Es ist das streng gehütete Geheimnis einer (nicht ganz) kleinen Gruppe von Eingeweihten, was es mit den Weisheitzähnen und deren Diebstahl bei der zahnärztlichen Notschlachtung ihrer Träger auf sich hat. Da ich nie ein Freund geheimen Wissens war, habe ich die schwierige Prüfung auf mich genommen und mich gestern einer Weisheitszahn-OP unterzogen, um nun die Welt durch die Schilderung meines eigenen Abenteuers an den bahnbrechenden, neuen Erkenntnissen teilhaben zu lassen, die ich bei dieser Herausforderung erlangt habe.
Das Geheimnis der Weisheit
Ich bin in einer Welt ohne Götter aufgewachsen. Wo andere Kinder lernten, in schweren Zeiten Gott um Beistand und Hilfe anzurufen, lernte ich, meinen Verstand zu gebrauchen, um mich selbst aus dem Schlamassel zu ziehen. Ratio war die Göttin meiner Mutter, Intellekt und Bildung der Schlüssel zum glücklichen Leben. So also war mein kindliches Leben geprägt vom Ringen um Weisheit und ich glaubte mich darin gar nicht schlecht.
Irgendwann stand eine Operation an, in der meiner armen Frau Mutter ihre Weisheitszähne entfernt werden sollten. Ich konnte nicht verstehen, wie sie sich so bereitwillig die Insignien ihrer Macht stehlen lassen wollte. Natürlich wolle sie nicht, aber es müsse sein, erklärte sie und litt im Verlaufe dieser wirklich dämlich anmutenden Aktion beinahe den Heldentod. Noch lange breitete sie in epischen Erzählungen ihr Abenteuer vor uns lauschenden Kindern aus, schilderte Gefahren und Ängste, berichtete von Leid und Schmerz, eine wahrhaft dramatische Geschichte. Auch wenn es dem Intellekt meiner Mutter nicht im geringsten zu schaden schien, sondern dieser, im Gegenteil, sich mit zunehmendem Alter noch vermehrte, für mich war fortan klar, ich würde meine Weisheitszähne behalten. Niemand solle es wagen, mir meine Weisheit zu nehmen.
So lebte ich also mein unbeschwertes Leben. Ratio war mir eine holde und gerechte Göttin. Sie belohnte mich, wo ich Schläue zeigte und strafte mich, wenn ich blöde war, so dass ich die Chance hatte, aus meinen Fehlern zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen. Denn, so lehrte uns ein sehr weiser, alter Mann (er war Philosoph und hieß Sartre), man sollte keinen Fehler zweimal machen, schließlich sei die Auswahl groß genug.
Dieses Mantra beherzigend war es irgendwann soweit: Meine Weisheitszähne brachen durch. Jahrelang hatte ich Qualen gelitten, um mit Richteisen meine Zahnstellung zu korrigieren und so Platz für diese Gütesiegel meines Verstandes zu schaffen. Ich hatte diesen lange vor ihrem Erscheinen sogar schone weniger wertvolle Zähne geopfert und trotzdem sagte die begutachtende Zahnärztin: „Frau F., ich glaube, ihre Weisheitszähne müssen entfernt werden.“
„Neeeeiiiiiiiinnnnnn!!1!elf!1“
Der Kampf um meine Zähne begann. Ich litt im Stillen mein wundes Zahnfleisch, reinigte mit einer speziellen Bürste jeden einzelnen Zahn und doch, je weiter die Zähne durchbrachen, desto gemeiner wurden die Schmerzen, desto mehr Löcher unterbrachen das strahlende Weiß und spotteten meinen verzweifelten Bemühungen. Gestern kam ich unters Messer, nachdem ich mich eine Woche lang mit opiat-ähnlichen Schmerzmitteln auf rotes Rezept bis zum OP-Termin hinüber gerettet hatte. Schreckliche Geschichten hatte ich gehört, von Leuten, die ein solches Wagnis vor mir eingegangen waren, von knackenden Kiefern, schnalzendem Zahnfleisch und Backen, die so geschwollen waren, dass man sich monatelang nur von Brei ernähren konnte. „Bist du denn verrückt?“, hatten sie erschrocken, oder „Na, du bist ja mutig!“, spöttisch gesagt, als ich erklärte, ich würde mich aller vier Zähne mit einem Mal entledigen (lassen). Hätte mir nicht eine weisheitszahnlose Komilitonin einen sehr weisen Rat mitgegeben, hätte mich im Auge des mit Spritze, Bohrer und Zange bewaffneten Diebes wohl aller Mut verlassen: „Es ist ja nicht deine Hinrichtung.“
Recht hatte sie! und auch wenn ich nicht sagen kann, dass es unbedingt angenehm war, es war nicht meine Hinrichtung. Ich habe das Knacken und das Schnalzen und das Bluten überstanden und nun sitze ich mit dicken Hamsterbacken hier und schreibe und sehe urkomisch aus und kann nicht so über mich lachen, wie ich es verdient hätte. Beim Bioladen gegenüber kaufe ich Apfelmus und Babybrei mit Mango-Vanille-Geschmack. Die Kassierein schaut mir ins Gesicht, schaut auf meine Waren, blickt mir verständig und tröstend entgegen: „Mein herzliches Beileid.“ Und da, plötzlich, kommt mir die Erleuchtung. Wie blind ich all die Jahre war, wie dumm von mir! Endlich, endlich gehöre ich zum Kreis der Eingeweihten, bin ich beteiligt an einem geheimen Wissen, um das nur jene Weisen wissen, die sich dieser harten Prüfung gestellt und sie gemeistert haben:
Die Weisheitszähne heißen nicht Weisheitszähne, weil sie ein Zeichen der Altersweisheit sind, nein, es ist vielmehr ein Zeichen der Altersweisheit, nach deren Verlust zu den Auserwählten gehören zu dürfen, die mit schaurig ausgeschmückten Horrorgeschichten kleine, naseweise Kinder das Fürchten lehren, während sie sich selbst eins ins Fäustchen lachen, weil sie ihre eigene Prüfung lebendig hinter sich gebracht haben, während diese Kinder nun offenen Auges und Mundes erschrocken in ihre eigene, grausige Zukunft starren.
Und die Moral von der Geschicht:
Trotz Spuk aus jeder Windrichtung,
es ist nicht eure Hinrichtung.
Es knackt, es schnalzt, es tötet nicht.
ps.: Wer leckere Rezepte für bröckchenlose Suppen, Breichen oder Müschen für mich hat, gerne immer her damit! Ich kann’s die nächsten Wochen sicher brauchen. Ach ja, und wenn jemand eine Idee hat, wie man gleichzeitig tippen und zwei Wangen kühlen kann, bin ich auch ein dankbarer Abnehmer.
pps.: Ich weiß, dass einige ihre OP schlimmer getroffen hat als mich, aber ich hab es mir deshalb immer schlimmer vorgestellt, als es letztlich war und mir vor dem Eingriff fast ins Hemd gemacht. Mit meiner Geschichte möchte ich all jenen Mut machen, die dieses schwierige Kapitel noch vor sich haben. Sooo schlimm ist es gar nicht!