Essay: Zwei ungleiche Paare
Der Begriff Prosa wird heutzutage sehr schwammig gebraucht, weil er, der eigentlich die Form einer literarischen Sprache beschreibt, als Sammelbegriff für eine bestimmte Textgattung gebraucht wird, nämlich die epische, die heute allen voran durch den Roman vertreten ist. Romane sind heutzutage vorrangig in Prosaform abgefaßt, weshalb diese begriffliche Umdeutung nicht jedem so sehr aufstößt, wie mir. Ich spreche mich in diesem Essay gegen den schwammigen Gebrauch dieses Begriffs aus, weil er die Kreativität des Literaten schon im Kopf beschränkt und ihn glauben macht, ein Roman dürfe nicht auch in reimenden Versen abgefaßt sein, was in früheren Zeiten aber durchaus üblich war.
Zwei ungleiche Paare
Von der Absurdität der Gegensatzpaare “Lyrik-Prosa” und “Epik-Metrik”
Immer wieder hört und liest man von Autoren, die nicht nur Lyrik schreiben, sondern auch Prosa und ich muß mich über solche Aussagen wundern. Oft vermeinen Dichter auch, sich mit dem Argument “Gedichte müssen nicht metrisch sein” verteidigen zu können, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Texte eher episch seien und dies wundert mich noch mehr.
Für mich ist aus solch unsensiblen Formulierungen vorallem eines sehr deutlich zu erkennen, nämlich der Fakt, dass die Äußerer solcher Reden nicht begriffen haben, dass die Worte “Lyrik” und “Prosa” oder auch “Epik” und “Metrik” zwei grundlegend unterschiedlichen Bestimmungskategorien entspringen und keine Gegensatzpaare sind. Deshalb erscheint in einem Satz, wie “Ich lese gerne Lyrik, aber auch Prosa”, das “aber auch” völlig absurd und überflüssig. Ich möchte erklären, warum.
Heutzutage zählt ein Roman zu den Prosaformen. Das war aber nicht immer so. Im Mittelalter waren Romane z.B. in Versen verfasst, also metrisch. Was aber seitdem immer gleich geblieben ist, ist der Fakt, dass der Roman eine grundlegend epische Gattung ist, selbst wenn er von einem Erzähler in der ersten Person erzählt wird.
Ein ähnliches Beispiel lässt sich für das Gedicht festmachen. Selbiges war früher nämlich eher metrisch, aber seit Baudelaires “Spleen de Paris” hat sich auch der vers libre in zunehmendem Maße für das Gedicht etabliert, weshalb es heutzutage auch prosaisch sein kann. Das ändert aber noch lange nichts daran, dass es tendenziell eher Gefäß lyrischer Darstellung ist, selbst wenn es von einem Sprecher in der dritten Person “erzählt” wird.
Was bedeutet das? Das bedeutet ganz einfach, dass das Gegensatzpaar nicht Lyrik-Prosa oder Epik-Metrik lautet, sondern allenfalls Prosa-Metrik und Lyrik-Epik. Beschrieben werden durch diese Begriffe völlig unterschiedliche poetische Aspekte und auch hier sind die Grenzen mal wieder fließend.
Mit den Begriffen “metrisch” und “prosaisch” (es gibt auch ein Zwischending, die sogenannte “rhetorische Periode”) wird der Fakt beschrieben, dass ein Text entweder in Versen abgefasst ist oder eben nicht. Ein Vers ist eine relativ klar definierte metrische Einheit, die auf der lautlichen Organisation der Sprache beruht. Die ihn begründenden Phänomene, wie regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, systematische Anordnung von Gleichklangsphänomenen (z.B. Reime und Assonanzen), Pausen und Zäsuren, sind Aspekte der Phonetik, also der Klangwirkung von Sprache. Auch ein prosaischer Satz enthält solche Klangphänomene, weil sie Teil der Sprache sind, aber im Unterschied zu einem metrischen Satz, folgen diese Klangphänomene beim prosaischen Satz keinem regelmäßig wiederkehrenden Muster.
Nichts über die Klangwirkung von Sprache sagen hingegen die Begriffe “lyrisch” und “episch” aus. Diese beschreiben nämlich “nur” die poetische Gattung, der ein Text angehört. Laut griechischer Ansicht, die trotz ihres Alters durchaus nicht dumm erscheint, gibt es davon (mindestens) drei – Lyrik, Epik und Dramatik.
Dabei unterscheiden sich die Genres nicht in ihrer poetischen Funktion, sondern in der dem Poetischen untergeordneten Hierarchie der sonstigen sprachlichen Funktionen. “In der epischen Dichtung, die sich an der dritten Person orientiert, kommt besonders die referentielle Funktion der Sprache zum Zuge; Lyrik, die sich an die erste Person richtet, ist eng mit der emotiven Funktion verbunden […]”, schreibt Roman Jakobson in seinem berühmten Essay “Liguistik und Poetik” und weist damit auf subtile, aber entscheidende Unterschiede sprachlicher Darstellungsformen hin. Die Hierarchie in epischer Dichtung ist also poetisch-referetiell, die in lyrischer Dichtung poetisch-emotiv.
Dies bezeichnet freilich nur Tendenzen poetischer Phänomene, aber Tendenzen, denen man sich zumindest als Dichter bewusst sein sollte. Ein Text kann Elemente aller drei Gattungen aufweisen, wie z.B. die Ballade. Ebenso kann ein epischer Text metrisch sein, wie z.B. das Epos oder ein lyrischer Text prosaisch, wie z.B. Gedichte im vers libre.
Einen poetischen Text also metrisch oder prosaisch zu nennen hat nichts damit zu tun, ob er sich lyrisch, episch oder vielleicht gar dramatisch präsentiert. Die Gattungsorientierung eines Textes ist unabhängig von seiner klanglichen Struktur. Das ist also der Grund, warum ein Satz wie “Ich schreibe Lyrik, aber auch Prosa” absurd ist. Wenn, dann sollte es doch zumindest lauten: “Ich schreibe Lyrik, aber auch Epik.” Oder aber: “Ich schreibe metrisch, aber auch prosaisch.”
Jul. 2005