht mehr dafür bezahlen kann, dass wir uns für sie abrackern. Wer arbeitet, soll auch bezahlt werden!
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1. jeden Donnerstag ab 22:00 Uhr im Basdard Club (Prater) Berlin, Kastanienallee 7-9, 10435 Berlin
2. Pressebroschüre zum Bruttoinlandsprodukt 2006 (PDF) des Statistischen Bundesamts, besonders bemerkenswert Seite 6 (Wirtschaftswachstum 2006 um 2,5% zum Vorjahr gestiegen) und Seite 13 (Lohnkosten 2006 um -1,1% zum Vorjahr gesunken, 2005 ebenfalls um -1,1% zum Vorjahr gesunken, etc.) und außerdem Artikel bei SpOn

det/dit – Oogn uff!

Mittwoch, 04. Juli 2007

Es gibt ja einen Grund dafür, dass der Berliner zwar Oogn für „Augen“, aber nicht oof für „auf“, sondern allenfalls uff sagt. Das liegt daran, dass [au] und [au] ganz früher mal zwei unterschiedliche Vokale waren. Alles, was früher schon Diphtong [au] war, wird im Berlinerischen heute zum Monophtong [o:]. Was aber früher Monophtong [u:] war (wie z.B. mhd. ûf), ist im Berlinerischen heute Diphtong [au] oder eben kruzes [u]. Vieles, was einem Nichtberliner willkürlich erscheinen mag, wie dieses [au] zu [o:] oder zu [u], ist in Wirklichkeit sehr regelmäßig, wenn man die Gesetzmäßigkeiten kennt. Dem Durchschnittsberliner ist das natürlich nicht bewußt, er macht es intuitiv richtig.

Mir ist aber an mir selbst eine andere Regelmäßigkeit aufgefallen und ich konnte bisher nicht ergründen, ob das nur in meinem Sprachgebrauch funktioniert oder ob es auch anderen Berlinern so geht. Die Rede ist von „det“ und „dit“. Im Artikel zum Berlinischen erklärt die Wikipedia, det hieße „das“ und dit hieße „dies“. Das kleine Lexikon der Berliner Mundart versteht unter det und dit in jedem Falle „das“ und die Tony Mahoni Kommentatoren auf Spreeblick streiten sich noch, ob es det im Berlinerischen überhaupt gibt.

Ick bin Berlina inna ßweetn Jeneration und bai mia is dit so, det ick dit fawende, wenn ick n Aatikl oder n Pronom meine, det ick aba det saje, wenn ick die Konjunktion meine.
Zu Deutsch: Ich als waschechter Berliner in der zweiten Generation verwende dit für den Artikel und das Pronomen „das“ und det für die Konjunktion „daß“ oder „dass“ – und zwar ziemlich regelmäßig. Vielleicht fällt es mir deshalb weniger schwer, nach einem Komma das richtige „das/s“ zu schreiben. Genausogut könnte es aber sein, dass ich den syntaktischen Unterschied zwischen einem Pronomen und einer Konjunktion so gefressen habe, dass ich zwischen det und dit auch im Berlinerischen Sprachgebrauch unterscheide.

Watt meint denn iha annan Berlina daßu?

Die Wurzeln der Bohème im Spätmittelalter

Dienstag, 03. Juli 2007

„Fumeux fume par fumee, fumeuse speculation“, lautet der Refrain eines außergewöhnlichen Rondeaus aus dem späten 14. Jahrhundert. Überliefert ist es im Codex Chanitlly (Musée Condé) unter dem Namen Solage (ich lese Solige). Über Solage, den Komponisten und vermutlich Dichter des Stückes, ist nicht viel bekannt, außer dem, was uns die Texte seiner Lieder offenbaren. Im Falle „Fumeux“ fragt man sich eventuell, was Solages Zeitgenossen damals wohl geraucht haben mögen, als Tabak in Mitteleuropa noch gar nicht bekannt war und die musikalische Anlage läßt zunächst einen Opium- oder Haschischrausch vermuten. Der Text hält aber mehr bereit.

Eifrige Romanisten haben nämlich herausgefunden, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Anspielung auf die „Chartre des Fumeux“ des französischen Dichters Eustache Deschamps handelt. Dieser verfaßte die Charta im Dezember 1368 als eine Art Manifest der exzentrischen Literatengruppe der „Fumeux“, die sich zum gemeinsamen Debattieren über Musik, Literatur und Sprache bei genüßlicher Einnahme bewußtseinserweiternder Substanzen traf. Es ist unklar, ob diese Clique nur eine künstlerische Idee des Dichters ist oder ob sie tatsächlich existierte. Fakt ist aber, dass im direkten Umfeld Eustaches Deschamps die Namen einer ganzen Reihe interessanter Literaten auszumachen sind und dass wir auf eine Zeit der literarischen Emanzipation zurückschauen.

Dante, Petrarca, aber auch Froissart und Chaucer fingen an, weltliche, von Musik unabhängige Lyrik in ihrer Nationalsprache zu verfassen. In Frankreich hatten die Lieder des Dichterkomponisten Guillaume de Machaut neue Maßstäbe gesetzt. Deschamps bezeichnete sich selbst als Machauts Neffe und war wohl auch in seiner Lehre, als dieser Kanon in Reims, der traditionellen Krönungsstadt der französischen Könige, war. Machaut hatte zunächst einige hohe Ämter bei Johann von Luxemburg inne, der Sohn des deutsch-römischen Kaisers, Heinrich VII, und selbst König von Böhmen war. Befreundet war Machaut auch mit dem späteren König Karl V., unter dessen Protektorat nun zufällig auch Eustache Deschamps und der Vater einer gewissen Christine de Pizans standen. Diese emanzipierte Autorin, Christine, ist nicht nur eine weitere Protagonistin unseres Pariser Literatenkreises, sondern auch frühe Feministin. Sie befaßte sich lange vor der Renaissance mit Studien der Antike und humanistischem Gedankengut, regte 1399 eine literarische Debatte um die Frauenverachtung im „Roman de la Rose“ an und verfaßte vor ihrem Tod die älteste, mir bekannte Utopie einer Gesellschaft, die Frauen gleiche Rechte gewährt. Sie hatte viele Gönner, u.a. Karls Bruder Johann, Graf von Berry, der Kunsthistorikern als bibliophiler Auftraggeber diverser, heute unbezahlbarer Handschriften bekannt sein dürfte, allen voran seine von den Brüdern Limburg illuminierten Très Riches Heures.

Ein weiterer Bruder Karls war Philipp II. der Kühne, Herzog von Burgund, auf dessen Umfeld einige Lieder unseres ersterwähnten Chantilly-Meisters Solage verweisen. Es ist daher anzunehmen, dass Solage unter Philipps Protektorat und damit ebenfalls in direkter Verbindung zu unserem Pariser Literatenkreis stand. Die Überlieferung zeigt jedenfalls mit Machaut, Deschamps, Pizan und Solage vier Gestalten, die sich allesamt im gehobenen Kreis der französischen Prinzen bewegten und deren künstlerischer Output für ihre Zeit außergewöhnlich exzentrisch und individuell war. Eventuell waren sie ja Teil der von Deschamps idealisierten „Fumeux“.