Archiv für Mai 2010

Neurophysiologie des Hörens

Donnerstag, 27. Mai 2010

In meinem Seminar zum Thema „Räumliches Hören“ habe ich gestern meinen Vortrag zur Neurophysiologie des Hörens gehalten. Neurophysiologie behandelt die physikalischen, chemischen und biologischen Aspekte der Sinnesorgane und Signalwege im peripheren und zentralen Nervensystem. Es geht also um das, was passiert zwischen dem Erklingen einer Schallquelle und unserem Bewußtsein davon, dass wir etwas hören. Das Thema hat mich als Musikwissenschaftlerin sehr interessiert und offenbar habe ich es geschafft, meinen Zuhörern auch etwas zu vermitteln. Damit außer meinen Komilitonen auch andere Menschen daran partizipieren können, habe ich meinen Vortrag hier mal in einen Blogartikel gegossen. Die Abbildungen entstammen größtenteils drei Büchern, die im Literatur-Abschnitt genauer angeführt sind. Sie werden hier im Sinne wissenschaftlicher Zitation (§63 UrhG) verwandt. Sollte deren Verwendung dem Rechteinhaber dennoch nicht genehm sein, bitte ich um einen kurzen Hinweis auf unbürokratischem Wege. (mehr …)

LaTeX – wann, wenn nicht jetzt?

Montag, 24. Mai 2010

Zwei Jahre lang habe ich an meiner Arbeit zu „Stil und Rhythmus der Fauvel-Lais“ rumprokrastiniert. Vor einer Woche habe ich sie dann endlich abgegeben. Obwohl sie schon zwei Wochen davor fertig geschrieben war, dachte ich mir, dass es ein guter Zeitpunkt wäre, mich endlich mal mit LaTeX zu befassen.

LaTex ist eine Alternative zu Textverarbeitungsprogrammen wie MS-Word oder Open-Office Writer. Man schreibt seinen Text in einen einfachen Editor und stattet ihn dann mit Tags und Befehlen aus, die beim Compilen in ein sinvolles Layout übersetzt werden. Der Vorteil dabei ist, dass man sich nicht unbedingt mit Fragen wie Spiegelbreite, Schrifttype und Anordnung auseinandersetzen muß – aber kann, wenn man das doch möchte. Ich möchte nicht und habe mich deshalb weitestgehend auf die Formatvorgaben der Strandard-Klassen verlassen. Ich habe lediglich mit eigenen Seiten für Titelblatt, Inhaltsverzeichnis und Literaturliste, Abstand zwischen Absätzen und Seitenzählung ab 2. Seite in die Klasse „article“ eingegriffen.

Da ich Ubuntu als Betriebssystem verwende, waren Compiler (pdflatex) und grundlegende Packete schon vorinstalliert. Insofern war mein Einatieg schon enorm vereinfacht. Man empfahl mir als Editor TeXmacs. Das ist ein WYSIWYG-Editor, mit dem ich aber gar nicht klargekommen bin. Ich habe dann tatsächlich einfach mit gedit gearbeitet und die Tags manuell eingefügt. Da ich so auch HTML-Dateien erstelle, kam ich damit viel besser klar. Ich habe einfach mein .txt-File als .tex-File gespeichert und dann über den Comandline-Befehl pdflatex $Dateiname zu einem PDF compiled. Das Ergebnis fand ich im Verhältnis zum Aufwand sehr überzeugend und die Arbeit mit LaTeX macht mir weitaus mehr Spaß als die mit konventionellen Textverarbeitungsprogrammen, weil man sich so einfach auf das Schreiben des Textes konzentrieren kann und sich nicht währenddessen mit Layoutfragen auseinandersetzen muß.

Hilfreich fand ich beim Einstieg in das Markup das Wikibook LaTeX sowie die LaTeX-Befehlsreferenz von Jürgen Weinelt. Eine .tex-Datei hat einen Kopf und einen Körper. Im kopf werden Dokumentenklasse, eingebundene Packete, globale Befehle und sowas definiert. Im Körper findet sich der eigentliche Text mit den Markups. Dort werden z.B. Überschriften zu Überschriften erklärt, Fußnoten und Grafiken eingebunden, etc. Ich finde, der Umgang mit LaTex ist sehr ähnlich wie der mit HTML, nur dass am Ende eben ein PDF rausfällt.

Viel mehr kann ich dazu eigentlich auch noch nicht sagen. Ich bin mit der Try-and-Error-Methode vorgegangen. Deshalb stelle ich einfach mal meine .tex- und die daraus compilte .pdf-Datei hier zum Angucken und Vergleichen ein. Das hilft vielleicht den Leuten, die auch gerade anfangen, beim Verständnis.

Seminararbeit: Stil und Rhythmus der Fauvel-Lais

Sonntag, 23. Mai 2010

Die vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ spiegeln einen Paradigmenwechsel wider, der sich um 1300 in Nordfrankreich vollzieht und die Epoche der „Ars Nova“ ankündigt. Sie sind in zwei verschiedenen Stilen abgefaßt, die einander innerhalb der Gattungsgrenze des Lais gegenübergestellt werden. Dabei wird der traditionelle, große Stil ins Lächerliche gezogen. Ein neuer, von kürzeren Notenwerten und rascherem, mensuriertem Rhythmus geprägter Stil wird zum Ideal der weltlichen, vernakularsprachigen Monodie. Die volle Version der Seminararbeit kann im PDF heruntergeladen werden. Im Artikel gibt es Gliederung und Einleitung.

Download PDF: Stil und Rhythmus der vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ [F-Pn fr. 146]

Gliederung

  1. Einleitung
  2. Entstehung und Umfeld des Manuskripts
  3. Das Laiprinzip
    1. Heterometrie und Isometrie
    2. Tanz und Tanzmusik
  4. Notation und Rhythmus
    1. Plica und Conjunctura
    2. Ligaturen und Repetition
    3. Semibrevis und Mensur
  5. Großer und kleiner Stil
    1. cantus und cantilena
    2. tragica und comica
    3. deklamatorisch und tänzerisch
  6. Zusammenfassung
  7. Literatur

Einleitung

In die älteste und umfangreichste Überlieferung des „Roman de Fauvel“, die in die multimediale Prunkhandschrift F-Pn fr. 146 eingebunden ist, haben die Editoren vier Vertreter einer Liedgattung aufgenommen, für die es in den ca. 50 Jahren zuvor keine Überlieferungen gibt. Die Rede ist vom Lai, einem monodischen Lied mit einem volkssprachigen (in diesem Falle altfranzösischen) Text, das sich in erster Linie durch Unstrophigkeit auszeichnet.

Der Lai erlebte seine Blüte in einer Zeit, da der Rhythmus seiner Melodie noch nicht mensural fixiert wurde. Über den Rhythmus dieser Gattung und anderer Vertreter des Trouvère- und Troubadour-Repertoires gab es in der musikwissenschaftlichen Forschungsgeschichte deshalb zahlreiche Kontroversen. Vom Vorschlag einer freien, deklamatorischen, der Rede angepaßten Interpretation, über einen isosyllabischen Rhythmus, bei der jede Textsilbe die gleiche Tondauer hat, bis hin zur Idee, es könnte sich um klar mensurierte Tanzmusik handeln gab es verschiedene Ansichten.

Die vorliegende Arbeit möchte anhand der Kontextualisierung, der Analyse rhythmischer und außerrhythmischer Merkmale und des Vergleichs klären, welche Rhythmisierung für die vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ sinnvoll ist und an welchen Merkmalen solche Urteile ausgerichtet werden können. Sie wird in ihrem Verlauf zeigen, dass die vier Fauvel-Lais an der Grenze eines Paradigmenwechsels stehen, der in der Faktur der Stücke selbst ablesbar ist. Dieser Paradigmenwechsel manifestiert sich um 1300 in vielerlei Hinsicht. Er geht einerseits mit dem Streben der aufkommenden „Ars Nova“ nach rhythmischer Präzision und kürzeren Notenwerten und der daran anknüpfenden Erweiterung der Mensuralnotation, andererseits mit einer Nobilitierung der höfischen Refrainformen, ja vielleicht sogar mit der aufkommenden Mode des Paartanzes einher.

Die vier altfranzösischen Lais stehen dabei repräsentativ für zwei konkurrierende Konzepte, zum einen ein modernes (zeitgemäßes), das sich am Genre des Kleinen Liedes orientiert, zum anderen ein antiquiertes (überkommenes), das sich am Genre des Großen Liedes orientiert. Dieses antiquierte Genre wird durch seine satirische Verwendung als defizitär gegenüber dem modernen Liedkonzept dargestellt.

Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Zunächst betrachtet sie das Entstehungsumfeld des Manuskripts F-Pn fr. 146, um daraus Rückschlüsse auf die Verfasser, Komponisten und Editoren, ihre Absichten und ihren Bildungsgrad zu ziehen. Dann widmet sie sich der Frage des traditionellen Charakters der Gattung Lai, erklärt dabei die entgegengesetzten Prinzipien von Heterometrie und Isometrie und führt in die Geschichte des höfischen Paartanzes ein. Im folgenden Kapitel wird der Zeichenvorrat, mit dem die Stücke in der Handschrift notiert sind, betrachtet und interpretiert. Das Besondere ist dabei, dass Vertreter der Gattung Lai hier erstmals in einer den Rhythmus kodierenden Notationsform vorliegen, aus der entsprechende Rückschlüsse gezogen werden können. Das letzte Kapitel führt einige der zuvor analysierten Elemente als stilübergreifende Merkmale vor und versucht, die vier Lais entsprechend stilistisch einzuordnen. Der Gebrauch von Gegensatzpaaren wie groß – klein, heterometrisch – isometrisch, deklamatorisch – tänzerisch, etc. spielt bei der Unterscheidung eine zentrale Rolle.

Die vier Lais werden innerhalb der Arbeit mit den Siglen L1, L2, L3 und L4 entsprechend der Reihenfolge ihrer Standorte innerhalb der Handschrift benannt. L1 ist der mit dem Vers „Talant que j’ai d’obeïr“ beginnende Lai, der sich auf den folii 17r-18v befindet. L2 ist der mit dem Vers „Je qui poair seule ai de conforter“ beginnende Lai, der auf den folii 19r-v notiert ist. L3 ist auf den zwischengeschobenen folii 28bis-ter fixiert und beginnt mit dem Vers „Pour recouvrer alegiance“. Der vierte Lai L4 befindet sich auf den folii 34v-36v und beginnt mit dem Vers „En ce dous temps d’esté“. Mit den Siglen V1, V2, V3, etc. werden die Versikel der einzelnen Lais benannt. L1V3 ist demnach der dritte Versikel des ersten Lais „Talant que j’ai“.

Die Vers- und Versikelstrukturen sind der modernen Edition von Hans Tischler „The Monophonic Songs of The ‚Roman de Fauvel'“ entnommen, die zusammen mit der 1990 bei Broude, New York erschienenen Faksimile-Ausgabe „Le roman de Fauvel. The complete manuscript, Paris, Bibliothèque Nationale, fond français 146“ die Grundlage dieser Betrachtungen bildet. Beide Editionen sind mitsamt den theoretischen Schriften, die in dieser Arbeit angeführt werden oder in Vorbereitung auf das Thema konsultiert wurden, als Literaturliste im Anhang aufgeführt.

Download PDF: Stil und Rhythmus der vier altfranzösischen Lais im „Roman de Fauvel“ [F-Pn fr. 146]

Im Mittelalter gab es kein Copyright

Freitag, 14. Mai 2010

Das Copyright ist eine Erfindung der Neuzeit. Die Rechte der Autoren kamen erst mit der Einführung des Buchdrucks und der Notwendigkeit organisierter Produktionsprozesse durch Verlage, Druckereien, etc. Das habe ich gerade wieder in Jan-Dirk Müllers „Aufführung – Autor – Werk“ gelesen, den ich im vorigen Post zusammengefaßt hatte. Der Text gehört quasi zur Grundausbildung eines jeden mediävistischen Literaturwissenschaftlers. Aber ich denke, er ist auch für die aktuelle Piratenbewegung und Copyright-Debatte von Interesse. Er spricht über unsere moderne Auffassung von Autorschaft und davon, dass diese nicht gesetzt, sondern eine von uns konstruierte ist.

Im Mittelalter gab es nämlich „DEN Autor“ nicht und es gab nicht „SEIN Werk“. Es gab viele Vortragende in einer mündlichen Kultur, in der Texte variabel waren und der jeweiligen Vortragssituation angepaßt wurden. Aufmerksamkeit und Lob galten dabei dem Vortragenden, der nicht zwangsweise mit dem Verfasser identisch sein mußte. Denn bedient hat man sich von überall her. Das Kopieren, Ändern und Verwenden von Texten, Formen und Melodien war Gang und Gäbe. Ein Werk dem Publikum auf vollendete Weise darzubringen, war die Kunst und nicht etwa, als erster auf eine Idee gekommen zu sein. „Der Verfasser eines Textes erwirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet“, schreibt Müller. Die Vorstellung von einem „geistigen Eigentum“ wäre einem Minnesänger oder mittelalterlichem Zuhörer wohl ziemlich bescheuert vorgekommen.

Müller berichtet dies freilich nicht im Zusammenhang mit der Copyright-Debatte, sondern zeigt sich von einem wissenschaftlichen Disput um den Status einer zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur stehenden Literatur inspiriert. Ebenso wie aber die mit dem Buchdruck um 1500 einhergehende Medienrevolution zu einer Neubewertung des Autorbegriffs geführt hat, wie Müller erläutert, scheint mir das bei der aktuellen Medienrevolution auch der Fall zu sein. Der Mythos vom Verfasser-Genie und seiner allumfassenden Gewalt über sein Werk beginnt mit der Einführung des Internets und anderer digitaler Kopien in dem Maße zu bröseln, wie er vor 500 Jahren mit der Erfindung des Buchdrucks erstarkte. Brauchen wir den Autor heute noch oder lebt unsere Kultur durch die Beteiligung und Kreativität aller an ihr teilnehmenden Personen?

In einer schriftlichen Kultur hatte die Kopie materiellen Wert und war entsprechend mit finanziellen Risiken verbunden. In der digitalen Kultur kostet eine Kopie ungefähr genausowenig wie in einer mündlichen. Insofern rücken wir der mündlichen Kultur des Mittelalters und ihrer aufgelockerten, offenen Auffassung von Autor und Werk wieder ein Stück weit näher. Genau an diesem Punkt geraten wir aber in gesellschaftlichen Konflikt. Da gibt es auf der einen Seite Menschen, die noch voll umfänglich an das „geistige Eigentum“ glauben und mental am Autor und seinem Werk festhängen. Da gibt es auf der anderen Seite die, die solche Vorstellungen für überkommen oder zumindest fragwürdig halten. Die einen haben Angst, ihren Status zu verlieren, die anderen fühlen sich unterdrückt und wollen sich emanzipieren.

Ich kann beide Seiten nachvollziehen. Ich bin selbst Autor (gewesen) und verband damit Eitelkeiten und Privilegien. Mir kommt das alles aber zunehmend albern vor und Texte wie der von Müller bestätigen mich darin. Vielleicht ist die Vorstellung von Autor und Werk vor dem Hintergrund der Entwicklung zu einer digitalen Kultur eine Sackgasse.

Précis: Aufführung – Autor – Werk

Montag, 03. Mai 2010

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Diesmal habe ich mir Jan-Dirk Müllers „Aufführung – Autor – Werk“ von 1999 durchgelesen, ein Text, der das Spannungsverhältnis mittelalterlicher Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisiert und für eine Neubewertung des Autorbegriffs eintritt, der unserer modernen Auffassung des Urhebers ziemlich entgegen steht. Dies ist vor dem Hintergrund der aktuellen Copyright-Debatte nicht unspannend.

Aufführung – Autor – Werk ~ Jan-Dirk Müller

Die literarische Kultur des europäischen Mittelalters sei primär von der Mündlichkeit geprägt gewesen, führt Müller ein, d.h. Geschichten wurden erzählt, Gedichte vorgesungen und ebenso hätten sich die Texte auch von Mund zu Mund verbreitet. Ab den 12./13. Jahrhundert hätte sich die Konzeption, also die Ideenfindung von Texten, zum Medium der Schrift hin verschoben, was natürlich zu einer Einflußnahme auf die noch immer mündliche Vortragspraxis geführt hätte und umgekehrt. Diese gegenseitige Einflußnahme wird als „das eigenwillige Spannungsverhältnis des mittelalterlichen Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ paraphrasiert. Die Erkenntnis davon habe zu einem Disput unter der versammelten Philologenschaft geführt, der wohl um 1999 herum in unsachlichen Argumenten zu stagnieren drohte. Müller jedenfalls nennt diesen Grund dafür, dass er seinen Aufsatz „Aufführung – Autor – Werk“ verfaßt hat.

Die Philologen auf der einen Seite der Debatte seien Anhänger der sogenannten Lachmannschen Methode (nach dem deutschen Mediävisten und Altphilologen Karl Lachmann). Unter den vielen Varianten, in denen mittelalterliche Texte oftmals der Nachwelt überliefert sind, würden sie den Urtext zu rekonstruieren versuchen, wobei sie von der modernen Annahme ausgehen, es gäbe die einen, ursprüngliche Textfassung und den einen ursprünglichen Autor, der die Autorität über diesen Urtext innehätte.

Da aber auch die schriftlich konzipierten Texte mündlich aufgeführt und entsprechend der Aufführungssituation, z.T. mit Publikumsinteraktion angepaßt worden wären, könne es, so behaupten Müller und die Philologen auf der anderen Seite (u.a. Bumke, Zumthor), keinen Urtext geben und dementsprechend auch keine am Autor ausgerichteten Rekonstruktionsbestrebungen.

Der Lachmannschen Methode stehe die Auffassung der „movence“ (Zumthor) des mittelalterlichen Textes gegenüber, bei der alle überlieferten Varianten gleichberechtigt nebeneinander stünden. Eine Art unkonkreter mündlicher Hypertext stehe über all diesen Varianten. Diese Auffassung sei zum neuen Leitbild der Editionspraxis geworden, was den Poststrukturalisten sehr entgegen gekommen sei. Denn diese lehnten den Autor- und den Werkbegriff als solche ab.

1. Aufführung

Dafür, dass mittelalterliche Texte aufgeführt worden seien, gibt es zwar nur indirekte Belege, bspw. Performanzsignale in den Texten, die den Rezeptionshintergrund einer geselligen Kommunikations aufzeigen. Dies müsse als Grundlage für das Verständnis mittelalterlicher Texte hypothetisch angenommen werden. Dabei sei jede konkrete Aufführung eine reglementierte Form mündlicher Kommunikation. Die Lizenz zur Veränderung von Texten orientiere sich an Texttypus und Gattung. Schriftlich Fixiertes sei dabei verbindlicher, also weniger anfällig für Variation in einer konkreten Aufführungssituation.

Man dürfe sich die schriftliche Überlieferung aber auch nicht als erstarrtes Zeugnis einer konkreten Aufführungssituation denken. Eher sei sie Transformation in ein anderes Medium, in dem sich Spuren von Kommunikationssituationen zeigen können. Dabei könne es sich sowohl um reale, als auch um fingierte Dialoge handeln. Mit zunehmender Verschriftlichung fallen mündliche Elemente, wie bspw. Performanzsignale, zunehmend weg. Dass der Spielraum von Varianz nicht beliebig ist, tangiere die Interpretation des Redeaktes insgesamt, helfe jedoch bei Detailfragen nicht weiter. Da der Redeakt einer konkreten Aufführung nicht gefaßt werden könne, muß die Mündlichkeit mittelalterlicher Texte als Prozess begriffen werden.

2. Autorschaft

Der mittelalterliche Text kenne etwa ab Ende des 12. Jahrhunderts Autorennamen. Dies funktioniere über Zuweisungen in Handschriften, die jedoch meist unsicher sind, da es zu Fehlzuweisungen komme. Dafür macht Müller das Verhältnis vom Vortragenden zum Autor verantwortlich; beide können bspw. durch den Gebrauch der ersten Person (ich, mein, …) miteinander verschmelzen. Die Anerkennung habe im Mittelalter dem Vortragenden gegolten. „Der Verfasser eines Textes erwirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet“, schreibt Müller. Dem Vortragenden obliege es, den Text vollendet und brauchbar dem Publikum darzubringen, weshalb der Wert eines Textes nicht am Urheber festgemacht worden sei.

Originale oder ursprüngliche Texte seien weder herzustellen, noch vor anderen Quellen ausgezeichnet. Die urpsrungsmythische Konnotation von Autorschaft entfällt und entspräche nicht der mittelalterlichen Ästhetik. Der mittelalterliche Autorbegriff sei undeterminiert; nach dem Verfassen ist der Text dem Zugriff des Autors entzogen. Erst seit dem 13. Jahrhundert (Meistersinger) gibt es Versuche, den Zugriff des Autors auszudehnen. Aber erst mit der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert geht die Einführung von Autorenrechten einher.

3. Text

Es gäbe eine Einsicht in die strukturelle Offenheit mittelalterlicher Texte, die nicht mit der Variabilität mündlicher Alltagsrede zu verwechseln sei. Mittelalterliche Texte sind nicht fest, jedoch ist der Grad an Verfestigung bei schriftlichen, mündlich vorgetragenen Texten größer. Je schriftlicher Texte werden, desto abstrakter werden sie vor einer konkreten Vortragssituation. Der Status „kultureller Text“ (J. Assmann) bedeute, ein Text sei nicht so wortwörtlich wie, aber sozialer als ein „heiliger“ Text.

Trotzallem überwiege der Anteil an Festigkeit auch in mittelalterlichen Texten den der Varianz. Es gibt etwas, das alle Varianten gemeinsam haben, weshalb man sie gruppieren kann. Man muß sich fragen, durch welche Parameter in mittelalterlichen Textvarianten Identität gestiftet wird. Was variant sei, trete sehr unterschiedlich in Erscheinung und man könne deshalb unterschiedliche Typen von Varianz herausarbeiten. Eine geeignete Beschreibungssprache, die Varianz nicht an etwas Fixem festmacht, fehle aber.

Müller kristallisiert nun drei Arten von Varianz heraus und macht Vorschläge zum Umgang damit. Da sei 1. Varianz, die zu Textverderbnis führe, d.h. kleine Fehler und Unaufmerksamkeiten der Schreiber und Kopisten. Diese dürfe man ausmerzen. Da seien 2. Texte, die gehaltlose Varianzen aufweisen, also irrelevante Abweichungen. 3. gäbe es bewußt vorgenommene Änderungen, verantwortete Eingriffe. Diese erfüllen die Kriterien für verschiedene Fassungen.

Müller spricht sich abschließend für die Edition von Textfassungen, ergo gegen die Edition von Urtexten aus.

Quelle: Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg.v. N.F.Palmer u. H.-J.Schiewer, Tübingen 1999, S.149-166.