Das Auge erkennt den Vers
Seit ich angefangen habe, mich in Zusammenhang mit meinem kommenden Buch ernsthaft mit dem Layout von Gedichten zu befassen, geht mir ein Zitat Wolfgang Kaysers nicht mehr aus dem Kopf. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind”, heißt es da. “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.”
Jedem, der sich mit der Materie eingehender befaßt hat, sollte klar sein, dass es voreilig wäre, dies als Dummschwätzerei zu verwerfen. Denn es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass das visuelle Erscheinungsbild eines Textes Einfluß auf das Rezeptionsverhalten des Lesers hat. Sieht dieser nämlich Text mit zahlreichen, frühzeitig erzwungen Zeilenumbrüchen, so ordnet er ihn zunächst einmal pauschal der Kategorie Gedicht zu.
Dass er das tut, ist eine Frage der Gewohnheit. Denn es ist heute üblich, Gedichte in der oben beschriebenen Form zu präsentieren, sofern dies auf schriftlichem Wege geschieht.
Das war aber nicht immer so. Als Gedichte noch primär über das Ohr rezipiert wurden, war es nicht nötig, ihre Verse für das Auge zu gestalten. Metrische Rhythmen, Reimfolgen, Zäsuren und Kadenzen, all das, was die Verstruktur ausmachte, war (und ist) ja hörbar. Zudem war der Beschreibstoff, das aus Tierhaut gefertigte Pergament, wertvoll und teuer. Ein verschwenderisches Layout wäre undenkbar gewesen. Verse wurden deshalb im Fließtext, also hintereinander weg wie heute bspw. ein Roman oder eine Kurzgeschichte notiert. Zur Orientierung des Lesers dienten lediglich Reimpunkte.
Als aber das stille Lesen prominenter wurde, wollte man die hörbare Struktur der gebundenen Verse auch optisch vernehmbar machen. Also gliederte man den Text auf dem Papier so, dass jeder Vers eine eigene Zeile bekam und zwischen jeder Versperiode (Strophe) ließ man eine Leerzeile. Dadurch entstand das typische Gedichtlayout mit den zu Gruppen zusammengefaßten, umgbrochenen Zeilen.
In der Folge dessen erlebte das graphische Layout eine regelrechte Emanzipation. Stephan Mallarmé, ein französischer Symbolist, ließ in seinem Gedicht “Un coup de dés” (Ein Würfelwurf) die Verse erstmals in Kaskaden über das Papier springen und erhob die Graphik damit zum poetischen Element. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den Figurengedichten der Dadaisten und auch innerhalb der konkreten Poesie nimmt sie seit den 1950gern einen nicht unwesentlichen Stellewert ein.
Heute geht es beim Gedichtlayout in den seltensten Fällen darum, dem Auge die lautlichen Strukturen einer Versdichtung zu erkennen zu geben, zumal sich die wenigsten Verse heute noch durch Metrum und Reim auszeichnen. Die Graphik selbs wird zum Träger poetischer Inhalte und bietet der Dichtung damit neue, grenzüberschreitende Perspektiven.
Nun könnte man annehmen, diese Entwicklung hätte zu individuelleren und facettenreicheren Gedichtlayouts geführt. Dennoch halten Verfassser heute überwiegend am “klassischen” Layout mit umgebrochenen Zeilen und Leerzeilen fest. Und dies seltsamerweise sogar dann, wenn ihre Verse gar keine Reime und Metren aufweisen und durch die Anordnung der Worte im Raum gar keine poetischen Inhalte transportiert werden sollen. Welchen Zweck hat es da noch, Prosagedichte klassisch zu gliedern?
Antwort auf diese Frage gibt Wolfgang Kayser mit dem oben angeführten Zitat: “Wenn auf einer Seite um das Geschriebene herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.” Der Vers ist nicht mehr Vers, weil er mit Sprache spielt und ihre Symbolhaftigkeit erkennt, sondern weil er wie ein Vers aussieht. Es ist so, weil es so zu sein scheint; das Layout ist zur Etikettierung geworden. Der Zeilenumbruch erfüllt den Zweck, einen beliebigen Text zum Gedcht zu machen. “Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind.”