„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, mahnt Bertolt Brecht gegen das Vergessen deutscher Kriegsverbrechen. Beinahe in Vergessenheit geraten ist auch Paul Dessaus „Deutsches Miserere“, dem dieser Text entstammt. Das reich orchestrierte Oratorium, das 28 Epigramme der Brechtschen „Kriegsfibel“ in facettenreichen musikalischen Tableaux vertont, wurde bisher nur vier Mal aufgeführt. Am 5. März 2010 wird es um 20:00 Uhr im Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt unter Organisation und Mitwirkung der Berliner Singakademie und unter Leitung Achim Zimmermanns ein fünftes Mal auf einer deutschen Konzertbühne erklingen. Die 28 Bilder der „Kriegsfibel“ werden dazu von Maxim Dessau auf eine Leinwand über der Bühne projiziert. Gegen das Vergessen: Karten an den Abendkassen und im Vorverkauf an den Theaterkassen, unter 030 – 20309-2101 oder online unter www.berliner-singakademie.de oder für Freunde mit 30% Ermäßigung auf die oberen drei Preiskategorien auch bei mir persönlich zur Bestellung.
Deutsches Miserere ~ Paul Dessau
Freitag, 05.03.2010, 20:00 Uhr
Konzerthaus Berlin, Großer Saal
(ehem. Schauspielhaus am Gendarmenmarkt)
Martina Rüping, Sopran
Annette Markert, Alt
Thomas Volle, Tenor
Egbert Junghanns,Bass
Maxim Dessau, Videoprojektion
Berliner Singakademie
Berliner Mozart-Kinderchor und Berliner Mozartini
Konzerthausorchester Berlin
Leitung: Achim Zimmermann
Um 19:00 Uhr am selben Tag findet im Musikklub ein Einführungsvortrag von Prof. Dr. Frank Schneider statt. Dr. Schneider ist Musikwissenschaftler und ehemaliger Intendant des Konzerthauses Berlin.
Gegen das Vergessen – Konzerteinführung
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, mahnt Bertolt Brecht gegen das Vergessen und Verdrängen deutscher Kriegsverbrechen – ein Verdrängen, das in der Rezeption des „Deutschen Miserere“ von Paul Dessau (1894 – 1979) noch heute seinen traurigen Ausdruck findet. Das oratorische Werk, welches Epigramme aus Brechts „Kriegsfibel“ vertont, die Projektion der dazugehörigen Fotografien vorsieht und groß und facettenreich orchestriert ist, wurde insgesamt nur viermal aufgeführt. Eine Tonträger-Aufnahme existiert bis heute nicht.
Bereits 1942 trat Dessau mit der Bitte um Textmaterial an den von ihm bewunderten Dichter Brecht heran. Beide Künstler befanden sich im amerikanischen Exil, eine Niederlage Nazideutschlands gegen die alliierten Streitkräfte war nach Stalingrad bereits absehbar, und in der gemeinsamen Hoffnung auf ein befreites, demokratisches und sozialistisches Deutschland entstand 1947 ein „Deutsches Miserere“, das erste große Gemeinschaftsprojekt Brechts und Dessaus.
Obwohl Brecht nahezu keine neue Zeile für das „Deutsche Miserere“ schrieb, griff er mit seiner Kunstauffassung stark in die Komposition und deren Dramaturgie ein. Die Musik sollte immer dem Text dienen und nie sich selbst genügen. Dessau, der von diesem Ideal einerseits fasziniert war, andererseits aber auch Bewunderung für Arnold Schönberg und die Zwölftonmusik, eine höchst artifizielle Kompositionstechnik, empfand, probierte den Spagat. Auf der einen Seite steht die fast eisige Diktion der Brechtschen Epigramme durch Frauen-, Männer- und Kinderstimmen, auf der anderen Seite werden Cluster und Klangteppiche eines üppigen Orchesters beigemischt. Je 24 Bratschen, Celli und Kontrabässe, reichlich Bläser, darunter ein Heckelphon (ein oboen-ähnliches Holzblasinstrument) sowie ein Trautonium (ein Vorläufer des heutigen Synthesizers) gehören zur Besetzung. Selten erklingt das Ensemble jedoch in Gemeinschaft, jedes der 28 Bilder ist unterschiedlich besetzt und auch in der Dessauschen Dodekaphonie herrscht keine strenge Systematik. Dennoch wird der Zuhörer und -schauer zu keinem Zeitpunkt in Heiterkeit entlassen, sondern durch die Texte, die Musik und die Projektion der Kriegsbilder stets appellierend herausgefordert.
In den USA wurde das „Deutsche Miserere“ nie aufgeführt. „Denn es geht uns an, unsere Entwicklung, unser Elend und unser Weiterkommen“, wird Dessau selbst dazu zitiert. Doch auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1948 wurde das Oratorium nur selten gespielt (UA 1966 in Leipzig). Denn einerseits waren die Aufführungen durch die vorgesehene Ausstattung teuer und aufwendig, andererseits sorgte Dessaus Ambivalenz zwischen Kunst und Ideologie auch in seiner neuen Wahlheimat, der DDR, für Probleme. Seine Bewunderung für Arnold Schönberg und die Benutzung der Zwölftonmusik in seinen Kompositionen wurde mit Argwohn betrachtet und brachte ihm viel Kritik von offiziellen Stellen ein. Dessau wurde zwar mit staatlichen Auszeichnungen überhäuft, aber oft auch durch Nichtaufführung seiner Werke übergangen. Deshalb verwehrte er sich gegen die Vereinnahmung seiner Person durch den Staat und bewahrte sich zeitlebens eine kritische Haltung.
Auch 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung hat das „Deutsche Miserere“ nicht an erschütternder Brisanz verloren. „Der Schoß ist fruchtbar noch“: Noch immer existiert nationalsozialistisches Gedankengut in deutschen Köpfen, noch immer werden Auschwitz und andere Bühnen deutscher Kriegsverbrechen geleugnet und noch immer ist der deutsche Gehorsam, der blind für Unterdrückung, Ausbeutung und Manipulation ist, charakteristisch. Ohne die zahlreichen Menschen, die Hitler und seiner faschistischen Ideologie gefolgt sind, wäre Nazideutschland undenkbar gewesen und auch jetzt noch muss gegen dieses Vergessen gekämpft werden.
Die Aufführung des „Deutschen Miserere“ am 5. März 2010 im Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt wird insgesamt die fünfte sein. Unter der Leitung Achim Zimmermanns werden um 20:00 Uhr im Großen Saal die Berliner Singakademie, das Konzerthausorchester, der Berliner Mozart-Kinderchor, die Berliner Mozartini und namhafte Solisten Dessaus Oratorium auf der Bühne darbieten. Mit der Projektion der Bilder aus der „Kriegsfibel“ von Bertolt Brecht ist der Filmregisseur und Sohn Dessaus, Maxim Dessau, betraut.
Claudia Furtner
i. A. der Berliner Singakademie e.V.