Archiv für April 2010

Probleme der Transkription

Dienstag, 13. April 2010

Während des Abgleichs der Originalnotation der vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“ (F-Pn fr. 146) mit der modernen Transkription Tischlers [„The Monophonic Songs in the ‚Roman de Fauvel'“, 1991] bin ich auf eine spannende Problematik der Übertragung frankonischer Mensuralnotation gestoßen. Im 2. Versikel des 4. Lais („En ce douce temps de mai“) folgen zwei einzelne Breven (B) einem punctum divisionis, dann kommt eine Conjunctura mit einer Brevis (B) und zwei Semibreven (SS), anschließend folgen wieder zwei einzelne Breven und letzthin steht eine Longa (L) mit Pause.

Tischler überträgt hier im 6/8-Takt eine Achtel und eine Viertel für die zwei ersten Breven, dann drei Achtel für die Conjunctura, dann wieder eine Achtel und eine Viertel und am Ende eine Viertel mit Achtelpause. Auffällig ist, dass Tischler sich trotz perfekten Modus‘ und abwesender Divisionspunkte innerhalb der Folge für eine Paarigkeit der Breven entscheidet. Das führt einerseits dazu, dass er die jeweils zweite Brevis von einem tempus auf zwei tempora alterieren muß, um die Perfektion zu vollenden. Andererseits muß er nach demselben Prinzip das Semibrevispaar in der Conjunctura, das insgesamt eigentlich den Wert einer Brevis recta (1 tempus) hätte, ebenfalls auf zwei tempora alterieren.

Es scheint, als wolle Tischler an dieser Stelle die Ligatur (conjunctura) unbedingt in eine eigene Perfektion zwängen, obwohl er an anderen Stellen die Aufteilung einer Ligatur auf verschiedene Perfektionen durchaus zuläßt. Die Ligatur an dieser Stelle zu teilen, würde durchaus eine sinnvolle (vielleicht sogar sinnvollere) Transkription ergeben. Die Notenfolge BB BSS BB L im Original kann m.E. auch ohne weiteres als BBB SSBB L aufgefaßt werden. In diesem Falle würde ich im 6/8-Takt drei Achtel, zwei Sechzehntel (bzw. kurz/lang, lang/kur bei perfektem Tempus), zwei Achtel und eine Viertel mit Achtelpause übertragen. Um vollständige Perfektionen zu erhalten, müße man also nicht die Breven, bzw. das Semibrevispaar alterieren, sondern lediglich die Ligatur auf zwei verschiedene Perfektionen aufteilen.

Da Tischler aber auch an anderen Stellen das Aufteilen von Ligaturen, wenn es irgendmöglich ist, vermeidet, bin ich mir mit dieser Lösung unsicher. Ich weiß nicht, ob es eine stille Regel irgendeines zeitgenössischen Theoretikers gibt, die besagt, dass eine Ligatur immer als innerhalb einer Perfektion gelegen betrachtet werden muß. Ich weiß auch nicht, ob die Semibrevis in dieser Zeit lediglich als Teilwert der Brevis recta oder auch als Teilwert der Brevis altera begriffen wurde. Ist die Teilung einer Ligatur gerechtfertigt, ist die Alteration eines Semibrevispaares gerechtfertigt? Und wenn eine Auflösung ohne einen dieser beiden „Tricks“ nicht möglich ist, für welchen entscheide ich mich dann?

Tischler entscheidet offenbar zugunsten der Alteration. Ich würde wohl zugunsten der Aufteilung der Ligatur auf verschiedene Perfektionen entscheiden. Zumal der rhythmische Sachverhalt, den Tischler überträgt (12 111 12 3) auch sehr einleuchtend mit einer Brevis-Ternaria hätte fixiert werden können. Der mittelalterliche Schreiber konnte sich ja auch nicht aussuchen, an welcher Stelle er Ligaturen setzt, sondern nur welche Ligaturen er setzt. Wenn eben ein Melisma über die Perfektion hinaus geht, warum sollte man dann keine Ligatur schreiben? Dass eine zeitgenössische Regel, in Ligaturen zu binden, was irgendmöglich in Ligaturen zu binden ist, existierte, ist in der Fachwelt bekannt.

Um hierüber mehr Klarheit zu bekommen, müßte ich mir mehrstimmige Stücke in schwarzer Mensuralnotation heraussuchen und schauen, ob sich an ähnlich verzwickten Passagen bei der Teilung von Ligaturen oder der Alteration von Semibrevispaaren die sinnvollere Mehrstimmigkeit ergibt. Leider fehlt mir dafür momentan die Zeit und leider (oder charakteristischerweise) sind die Lais im „Roman de Fauvel“ einstimmig. Deshalb werde ich diese spezielle Frage wohl auch eher nicht in meiner aktuellen Arbeit zu Stil und Rhythmus der vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“ behandeln.

#update: Mir fällt gerade ein, dass es ja durchaus auch Ligaturen gibt, die insgesamt länger als eine Perfektion sind und die schon allein deshalb geteilt werden müssen. Allerdings beziehe ich mich dabei eher auf Ligaturen, an denen nur Longae und Brevis beteiligt sind.

Kollateralschäden – collateralmurder.com

Montag, 05. April 2010

Collateral Murder

Nachdem im „internationalen bewaffneten Konflikt“ in Afghanistan nun drei deutsche Soldaten „für das Vaterland gefallen“ sind, erlaubt Verteidigungsminister Guttenberg endlich den Gebrauch des unschönen und tabuisierten Begriffs „Krieg“ in der Umgangssprache (s. Kriegsrhetorik mit Widersprüchen). „Friedensmission“ war auch so ein Euphemismus, den wir uns lange anhören mußten.

Was die „Koalition der Willigen“ 2003 im Irak begann, war aber ein Krieg, ein Präventivkrieg sogar, der mit der akuten Bedrohung begründet wurde, die vom Irak ausgehe. Am 12. Juli 2007 wurden dort zwei Reuters-Journalisten und neun bis 14 weitere Zivilisten, darunter wohl auch zwei Kinder von US-Militärs aus einem Hubschrauber heraus angegriffen und getötet. Die Whistleblower-Seite WikiLeaks hat heute während einer Pressekonferenz in Washington ein entsprechendes Video veröffentlicht, das die Bluttat dokumentiert. Trotz seiner Brisanz hat es diese Story bisher nicht in die Mainstreampresse geschafft. Bevor sie totgeschwiegen wird, blogge ich sie hier lieber. Vielleicht wollt ihr das ja auch tun.

Reuters hatte nach dem Vorfall 2007 mehrfach erfolglos versucht, über den Freedom of Information Act (FOIA) an den Videomitschnitt des US-Militärs zu gelangen (s. Reuters seeks US army video of staff killed in Iraq). 2007 hatte bereits die New York Times über den Angriff und die Tätung der Journalisten berichtet (s. 2 Iraqi Journalists Killed as U.S. Forces Clash With Militias). Das US-Militär behauptete zunächst, nichts mit dem Angriff zu tun zu haben und sagte später, es habe sich um bewaffnete, shiitische Milizen gehandelt. Das auf Wikileaks veröffentlichte Video zeigt aber deutlich, dass es sich um unbewaffnete Zivilisten handelte. Im Audiostream, einem im Video transkribierten Mitschnitt des Funkverkehrs der Militärs, sind zudem abschätzige, unterkühlte und gehässige Kommentare der US-Soldaten, sowie Gelächter über die Situation zu vernehmen.

Das Video sowie dazugehörige Dokumente können unter http://collateralmurder.com abgerufen werden. Vorsicht, es ist wirklich bedrückendes und erschütterndes Material.

Update #1: 6.4.10, 10:30 Uhr

Wir hatten gehofft, wenigstens heute Morgen Berichterstattung in der deutschen Mainstreampresse zu finden. Aber außer der Frankfurter Rundschau, dem Handelsblatt und ein paar kleineren Medien hat es hierzulande keine Redaktion für wichtig erachtet, das Thema aufzugreifen. Schließlich geht es ja nicht um uns! Qualitätsjournalismus.

In den USA gab es Berichterstattung seit den frühen Abendstunden: AP, MSNBC, NYTimes und die englischen Mirror und Guardian brachten Beiträge. Aber insgesamt bleibt es viel zu ruhig angesichts des Inhalts des Videos.

Update #2: 6.4.10, 13:20 Uhr

Die Sueddeutsche ist das erste größere, deutsche Blatt, das etwas zu dem Video bringt (s. Video zeigt US-Soldaten bei Blutbad an Zivilisten).

Update #3: 7.4.10, 01:10 Uhr

Also im Verlaufe des Tages sind dann auch die deutschsprachigen Medien noch aus dem Osterurlaub zurückgekommen und haben über das Video berichtet. Es gab sogar einen Bericht in der Tagesschau vom 6.4.: s. Tagesschau über Wikileaks.