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Vom Riechen, Sehen, Hören und Fühlen im Sommer

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev26.mp3]
Vom Riechen, Sehen, Hören und Fühlen im Sommer

In der größten Mittagshitze
(Düfte süßlich, wie Lakritze)
fährt ein leises Zittern durch die Äste.
Still und schnell, wie ungebetne Gäste,
die mit Diebestrieben in das Haus gedrungen,
ziehen Wolken auf und Luft drückt auf die Lungen.

Und die sturmgefärbten Wolkenformationen
quellen, um die Phantasien zu erproben,
morphen Fabelwesen, die, bizarr verwoben,
wabern zu den Klängen meiner Illusionen.

Da! es zuckt der erste Blitz durch das Gewühle,
grell, doch stumm, der Bote nahender Gewalten,
die sich leuchtend, flackernd himmelwärts entfalten –
Und von oben bricht hervor die nasse Kühle.

Wie aus Eimern schüttet nun der schwere Regen.
Bäche rinnen stürzend von den grünen Blättern.
Hinterm Rauschen hört man Donnerschläge schmettern,
bis die Stürme sich erschöpft zur Ruhe legen

Und die Sonnenstrahlen ihre Wege winden,
sich zu roten, gelben, blauen Bögen finden,
uns an unsern Nasenspitzen kitzeln,
spiegelnd Blitze in die Pfützen kritzeln,
wenn wir, um die Luft zu riechen,
wieder aus den Höhlen kriechen.

XXVI | Aug. 2005

Update vom 24.10.2011

Zur Entstehung

Es ist erstaunlich, ich lese diesen über sechs Jahre alten Text von mir heute wieder und mir läuft es kalt den Rücken runter. Synästhesie und Onomatopoeisis sind phantastische Stilmittel, sie entfalten eine enorme Wirkung, selbst wenn man einen Text selbst verfaßt hat, was ja immer noch mal etwas Anderes ist. Ich kann mich nicht mehr an den genauen Entstehungsprozess dieses Gedichtes erinnern, ich erinnere mich jedoch genau an das Sommergewitter, welches ich hier beschreibe. Es war 2005 in Holland auf einer großen Wiese, auf der die internationale Hackerelite ein Camp namens „What the Hack“ veranstaltete. Später wurde diese Veranstaltung „Waht the rain“ getauft, denn dieses Wetter war charakteristisch dafür. Aber es waren großartige Gewitter, die wir dort erlebten, mit orange gefärbten, dicken Quellwolken und einem ganz besonderen Licht. Ich habe versucht, diese besondere Atmosphäre auf allen Sinneskanälen abzubilden und darauf ja auch im Titel hingewiesen. Dies ist quasi ein Lehrgedicht für das Stilmittel der Synästhesie und wurde m.E. auch von einem Deutschlehrer, der seine Schüler darauf losließ, mal so bezeichnet.

Die große Wirkung entfaltet sich aber nicht dadurch, das alles Sinnesorgane und -eindrücke mal genannt werden, sondern in erster Linie durch die phonetischen Farb- und Form-Analogien, dunkle gegenüber hellen Vokalen, runde gegenüber spitzen Konsonanten. Dass Phoneme Farben und Formen haben, ist kein Problem pathologischer Synästhetiker. Jeder Mensch kann sie so wahrnehmen, weshalb auch jeder Mensch weiß, dass „Buba“ rund, „Kiki“ spitz, „moop“ dunkel und „miep“ hell ist. Das ist geradezu onomatopoetisch, der Klang des Wortes ahmt die Form, die Farbe, den Naturklang seines Referenten nach. Vilayanur Ramachandran hat sich als Neurologe mit der Synästhesie befaßt und ist zu sehr interessanten Erkenntnissen darüber gekommen, wie unser Gehirn funktioniert. Die Fähigkeit, Analogien zu bilden, ja, Metaphern und sonstige analogiebasierte Tropen zu verstehen, scheint in unseren Gehirnen hart-kodiert zu sein. Mich als Sprachkünstler ganz bewußt dieser synästhetischen Wirkungen der Vokale und Konsonanten zu bedienen, ist, als würde ich euch die Atmosphäre des Gewitters direkt ins Gehirn reinmalen.

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An dem Lindenbaum

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev25.mp3]

An dem Lindenbaum, in dessen Schatten ich die Glieder dehn,
will ich ausgestreckt dem Klang der Brise lauschen.
„Klack-klack“ machen Äste und die Blätter rauschen.

„Klack-klack“ machen Schuhe junger Mädchen, die vorüber gehn,
an dem Lindenbaum, in dessen Schatten ich die Glieder dehn.

Wie die Sommerlüfte unter ihre kurzen Röcke wehn,
frech und frei die leichten Seidenstoffe bauschen,
dass am Rande Träumer heimlich Blicke tauschen,

an dem Lindenbaum, in dessen Schatten ich die Glieder dehn,
wo wir ausgestreckt dem Klang der Brise lauschen.
„Klack-klack“ machen Äste und die Blätter rauschen.

XXV | Jun. 2005

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Kaleidoskop

Donnerstag, 10. Mai 2007

Kaleidoskop

Da das Gedicht u.a. graphisch realisiert ist, biete ich es hier bisher nur als PDF und MP3 zum Download an. Die Idee, dass der Text zwar strophische Gliederung, aber weder Anfang, noch Ende hat, realisiere ich unterschiedlich. In der Audioaufnahme wird ein- und ausgeblendet, während ich mich im Print für eine sternförmige Anordnung entschieden habe. Ich könnte mir für die Onlinepräsentation eine scrollende endlos Textanimation (flash, javascript, php) gut vorstellen, habe aber bisher zu wenig Scriptingerfahrung, um das ad hoc umzusetzen, bzw. in dieses System einzubinden. Falls sich jemand mit Programmiererfahrung berufen fühlt, mir dabei zu helfen, würde ich mich wirklich riesig freuen. Mail mir einfach: lev[AT]abgedichtet[DOT]org!

Download PDF

Audio

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Zur Entstehung

Dies ist das Gedicht mit der längstens Entstehungszeit. Eine Überprüfung meiner datierten Aufzeichnungen dazu ergab knapp ein Jahr Arbeitszeit von April 2004, als ich erste Ideen hierzu niederschrieb, bis April 2005 als ich endlich den Abschluß der letzten Ausbesserungen vermelden konnte. Ein Jahr lang marterte dieses Projekt mein Hirn und dementsprechend weich machte es es.

Verzaubert von den Eindrücken, die der in Trance versetzende Blick in ein Kaleidoskop bietet, kam mir der irre Gedanke, ein Gedicht in Form des Bildes in einem Kaleidoskop zu verfassen. Aber welche Form hat ein Kaleidos? Zunächst fällt mir dazu eine bis ins Unendliche gespiegelte, musterbildende Symmetrie ein, in der schon eine Perle ein Netz aus zyklischen Wiederholungen spinnt. Dann denke ich an ein gleichseitiges Dreieck aus Spiegeln, ein Prisma, das das Sonnenlicht reflektiert und tausend, tanzende Farben daraus generiert. Ich dachte an eine mathematisch ausgewogene Form sprachlicher Geometrie. Ich hatte mir Flächen aus sternförmig angeordneten Hexaedern und den Weg der Spiegelungen zu komplexen Mustern aufgezeichnet und wußte, dass sich alles vom Kleinen ins Große selbst wiederholen mußte. Aber wie sprachlich umsetzen, mit welchen Inhalten füllen?

Mir standen die Möglichkeiten des metrischen Versbaus zur Verfügung. Ich wollte keine Endreime, die wären zu vordergründig, aber doch irgendeine Möglichkeit eine Symmetrie der Versenden und -anfänge wahrzunehmen, eben eine Strophengestaltung und schon dies war die Arbeit mehrerer Monate, die von mir gewählten Zahlen und Maße durch metrische Elemente wiederzugeben. Welche und wie geordnet, war die Frage. Als ich endlich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, reichte es mir nicht. Ich wollte die kaleidoskopische Form auch auf semantischer Ebene widerspiegeln, was mich in Richtung der inhaltlichen Idee brachte, hier einen von harmonischen Mustern geprägten Kosmos zu beschreiben. Es fehlte mir schmerzlich die grammatische Ebene, die ich plötzlich am treffendsten durch das Apokoinou realisiert sah. Ich hatte mich in „Odeur“ erstmals daran probiert und seine fließende Wirkung schätzen gelernt. Ich baute mir also eine Grammatik, die keine klaren Konturen hatte, aber sich in einer endlos Schleife immer wieder aus sich selbst generiert und fließend ineinander übergeht.

Der graphischen Formalisierungsebene immer skeptisch gegenüberstehend, hatte ich daran zunächst gar nicht gedacht. Doch Uni-Kurse zur modernen Lyrik hatten in diesem Zusammenhang plötzlich auch diese Möglichkeit attraktiv gemacht. Wenn ich schon ein Gedicht schreibe, das keinen Anfang und kein Ende hat, sondern ein fortwährendes Muster aus sich in der Wiederholung selbst immer neu generierenden Elementen ist, dürfte es auch auf dem Blatt keinen linear zu lesenden Text geben und also gefiel mir die kreisrunde Anordnung. Erst als sich das Ausmaß der Gestaltung in einem Gesamtplan für mich abspiegelte, konnte ich mich wirklich an eine Textarbeit machen und die ging dann verhältnismäßig zügig von statten.

Sicher wird niemand je das bei dem Text empfinden, was er für mich nach wir vor bedeutet. Man wird sich mit der inhaltlichen Deutung schwertun, die Grammatik nicht nachvollziehen können, die Systematisierung der Sprache im großen und ganzen als unangenehm gekünstelt empfinden und vergeblich nach dem Muster suchen, das sich unfaßbar, aber omnipräsent im Hintergrund verbirgt. Und gerade darin liegt für mich die Wahrheit dieses Textes, der selbst ein Kaleidos dessen ist, was er wiederzugeben versucht.

Odeur

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev23.mp3]
Odeur

Mit nackten Armen und zur Hand Lektüre,
in die dein Geist sich innig schon verwoben,
auf einem Stuhl, im Haar des Windes Welle,
sitzt du im Sonnenlicht fällt ein von oben
und ahnst nicht, dass ich dich sogleich verführe.

Von schräg erspäh ich dich in dieser Pose
und schleiche leise, unbemerkt im Bogen
von hinten mich an die begehrte Stelle,
als hätte ich dich lange schon betrogen,
du, meine ungeliebte Ahnungslose.

Dein Atem geht und saugt für die Sekunde
der nahen Innigkeit vertraute Düfte.
Kaskaden ungebremster Wasserfälle
entschweben giftig in die schweren Lüfte
und öffnen wieder die vernarbte Wunde.

XXIII | Apr. 2005

Zur Entstehungsgeschichte

Dies ist wieder einer der Texte, die relativ rasch und spontan entstanden sind. Die Idee dazu kam wir während einer Chorprobe. Meine alte Liebe, ja, genau die, die mich damals zum ernsthaften Dichten gebracht hat, ging von hinten an mir vorrüber und duftete einfach umwerfend. Eigentlich dachte ich, dass ich es wohl inzwischen überstanden hätte, aber dieser Duft versetzte mir instentan einen Stich ins Herz. Mal abgesehen davon, dass ich mich dieser Liebe gegenüber damals natürlich wie ein Idiot verhalten habe, war das mal wieder ein prima Stoff für ein Gedicht, an sich schon lyrisch genug. Ich spann mir noch ein bisschen Umgebung hier, ein bisschen Atmosphäre dort dazu und schwups fertig war das Liebesgedicht.

Na ja, ganz fertig war es noch nicht. Ich war unzufrieden mit dem vierten Vers. Es paßte einfach nicht so, wie ich es sagen wollte, entweder ergab es einen Stilbruch oder eine die Atmosphäre zerstörende Ellipse. Da fiel mir plötzlich ein Stilmittel ein, das ich während der Lektüre lateinischer Dichtung kennengelernt hatte und von dem ich dachte, es müsse wohl auch im Deutschen anwendbar sein. Das Apokoinu macht aus zwei Sätzen anderthalb, indem es zwei gleiche Satzteile einmal in der einen grammatischen Funktion, einmal in der anderen verwendet, ohne das wörtlich Identische erst zweimal hinschreiben zu müssen. Der Effekt, der sich daraus ergab, war atmosphärisch perfekt und alles Wichtige war auch untergebracht. Voilà!

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  • der Text wurde hier erstveröffentlicht
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Götter, es liegen die Klagen mir nicht

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev22.mp3]

Götter, es liegen die Klagen mir nicht. Das Geheische nach Mitleid
   spendet mir keinerlei Trost. Widerlich ist das Gebet.
Ihr gabt uns Freiheit zu denken, zu fühlen, als mündige Wesen
   selbst noch zu lenken das Los unseres Lebensgeschicks.

Doch das Gegebene nutzen nur Wenige, denn es macht Mühe
   schaffend sein Selbst zu befrein. Wer will die Unschuld verliern?

Lange beklagen verzweifelte Menschen das göttliche Fehlen.
   Hoffnungsvoll schauten sie auf, flehten, dass ihr sie erlöst.
Flehten, dass Väter und Mütter sie hätscheln, dass Freunde sie lieben,
   Lehrer sie bilden und, ach, Führer sie führen zum Glück.

Sie sind nicht schuldig an ihrem Gelingen und ihrem Gewissen
   schmeichelt die Träne wie Huld, während sie baden im Leid.

Immer und ewig nur Opfer zu bleiben aus Trägheit, aus Faulheit
   dauerhaft passiv zu sein – fraglich bleibt solch Paradies.
Ich will vom schwindenden Blute noch jeglichen Tropfen genießen,
   will in der tödlichen Stund‘ wissen, ich habe gelebt.

XXII | Mar. 2005

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Der Text wurde hier erstveröffentlicht.

Die Schlange

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev21.mp3]
Die Schlange

Die süße Frucht vom Baume der Erkenntnis pflückend,
   erkennt die nackte Eva sich und ihre Welt.
   Sie sieht, daß das Erstehen das Vergehen hält,
daß reine Blumen welken; grausam und bedrückend.

Da überkommt sie Furcht, den Garten zu verlassen
   und als ihr nackter Gatte, Adam, vor sie tritt,
   da reißt sie ihn an sich und weint und er weint mit,
und beide können ihrer Nähe Glück nicht fassen.

Ich, die Schlange war es, die das Kind verführte,
so daß sie Lasten, Leid und Liebe in sich spürte.

   Ich half dem Mädchen damals, sie half ihrem Mann,
die ganze Fülle dieser Welt bewusst zu sehen
und für die Träume, für die Taten einzustehen.
   Die Schuld trag ich, ihr werdet’s danken – irgendwann.

XXI | Jan. 2005

Zur Entstehung

Die Gnostiker waren von der Unfehlbarkeit Gottes überzeugt, wie jeder gute Christ. Sie folgerten: Wenn Gott aber unfehlbar ist, dann entspricht die Paradiesvertreibung seinem göttlichen Ratschluß, dann müssen Evas Erkenntnis und der daraus folgende Sündenfall sein Wille gewesen sein. Er, der den Apfel zu essen verbot, kann also nicht der wahre Gott gewesen sein – nein, die Schlange war es.

Abgesehen davon, dass ich nicht mehr an Gott glaube als an Peter Pan, entbehrt dieser gnostische Ansatz nicht einer gewissen Logik. Doch jeder halbwegs kritische Mensch wird sich fragen, warum? Warum wollte „Gott“ (oder laßt ihn uns den Verfasser/Mittler dieser Geschichte nennen) warum wollte er, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wird?

Ich habe mir dazu Gedanken gemacht. Nein, in Wirklichkeit war ich irgendwann beim Nachgrübeln auf die Lösung gekommen und bemerkte erst dann, was für eine passende Parabel diese Geschichte ist. Es geht um einen Aspekt, den schon viele vor mir erkannt haben: Milton, Goethe, Blake, Wilde, Sartre. Wenn wir im Paradies leben, wo es keine Probleme gibt, nichts woran unsere Seele Anstoß nehmen könnte, wie langweilig, wie unbewußt leben wir dann vor uns hin! Erst die Erkenntnis (und Eva aß ja vom Baum der Erkenntnis), dass es mit uns und unserer Welt irgendwann ein Ende hat, öffnet uns die Augen und wir erkennen mehr und mehr.

Wir spüren Angst vor dem Verlust. Dass wir den Verlust aber fürchten, läßt uns die Liebe erkennen, die wir für eben jene und jenes hegen, das zu verlieren wir fürchen. Glück und Leid – ein ganzer Pool an Erfahrungen und Emotionen wäre uns verborgen geblieben, hätten wir nicht diese erste Erkenntnis gehabt. Hätte sie uns nie die Augen geöffnet, hielten wir die Welt um uns herum noch immer blind für das Paradies, ähnlich wie es behütete Kinder und naive Menschen auch heute noch tun. Die Paradiesvertreibung war keine Vertreibung von einem Ort, sondern eine metaphorische Vertreibung. Die Erkenntnis offenbare, die Welt um uns, ist kein Paradies.

Wissen ist Macht (z.B. die Macht zu lieben), aber wer mehr weiß, fürchtet auch mehr und damit wohnt ihm eine Ambivalenz bei, die schon Dichter wie Charles Baudelaire oder William Blake inspirierte. Dieses Gedicht ist nun mein Versuch.

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Descendo

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev20.mp3]
Descendo

   Durch dicke Schwaden, die zu Wolken ballen,
die weiße Kleider bis zum Sabbern tränken
und alle Wege in die Tiefe lenken:
   verfluchte Seelen fallen, fallen.

      Sie fall’n herab in schlummerndes Vergessen,
   verlassen ringend die gewohnten Hallen,
   noch während sie – im Fleisch die eignen Krallen –
      ein Jammern durch die Zähne pressen.

         Doch oben ist man taub für ihre Klage,
      denn von den üppigsten Gedecken fressen
      die Würdenträger, feist und wohl bemessen
         und sorglos bis zum jüngsten Tage.

            Ich hasse sie und liebe sie – die Großen,
         erkenne, welche Frucht ich in mir trage,
         daß ich kein Quäntchen aus den Sümpfen rage:
            auch ich – verflucht, verdammt, verstoßen.

               Es klebt der süße Duft vom Weihrauchschwenken
            noch immer fest an Hemden und an Hosen,
            begleitet meinen Fall, den bodenlosen,
               die Seele mir zu kränken, kränken.

XX | Jan. 2005

Zur Entstehung

Wenn ich daran denke, was für mich gemeinhin ein Gedicht ausmacht, dann denke ich nach der Forderung nach höchster poetischer Gebundenheit an seine Lyrizität. Lyrisch zu sein, im Unterschied dazu, episch zu sein, äußert sich ja in der Fähigkeit eines Textes, durch seine Affektgestaltung1 von referentiellen Inhalten freie Emotion im Leser hervorzurufen. Dass es dabei also nicht darum geht, dass der Autor der Öffentlichkeit egoistisch etwas von seinen Gefühlen „erzählt“, dafür ist Descendo ein schönes Beispiel. Ich wollte einmal so richtig schöpfen, eine Emotion nachbauen, die ich zwar kenne, aber die zum Zeitpunkt des Verfassen gerade nicht Teil meiner Selbstwahrnehmung war. Ich wollte etwas Starkes, Überwältigendes, etwas, das man im Theater vielleicht mit den Worten „Charakterrolle“ beschreibt und das gänzlich frei von mir war schaffen, eine dramatische Figur in einer dramatischen Szene. Und ich hatte dabei die fixe Idee, eine kreisrunde Form zu machen (was mir erst in „Kaleidoskop“ wirklich gelungen ist.) Also kam ich zu dieser Idee.

Ich baute mir ein lyrisches Ich, das aus allen Wolken der Selbsterkenntnis in die bodenlose Verzweiflung fällt. Ich baute mir eine für das lyrische Ich schmerzhafte Katharsis, die an der Schein-Sein-Problematik vorbeizieht und zynisch winkt. Ich baute mir Gift („fallen, fallen“) und Bisse („auch ich: verflucht“) in die emphatisch zäsurierte Sprache und ich baute mir teuflische Zirkel in die kaskadierenden Strophen. Und während ich das alles baute, schritt ich keifend, fluchend und stampfend in meiner Kammer auf und ab, um mich in die richtige Stimmung zu versetzen und alle Dramatik korrekt einzufangen. (Was meine Nachbarn sich wohl gedacht haben?) Das war ein Spaß, dessen Ergebnis mich selbst überraschte, denn es entstand dabei ein Text, den ich selbst als einen der exzentrischsten meiner Sammlung bezeichnen würde.

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1. Damit meine ich die Möglichkeit, Sprache durch figurative und sonstige Gestaltung emotiv aufzuladen. Das geht in Richtung barocker Affektenlehre, aber gesamtrhetorisch noch darüber hinaus.

Den Frühling überwinden

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev19.mp3]
Den Frühling überwinden

Ich lag im frühlingsbunten Grase,
   Vöglein sangen,
   Knospen sprangen,
füllten duftend die Oase
meiner Sinne schön.
Ein Gänseblümchen konnt ich pflücken.
   Das mir sachte
   Grüße brachte.
Denn es nickte zum Entzücken
mit dem Köpfchen schön.
      So schön wie seine sanften Augen
         auf mir ruhen, wenn er bei mir weilt,
            da Abschied ihn nicht eilt,    fort zu geh’n und wir uns
         innig, weil es jeden Kummer heilt,
      die Liebe von den Lippen saugen.

Die Augen vor dem Tag verschlossen,
   ihn zu sehen,
   Kopf bis Zehen –
diese kindlich süßen Possen
spiele ich so oft.
So sitz‘ ich in der stillen Kammer,
   Zeit versäumend
   von ihm träumend.
Ach, nur träumend, welch ein Jammer!
Klage ich so oft.
      So oft wie meine eignen Hände
         mich dann fassen, kosen im Gesicht.
            Und dort im Tageslicht    küsse ich die Finger,
         weil Ihn-Küssen Linderung verspricht,
      auch wenn es nur im Traum sich fände.

Es sollte doch die Zeit mit frohen
   Liebesdingen
   der verbringen,
der da liebt. Denn Winter drohen,
eisig kalt und weiß.
Und grausam sind mir diese Tage,
   da ich wissend,
   Frühling missend
ferne Grüße bei mir trage,
von dem Liebsten weiß –
      So weiß, die Lilien, die sich finden,
         mich zu grüßen, einzig zum Verdruß!
            Noch liegt der Abschiedskuß    mir auf meinen Lippen.
         Wie soll ich – bei Gott, da ich nun muß –
      den Frühling jemals überwinden?

XIX | Nov. 2004

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Die Eifersucht des Dichters

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev18.mp3]
Die Eifersucht des Dichters

Ach, Prinzessin, Engelchen, mitnichten
   war ich abgeschreckt – im Gegenteil.
   Als ich dich erblickte traf dein Pfeil,
wild gesandt, direkt in meine Schichten.
Pure Schönheit wollte ich bedichten.
   Du warst ebenbürtig – ich war geil
   deine ros’gen Brüstchen noch derweil
mit den Fingerspitzen zu gewichten.
Und im Wallen deiner Jugend Hitze,
   um mir zu gefallen, färbtest du
   deine weißen Flügelchen im Nu
schwarz und machtest kindlich süße Witze.
   Geistreich führtest du, recht wortgewandt,
   mich hinein ins unentdeckte Land.

Wir belächelten die dummen Grillen
   anderer, die meinten, wir sei’n dreist
   und an unsrer Schönheit, unserm Geist
wollten wir des Herzens Sehnsucht stillen.
Doch im Rausch des Nektars schwand dein Willen.
   Von Erfüllung deiner Lust ganz feist,
   giertest du nach leichtem Glück zumeist,
um an dessen Herrlichkeit zu schwillen.
Nach dir griffen hundert geile Böcke –
   Schönheit sank dahin in Häßlichkeit –
   eilig machtest du die Beine breit
und sie tauchten unter deine Röcke
   als du, von der Dummheit angepißt,
   trotzig sagtest, du seist Egoist.

Ignoranten hast du dich gegeben,
   hast zu ihrer Hure dich gemacht.
   Die erkennen niemals deine Pracht.
Anspruchslos wirst du bei ihnen leben.
   Ihn, der deinem einst’gen Schönheitsstreben
   würdig wäre, ihn hast du verlacht.
   Er verbringt alleine seine Nacht
und muß qualvoll vor Verlangen beben.
Nein! ich will dein Treiben gar nicht zügeln.
   Doch der Dichter ist nicht länger still,
   törichte Gespielin. Nein, er will
dich mit seiner steifen Rute prügeln
   bis sein Gram an dir entladen ist.
   Denn auch er war immer Egoist.

XVIII | Okt. 2004

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Mein Henker

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev17.mp3]
Mein Henker

Mir ist das süße Blut in meinen Venen,
      die sich im Druck des Angestauten weiten,
      wie Sirup zäh, wie Natterngift bei Zeiten.
   Die Säule meines innern Thermometers steigt
und nach Gewalt, nach Folter drängt mein Sehnen.
   Es schreit so lang bis (nach begang’ner Tat) es schweigt.

Du bettest selig dich auf Blumenresten,
      den welken Zeugen deiner welken Siege,
      verschwendest die Gedanken nicht an Kriege
   und nährst im Wahn versunken dich von Gallensaft.
Nicht niedrigstes Getier ließ‘ so sich mästen.
   Vorbei die Zeit – nun fürchte meine Henkerskraft!

Die müde Faulheit will ich aus dir prügeln.
      Du Hund! Du Ratte! Spüre meine Schläge!
      Du warst zu lange glücklich, du wirst träge
   und Trägheit find‘ ich ekelhaft und widerlich.
Ich komme, Schlemmerer, um dich zu zügeln.
   Ich bin dein Henker – du mein sorgenfreies Ich.

XVII | Okt. 2004

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